Rezension: Jean-Noël Jeanneney, Le Rocher de Süsten. Mémoires, 1942-1982

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Rezension: Philippe Wampfler, Digitales Schreiben

Iin der Flut der Veröffentlichungen zum Unterricht mit digitalen Medien gibt es jetzt eine richtig gute Praxis-Anleitung: Philippe Wampfler, Lehrer, Dozent für Fachdidaktik Deutsch und Referent in Zürich hat für Reclam > Digitales Schreiben. Blogs & Co. im Unterricht Reclam Bildung und Unterricht verfasst und damit eine gelungene Anleitung im Sinne einer kleinen aber präzisen Fachdidaktik zum Einsatz digitaler Medien im Deutschuntericht, die natürlich auf für die Vermittlung anderer Sprachen gilt, vorgelegt.

Allein schon die Einleitung Digitales Schreiben (S. 11-23) zeigt einen Horizont auf, der heute noch nicht so recht praktiziert wird, aber auch schon nicht mehr bloß Zukunftsmusik ist. Er macht Lust darauf, seine Vorschläge im Unterricht auszuprobieren. Dann geht es in Detail Schreibdidaktische Aspekte des digitalen Schreibens: S. 24-44. Schreiben als Prozess, interaktionsorientiertes Schreiben, Materialgestütztes oder kollaboratives Schrieben – für alle diese Formen hätten wir auch viele Augaben:> Beiträge mit Aufgaben für Schüler/innen (www.france-blog.info).

Seien Sie mutig und legen sie los: Digitale Schreibprojekte konzipieren: S. 45-63: Das ist schon bemerkenswert, wieviele Anregungen Wampfler auf knappem Raum Ihnen hier vorlegt einschließlich der Ratschläge, wie Digitale Schreibprojekte zu bewerten sind.

Darf ich das? Geht das? Wie geht das? Also folgen rechtliche und technische Voraussetzungen. Knapp und präzise.

Der Band enthält auch viele Links zu Schreibprogrammen. Gucken sie nach, die kennen sie sicherlich noch nicht alle: Und Schrieben mit einfachen Programmen und erst später formatieren. So steht das Schreiben im Vordergrund der Aufmerksamkeit, die vielen verwirrenden Funktionen von WORD brauchen wir dazu nicht.

Ab S. 68 werden Typologien digitaler Schreibumgebungen vorgestellt: Blogs, Messenger, Chats, etc. Wikis und Wikipedia gehören auch mit dazu. Man spürt förmlich die vielfältigen Erfahrungen des Autors, der hier über seine Unterrichtspraxis schreibt. Alles ausprobiert und für gut befunden, möchte man hinzufügen. Unser Augenmerk fällt auf Blogs: S. 69-78. Wampfler erklärt erst einmal, wo dieses Kofferwort herkommt und skizziert dann eine Unterrichtseinheit, mit ihr erinnert er mich an einen unserer Praktikantin, der einmal einen Beitrag auf meinem Blog auf Fehler prüfen sollte und drei Tage später nebenbei erzählte, er habe jetzt auch einen Literaturblog. Schreiben und die ganze Welt könnte es jetzt lesen. Das ist cool und für Schüler/innen ein echter Motivationsschub.

Kollaborative Schreibumgebungen eröffnen diese neuen Horizonte für den Sprachunterricht, S. 78-92. Wieder mit der Skizze einer Unterrichtseinheit: hier gewinnen auch Referendare sehr wertvolle Anregungen für ihre Unterrichtsentwürfe. Wikis und Wikipedia bekommen auch eine eigene Unterrichtseinheit.

Das gestellte Thema Schreiben mit digitaler Unterstützung wird mit diesem Buch sachgemäß und in der Praxis bestens anwendbar beschrieben. Wenn Sie diese Ratschläge und Anleitungen von Philippe Wampfler umsetzen, werden sie Ihre Schüler/innen eine neue Dimension von Unterricht vorführen.

Philippe Wampfler
> Digitales Schreiben. Blogs & Co. im Unterricht
Reclam Bildung und Unterricht
Stuttgart 2020
131 S. 11 Abb.
ISBN: 978-3-15-014029-1

Rezension: Éric Anceau, L’Empire libéral (2 vol.)

Die beiden Bänden von Éric Anceau über L’Empire libéral umfassen zusammen 1423 Seiten. 2 grands pavés würde man auf Französisch sagen. Aber die Lektüre dieser Studie zeigt die profunde Sachkenntnis ihres Autors. Sicher, die Bücher über Napoléon III. und seine Versuche, das Zweite Kaiserreich zu reformieren, gar zu liberalisieren, füllen viele, lange Bibliotheksregale. Dennoch weist Éric Anceau sehr überzeugend nach, das längst nicht alles über die letzte Phase des Kaiserreichs gesagt worden ist.

Eine fast hundert Seiten lange Biographie (T. II, S. 1293-1389) enthält eine Bücherliste, die ein einzelner Forscher alleine kaum je komplett wird lesen können. Aber das ist und kann auch hier nicht sein Ziel gewesen sein: die Bibliographie hilft, den Überblick, den Anceau hier über den Forschungsstand gibt, zu belegen und zu vervollständigen. Der Personen-Index S. 1391-1420 unterstützt die Erschließung beider Bände.

Ohne Zweifel werden die nachfolgenden Generationen historische Erkenntnisse immer neu bewerten, das ist ein Spezifikum der Historiographie. Aber in diesem Fall hat der Autor auch die Wege der Neubewertung eingehend erklärt und demonstriert, indem er eine große Zahl von bisher nicht beachteten Quellen heranzieht, vor allem aus regionalen Archiven, die er auch nacheinander besucht hat: Sources S. 1210-1292: Diese Liste bietet eine äußerst wertvolle Bereicherung für die Forschung über das Zweite Kaiserreich.

Man kann über die Bezeichnungen streiten: Eigentlich darf man nur von einem liberalen Kaiserreich in der Zeit vom 5. Mai 1870 dem Tag des Plebiszits über die Verfassungsreform(en) bis zu seinem so schnellen Sturz im September 1870 sprechen. Fassen wir das Ergebnis der Reformen bis zum Frühjahr 1870 zusammen: Die von Emile  Ollivier vorbereite Verfassung vom 21. Mai 1870 behielt die Erblichkeit des Kaisers bei, aber es wird ein Regime eingerichtet, das einen parlamentarischen Charakter bekommt, da die Minister vor der Kammer verantwortlich werden und demissionieren müssen, wenn die Abgeordneten ihnen das Vertrauen entziehen (vgl. die V. Republik). Außerdem wird der Senat als zweite Kammer an der Gesetzgebung beteiligt. Und an der verfassungsgebende Gewalt, also an Entscheidungen über verfassungsrechtliche Veränderungen, wird qua Plebiszit das Volk beteiligt.

Das Plebizit im Mai 1870 mit seinen verfassungsrechtlichen Problemen hatte durch die Entwicklung nach 1861 eine Vorgeschichte, zuerst bedingt durch die Umstände kurzfristige Folgen und dann aber auch längerfristige Perspektiven und diese Zusammenhänge sind die eigentlichen Themen dieser Studie von Éric Anceau.

Der Autor beschreibt im ersten Kapitel “L’écosystème impérial”, womit er dessen Ursprünge in den Ideen Louis-Napoléons meint, deren Umsetzung er bis zur Wiedereinführung des Kaiserreichs im Dezember 1852 analysiert. Dann folgt in diesem Kapitel eine sehr lesenswerte knappe Darstellung des Second Empire bis etwa 1860. Kapitel zwei analysiert die Reformen und Liberalisierungsanstrengungen von 1860-1869, wobei hier im einzelnen ihre Etappen mit ihren Erfolgen und Misserfolgen präzise untersucht werden. Das 3. Kapitel bietet auch den Historikern von heute Neuland mit der profunden Kenntnis der Eliten im Frühjahr 1869: S. 213-280. Die Wahlen im Frühjahr 1869 verändern die politische Landschaft und unterstreichen den Wunsch nach Reformen: Kapitel 4 Le grand ébranlement de 1869, S. 281-356. Schließlich bekam Frankreich mit der  Regierung vom 2. Januar 1870 eine parlamentarische Mehrheit von nur 12 Abgeordneten: eine weitere Gelegenheit für den Autor, das Personal des liberalen Kaiserreiches erneut eingehend unter die Lupe zu nehmen: Kapitel 7, S.473-523. Emile Ollivier hatte sich beim Kaiser beklagt, von “alten Egoisten” umgeben zu sein, womit die Widerstände in der Regierung gegen die Liberalisierung kurz umrissen sind. Im Kapitel 8 wird die Konstituierung und die Arbeit der Großen Kommissionen untersucht: Ende 1869 standen die Reformen der Handelsverträge, die Dezentralisierung (französisches Dauerthema) und die Reform der Hochschulen auf dem Programm. Aneceau bedauert, dass diese Reformansätze bisher von den Historikern nicht in den Blick genommen worden seien. Bedenkt man, dass diese Themen auch heute noch die Reformpläne der französischen Regierung bestimmen, wird man das Gewicht der historischen Forschung, die Anceau hier vorlegt, noch besser bewerten können.

Die Probleme der ganz praktischen Politik können zumindest partiell durch die Hindernisse bei der Entwicklung der Institutionen gedeutet werden: Kapitel 9 Questions gouvernementales, parlementaires et constitutionelles. In der Tat ist französische Geschichte nicht nur dieser Epoche auch eine Geschichte des Verfassungsrechts und der Institutionen des Staates. Spannend, wie Anceau den Entscheidungsweg zum Plebiszit vom 8. Mai 1870, mit dem die verfassungsrechtlichen Änderungen von den Franzosen abgesegnet werden sollten, nachzeichnet. Weder der Kaiser, noch Ollivier, noch das rechte oder linke Zentrum, noch die Liberalen wünschten das Plebiszit: fünf Seiten, S. 641-645, auf denen die Verhandlungen, die einzelnen Positionen, Rücktrittsdrohungen und Vermutungen über den Ausgang des Plebiszits, detailreich analysiert werden. Am 30. Mai gibt Napoleon III. nach. Schließlich stimmten 7,3 Mio. den Verfassungsänderungen zu: S. 690 ff. Die beiden letzten Sätze des ersten Bandes: Das Regime war nach den Worten von > René Rémond ein zweites Mal begründet worden. Anceau fügt hinzu: Jetzt muss man nur noch sehen, welchen Gebrauch es davon machte.

Es folgt der zweite Band mit dem Untertitel Menaces, chute, postérité. Viel Zeit gab es nicht, um die Wirkung der Verfassung in ihrer Praxis zu beobachten. Im September 1870 stürzte das Zweite Kaiserreich. Dennoch wird der Autor versuchen, eine Antwort auf  die Frage “Couronnement durable de l’édifice ou simple feu de paille?” zu finden. Trotz der anhaltenden Verfassungsdiskussion und verständlichen Anlaufschwierigkeiten zeigte sich keine direkte Bedrohung des Regimes, das, so Anceau, in den ersten Monaten nach dem Plebiszit Boden wieder wettmachen konnte. Allerdings trübte die Krankheit des Kaisers die Aussichten.

Der Kriegseintritt am 19. Juli 1870 mit der Kriegserklärung an Preußen – die Provokation durch die gekürzte Emser Depesche ist bekannt – führte zur Niederlage und Gefangennahme des Kaisers am 4. September 1870. Anceau beschreibt die dramatischen Ereignisse Mitte Juli in Paris und untersucht dann die Frage der Verantwortlichkeiten, wobei er u.a. die Aufmerksamkeit auf die kriegsbereite Presse lenkt und in Folgenden auch die Entwicklung der öffentlichen Meinung untersucht und ihren ernstzunehmenden Einfluss auf das Regime erkennt. Ein weiterer Abschnitt in diesem Kapitel beleuchtet die Entwicklung des liberalen Kaiserreichs unter dem Eindruck des Krieges, der zunächst für das Regime günstig zu verlaufen schien und die den Patriotismus zugunsten des Regimes eher förderte. Vgl. S. 836 f.

Dann kam das Ende unerwartet und sehr schnell. Kapitel 13: L’autopsie d’une mort. Noch im August wurden in den Kommunen über 2500 Einwohner Gemeinderatswahlen abgehalten, in den besetzten Departements kam es allerdings nicht mehr zum 2. Wahlgang. Die Wahlergebnisse, fasst man sie kurz zusammen, ließen noch ein Vertrauen der Wähler in das Regime erkennen. Nach dem Desaster von Sedan, kommt es in Paris sofort zur Ausrufung der Republik. Dann folgt das Kapitel 14, das über das Schicksal der wichtigsten Protagonisten und deren Verantwortung berichtet. Die Wahlen fanden am 25. September  und 2. Oktober statt: Von 675 Abgeordneten waren nur noch 20 Bonapartisten.

Die Bewertung des liberalen Kaiserreichs steht in Kapitel 15: Contre-modèle et héritage inavouable erläutert mit dem ersten Abschnitt Le mal français et possibles remèdes die Arbeit der Kommissionen, die die Umstände Niederlage untersuchen sollten. Der Diagnose folgten die Überlegungen für die künftige Verfassung.

Die Zusammenfassung L’Empire libéral, figure du passé, clé du temps présent, expérience pour demain erinnert daran, dass die Liberalisierung des Kaiserreichs in den 60er Jahren, keinesfalls nur auf einer Reihe von Konzessionen beruhte, die die Opposition dem Regime abrang, noch alleine das Ergebnis von Überlegungen des Kaisers vor der Wiedererrichtung de Kaiserreichs waren. Anceau vertritt die Auffassung, dass beide Aspekte zusammen eine Rolle gespielt haben, wobei er ausdrücklich betont, dass der persönliche Einfluss Napoleons III., der seinem Regime Dauer verleihen wollte, maßgebend gewesen war.

Besonders interessant ist die Darstellung des Autors, der 4. September sei weniger ein Bruch als eine Vorbereitung, eine Art Transition für das kommende Regime gewesen: “Le passage de l’écosystème impérial à l’écosystem républicain se fit par étapes,” erklärt Anceau unter Berufung aus Serge Bernstein (La Démocratie libérale, Paris 1998, S. 210). Unter diesem Licht bekommen die Geschichte des Zweiten Kaiserreichs und besonders seine Verfassungsgeschichte ihr besonderes Gewicht.

Die Lektüre dieser beiden Bände vermittelt auf sehr lohnenswerte Weise einen Einblick in das Procedere der historischen Forschung, indem Anceau die Quellenlage erläutert und die von ihm eingebrachten neuen Erkenntnisse kennzeichnet, erläutert und bewertet. Unterm Strich wird wiederum der bestimmende Einfluss und das persönliche Engagement Napoleons III. deutlich, dessen Stellung in den letzten 15-20 Jahren neu bewertet worden ist. Dabei sind vor allem die Modernisierungsstrategien des Regimes neu in den Blick genommen worden. In gewisser Weise, folgt man der vorliegenden Studie von Éric Anceau gilt das auch für das Zweite Kaiserreich und seine Funktion als ein Labor für künftiges Verfassungsrecht.

Éric Anceau
L’Empire libéral (2 vol.)
T1 Genèse, avènement, réalisations,
T2 Menaces, chute, postérité,
Paris: Editions SPM 2017,
Distribution l’Harmattan.
ISBN : 978-2-917232-58-3

 

Auf dem Frankreich-Blog:

> Napoleon III. Vorlesung von Éric Anceau: 600 Zuhörer  – 4. April 2014

> Nachgefragt: Eric Anceau, Napoléon III – 18. Februar 2014

> Éric Anceau : Warum sollte man Napoléon III heute kennen? – 6. Februar 2014

> Vor 170 Jahren: 10 décembre 1848 : L’élection du premier Président de la République – 5. Dezember 2018

> 2. Dezember 1851: Staatsstreich von Louis-Napoléon – 2. Dezember 2017

Rezension: Volker Hunecke, Napoleon. Das Scheitern eines guten Diktators

Der Untertitel “Das Scheitern eines guten Diktators” der Biographie über Napoleon von Volker Hunecke, die 2011 im Verlag Ferdinand Schöningh erschienen ist, fasst die Thesen des Autors prägnant zusammen. Hunecke hat zuerst die Erfolge Napoleons im Auge: Der Erste Konsul hat in knapp drei Jahren Frankreich befriedet, für die Aussöhnung mit der römischen Kirche gesorgt, die Emigranten zurückgeholt, die staatliche Institutionen neu geordnet und neue Gesetzbücher verabschieden lassen. (vgl. S. 10) Folglich wurde er 1802 Konsul auf Lebenszeit. An dieser Stelle verortet Hunecke den Ursprung aller Probleme, die Napoleon von nun an begleiten werden. Seine Fehler, denen Hunecke sich im Lauf seiner Untersuchung zuwenden wird, seien nur der Tatsache geschuldet, dass Napoleon sich zum unumschränkten Herrscher habe aufschwingen können. (vgl. S. 12)

Den Krieg hatte er vor 1802 beendet, aber sein erneuter Beginn 1803 und seine Ausweitung auf den Kontinent war, so Hunecke, eine Folge der vom Kaiser betriebenen Außenpolitik. Zu seinem Scheitern hatte auch der Plan, Frankreich zu einer hegemonialen Großmacht machen zu wollen, beigetragen. Hunecke unterstreicht ausdrücklich, dass es keine moralischen Defizite gewesen seien, die dem Kaiser geschadet hätten, es war “sein Unvermögen, grundlegende Prämissen und Gebote des modernen Verfassungslebens einzusehen und gar zu akzeptieren,” (S. 13), das zu seinem Scheitern führte, aber auch gleichzeitig, “das Werk des guten Diktator vor dem Untergang bewahrte” (S. 14). Damit ist der Ansatz dieser Untersuchung umrissen, die mit der Schärfung des Blicks auf das Verfassungsrecht eine Lücke in der so unübersehbar großen Liste aller Veröffentlichungen zu Napoleon I. füllen möchte.

Die Einleitung erinnert an einige Stationen, mit denen der militärische Aufstieg Napoleons begann: Der 13. Vendémaire, IV (5.10.1795) war das Ereignis, aus dessen Anlass Paul Barras, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte in Paris und der Inlandsarmee sich die Unterstützung Napoleons holte, der mit seinem artilleristischen Knowhow die Aufständischen an der Kirche Saint-Roch besiegte. Der künftige Kaiser wurde mit 24 Jahren zum General befördert und lernte ein paar Monate später seine künftige Frau Joséphine de Beauharnais kennen. Anfang 1796 wird er zum Oberbefehlshaber der Italienarmee befördert. Ab jetzt griff er in das Geschehen ein.

Ein weiterer Vorzug dieser Darstellung sind die vielen Hinweise auf die Literatur: U.a. erinnert Hunecke an die Mémoires d’Outre tombe von Chateaubriand (t.XIX-XXIV) mit dessen Generalabrechnung mit Napoleon oder an La Confession d’un enfant de siècle von Alfred de Musset oder an Adolphe Thiers, der das schwierige Verhältnis der Blutströme und der politischen Freiheit als ein unauflösbares Problem der Herrschaft des Kaisers verstand. Man versprach sich Rettung durch den Konsul, der aber durch seine Machtfülle dann doch in eine Verschärfung der Diktatur abgeleitete. Die Interventionen in den europäischen Staaten bis zum Zug der großen Armee nach Moskau konnten nicht gut gehen. Trug das Kaiserreich von Beginn an, den Keim des Scheitern in sich? Wieder wendet sich Hunecke der Verfassung des Konsultats zu, und fragt, ob deren Art. 39 ff., die dem Konsul eine so unbegrenzte Machtfülle gaben, künftige Probleme des Kaisers vorprogrammierten?

Napoleon sei kein Sohn der Revolution gewesen, aber als Arzt habe er ihre Wunden geheilt, so lautet Huneckes These infolge des 15. Dezembers 1799, an dem die Verfassung des Jahres VIII verkündet und in einer Proklamation der drei Konsuln die Revolution für beendet erklärt wird: “eine Verheißung für die Zukunft” S. 33 Wie bereits angedeutet, interessiert Hunecke sich ganz besonders für verfassungsrechtliche Fragen, für die Napoleon sich offensichtlich weniger begeistern konnte, ihm ging es allein um Machtfragen: vgl. S. 35. Aber sein Regime bekommt auch einen Namen, über den “Bonapartismus” wird viel geschrieben werden und sein Neffe Louis-Napoléon wird sich nach 1852 anschicken, diesen weiterzuentwickeln.

Im III. Teil “Der Aufstieg” schildert Volker Hunecke die Karriere, die Bonaparte bis zum General geführt hat. Bemerkenswert ist es, wie die Kritik an der großen Machtfülle des Parlaments noch vor der Machtübernahme am 18. Brumaire deutlich wird und sich so ein wesentliches Kennzeichen des Bonapartismus abzeichnet. Spuren dieser Kritik werden sich bis 1958 in der Verfassung der V. Republik wiederfinden, mit dem was man als einen “parlementarisme rationalisé” bezeichnet hat. Aber das Resultat des 18. Brumaire hat er sich in einer Volksabstimmung bestätigen lassen: S. 80-87, der dann die > Verfassung des Jahres VIII folgte, in der der Regierung eine herausgehobene Position als “Repräsentant der Nation” bekommt. 1804 geht der Kaiser noch weiter: “Das Volk wird durch die gesetzlichen Gewalten repräsentiert.” S. 89.

Es entsteht eine “plebiszitäre Monarchie” (S. 116-142): Frankreichs vierte Dynastie mit allen Attributen einer neuen Monarchie, bei der aber die von Montesquieu Zwischengewalten nicht ihre Position als notwendige Gegengewichte erhalten: S. 129 f. Nach 1804 ist Napoleon der einzige Repräsentant der Nation und wurde so anerkannt, weil er (noch) als Stifter des Friedens und Reformer (S. 143 ff.) akzeptiert wurde. In Kurzform. Alle Werke und Verdienste, die er nicht auf seine eigene Person bezog, waren von Dauer, wobei der von ihm so stark geprägte Zentralismus erfolgreich umgesetzt wurde, so dass er auch heute noch nur schwer reformierbar ist.

Der Innere Frieden war nicht umsonst zu haben. Ihr Preis war die “Ächtung der Opposition” (vgl. S. 175), die Zensur und die Propaganda und das Exil der Schriftsteller (vgl. S. 187-196).

Napoleons Siege festigten die Stellung des Diktators (vgl. S. 204 ff). Nachdem er die Revolutionskriege 1802 beendet hatte, erklärte England Frankreich 1803 den Krieg, damit begann ein Krieg Frankreichs gegen Europa: vgl. S. 221 ff. 1808 bemächtigte er sich des spanischen Throns und so begann der Abstieg seiner Herrschaft (vgl. S. 269). Bis 1812 bestand noch sein Grand Empire (vgl. S. 278), das aber spätestens mit dem großen Desaster des Russlandfeldzuges zu Ende war. Nach seiner Abdankung beließen ihn die Alliierten als souveränen Herrscher über Elba.

Napoleon ließ sich das nicht gefallen und und landete am 1. März 1815 in Frankreich und eilte in drei Wochen nach Paris um wieder die Herrschaft zu übernehmen, das gelang ihm für 100 Tage und endet mit der Schlacht von Waterloo und seiner Verbannung nach St. Helena, wo er 1821 starb. Auch in diesem Kapitel versucht Volker Hunecke die Actes additionnels aux constitutions de l’Empire mit den vorhergehenden Verfassungen zu vergleichen: Napoleon distanzierte sich vom Kaiserreich und betonte den Schutz der Freiheit der Bürger. Seine Anhänger zeigten sich schockiert. War der Kaiser unglaubwürdig geworden? Aber die Actes waren nur eine halbe Sache, die verfassungsgebende Gewalt wollte der Kaiser behalten. Das Volk sollte wohl souverän werden, aber ihr Inhaber wollte der Kaiser bleiben.

Volker Hunecke präsentiert in diesem Band die verfassungsrechtliche Entwicklung unter Napoleon I. als Schlüssel zum Verständnis seiner erfolgreichen Herrschaft und als Erklärung für ihren Untergang.

Drei weitere Kapitel “XII: Von der Legende zum Bonapartismus”, “XIII. Strassen und Brunnen. Künste und Wissenschaften” und “XIV. Bilanz eines guten Diktators” erklären die Verdienste, die den Ruhm des Kaisers begründeten. Diese Kapitel zeigen auch, wie wichtig die Kenntnisse der Biographie des Kaisers und der Geschichte seiner nachrevolutionären Epoche sind, um das künftige Ringen um eine Verfassung in Frankreich verstehen zu können. Napoleon nutzte Pelebiszite, um seine Diktatur zu festigen, eine Befragung des Volkes hatte er nicht im Sinn. Nicht nur die Bücher über Napoleon, sondern auch über die Napoleon-Legende lassen ganze Bücherregale unter ihrer Last sich biegen. Sein Neffe profitierte von ihr und verfolgte planmäßig die für ihn eigentlich ziemlich aussichtslose Idee, das Erbe seines Onkels anzutreten. Zufälle und politisches Geschick halfen ihm dabei, am 2. Dezember 1851 seinen dritten Staatsstreich zu begehen, mit dem der erste Präsident der Republik (> Vor 170 Jahren: 10 décembre 1848 : L’élection du premier Président de la République – 5. Dezember 2018) sich sein Amt für 10 Jahre sicherte, um am 2. Dezember 1852 das II. Kaiserreich zu gründen.

Volker Hunecke: Napoleon. Das Scheitern eines guten Diktators, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, 419 S., ISBN 978-3-506-76809-4.


“Noch heute sind achtzig Prozent der Besucher des Schlachtfeldes von Waterloo, wie Jürg Altwegg heute in der FAZ: „Eine glorreiche Niederlage“ berichtet, Viele Besucher des Schlachtfeldes seien heute noch davon überzeugt, Napoleon habe diese Schlacht für sich entschieden. Sein Genius war gar nicht in der Lage, so eine Schlacht zu verlieren. Auch nach seinem Tod am 5. Mai 1821 in der Verbannung, haben wohl viele eine solche Schreckensmeldung mit der Antwort: Napoleon könne nicht sterben, abgetan.

Auch wenn sich jetzt der Jahrestag dieser Schlacht zum 200. Mal jährt, wirkt die Napoleon-Legende 1) immer noch nach. Auch seine Gegner konnten sich ihr nicht entziehen….” > Bitte weiterlesen.

Volker Hunecke
> Napoleons Rückkehr
Die letzten hundert Tage – Elba, Waterloo, St. Helena
Stuttgart: Klett-Cotta, 1. Aufl. 2015, 256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-94855-4

Rezension: Violaine Houdart-Merot, La Création littéraire à l’université

Kann man das Schreiben von literarischen Texten lehren und lernen? In ihrem jüngst erschienenen Band La Création littéraire à l’université stellt Violaine Houdart-Merot, emeritierte Professorin für französische Literatur an der Universität Cergy-Pontoise, die Entwicklung, wie Kreatives Schreiben an französischen Universitäten gelehrt wird, vor. Der Band verdient insofern die Aufmerksamkeit auch deutscher Romanisten, weil hier in präziser Form Entwicklungen des Faches Französische Literatur erklärt werden.

“L’irrésistible ascension de la création littéraire” steht als Überschrift über der Einleitung, die nachzeichnet, wie nach 2014 Masterstudiengänge zum Kreativen Schreiben sich entwickelten. Französische Literatur wurde seit ca. 1900 immer im Rahmen von Literaturgeschichte und -theorien gelehrt. Nachdem gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Rhetorik in den Hintergrund trat, interessierte man sich nicht mehr besonders für die Kunst des Schreibens:vgl. S. 6. Es entwickelten sich Unterschiede zwischen der Literatur und den andren Künsten. (s. auch S. 18-21)

In Frankreich ist die Öffnung zum Kreativen Schreiben in den Universitäten erst vor kurzem erfolgt. Violaine Houdart-Merot will in ihrem Band Konzepte dazu vorstellen und fragt auch danach, welchen Platz die Literatur in der Gesellschaft einnehmen soll?

Zuerst untersucht sie die “Tradition françaises et culture du commentaire”, die den Rhetorikunterricht beendete und die Lektüre bevorzugte und folglich aus Abschlussarbeiten wissenschaftliche Untersuchungen werden ließ. Die Folge war die allgemeine Einsicht, dass das Schreiben selbst nicht lehrbar sei.

Im zweiten Kapitel “Entrer dans la littérature par la pratique” stellt sie die Anstöße vor, mit den Universitätsreformen nach 1970 und den neuen Schreibateliers nach 2000 zu einem Umdenken geführt haben: S. 40-44. “Faire du lecteur un producteur de textes”: intertextualité et critique génétique lautet eine Zwischenüberschrift über dem Kapitel, in dem die theoretischen Grundlagen der Arbeiten von Roland Barthes und Gérard Genette genannt werden. Nicht vergessen darf man hier die Wiederbelebung der Rezeptionsästhetik durch Jean-Paul Sartre, der in Qu’est-ce que la littérature ? (Paris: Gallimard 1948) erklärte, dass ein Geisteswerk nur entstehen könne, wenn Autor und Leser zusammenarbeiten. Es ist die Praxis, die über den Erfolg entschiedet, so zitiert die Autorin François Bon: “Écrire ne s’apprend pas. Simplement voilà : ils écrivent. Et c’est cela, qui se travaille.”

Das Kapitel “Profession écrivain” ist als eine Art Studienführer eine wahre Fundgrube für deutsche Romanisten. Hier erklärt Violaine Houdart-Merot die Unterschiede zwischen französischen und amerikanischen Ansätzen zum kreativen Schreiben und ihre Vermittlung und skizziert die Berufsaussichten für die Absolventen dieser Studiengänge: S. 65 f.

Da diese Ausbildung in der Universität stattfindet, äußert sich auch die Forschung dazu: “La recherche en création”, wie z.B. Das Doctorat SACRe: Sciences, Arts, Création, Recherche, das im November 2012 eingerichtet wurde und in Zusammenarbeit mit der École normale supérieure entwickelt wird. In diesem Zusammenhang kommt Violaine Houdart-Merot auf die vielen Autoren zu sprechen, die ihrerseits ihre eigene Schreibpraxis erläutert und kommentiert haben, unter ihnen z. B. Stéphane Mallarmé: S. 109 ff.

Das letzte Kapitel untersucht Auftritte von Schriftstellern in der Universität und in der Öffentlichkeit: Vgl. dazu > Donnerstag 07.04.11 20.00 Uhr: > Michel Houellebecq, Karte und Gebiet im Stuttgarter Literaturhaus, oder Donnerstag 20.12.18 19.30 Uhr: > Bodo Kirchhoff, Dämmer und Aufruhr

Eine ausführliche Bibliographie, S. 147-153 ergänzt diesen Band.

Violaine Houdart-Merot ist es aufgrund ihrer Erfahrung gelungen, in präziser Form spezielle  Entwicklungen des Literaturunterrichts in französischen Universitäten aufzuzeigen, von denen auch deutsche Romanisten profitieren sollten. Außerdem bietet sie mit ihren Erklärungen zur Rhetorik und zum Stellenwert französischer Poetiken nicht nur nebenbei wichtige Grundlagen für das Literaturstudium.

Violaine Houdart-Merot,
La Création littéraire à l’université,
Saint-Denis : Presses Universitaires de Vincennes 2018

Alan Strauss-Schom: Eine neue Biographie über Napoleon III.

Alain Strauss-Schom hat gerade das Buch > The Shadow Emperor. A biography of Napoleon III bei St. Martins Press, (New York 2018) vorgelegt, sie folgt auf die Biographie Napoleons I., die der Autor 1997 veröffentlicht hat. Er bezeichnet sich als „biography-historian“ S. 435, und interessiert sich für die „personalities and interrelationships those who create or are involved with,if only indirectly, the events that shape ‚the outcome of history‘“. S. 425. Und Strauss-Schom betont ausdrücklich, wie stark sich der Onkel vom Neffe unterscheide, der im Schatten seines Onkels aufwuchs. (Vgl. S. 425.) In einem Satz fasst der Autor die Lehrjahre Louis Napoleons prägnant zusammen: „Ironically, what Louis Napoléon never admitted to himself, however, was his rejection of almost everything his uncle stood for, beginning with the military.“ Ib. Der Neffe betonte immer wieder, dass das Kaiserreich für den Frieden stände.
Der Titel des Buches erklärt sich mit dem Ergebnis der vorliegenden Studie: „A very dynamic and demanding Napoléon I had dominated the emire he created, while a far less vigorous and egotistical Louis Napoléon remained in the shadows of the very empire he in turn created.“ Da klingt noch ein wenig die Unterschätzung an, die in vielen Biographien vorherrschte, bis Jean Sagnes, Pierre Miquel, Philippe Séguin und Eric Anceau die durch Napoleon III. betriebene Modernisierung Frankreichs in den Blick nahmen.
Das Buch besteht aus drei Teilen: Die Lehrjahre des künftigen Kaisers einschließlich seiner Haft im Fort Ham, dann die Wahl zum Präsidenten, der Staatsstreich und die Gründung des II. Kaiserreichs und dann die Jahre 1852-1870 mit dem Krimkrieg und schließlich dem Deutsch-französischen Krieg.
Der erste Teil kommt bei vielen Biographen oft etwas zu kurz, ist aber für das aufkeimende Interesse des Neffen für den Onkel und den Bonapartismus, dem er eine eigne Prägung geben wird, besonders wichtig. Charles-Louis Napoléon wird am 20. April 1808 geboren. Sein Onkel Napoleon I. wird mit seiner Erbschaft die Jugend und die Gedankenwelt des künftigen Kaisers bestimmen: „There was always a distracted, distant look in his eyes,“ schreibt Strauss-Shom und deutet damit die frühe Entschlossenheit von Louis Napoleon an, über die Gewissheit zu verfügen, zu höheren Dingen berufen zu sein. Sein Vater Louis Bonaparte, der frühere König von Holland und Freimaurer wachte über die Erziehung des Knaben. Kaum hat dieser die Schule verlassen, fängt er an, von militärischen Abenteuern zu träumen. Noch folgt er dem Vater und verzichtet (erstmal) auf seine Pläne.
Im Juni 1830, gerade wurde die Invasion in Algerien gestartet, kommt es in Paris zur Revolution, kurz darauf dankt Karl X ab und geht nach England.
Charles Auguste Louis Joseph, Comte de Morny (1801-1865) war der illegitime Sohn von General Charles Joseph Flahaut,(vgl. Flahaut, Les Francs-maçons fossoyeurs du 1er Empire, Editions littéraires et artistiques, 1943) einem Vertrauten von Napoleon I, und Neffe von Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, dem Außenminister des Kaisers. Adelaide [de Flahaut] de Souza wußte als eine der wenigen Eingeweihten, dass die Mutter von Morny die Gattin Hortense de Beauharnais von König Louis Bonaparte war. Vgl. S. 13-15. Hier erzählt Strauss-Schom eine spannende Geschichte, der er zu Recht das 3. Kapitel widmet. Morny sollte tatsächlich großen Einfluss auf den Aufstieg Louis-Napoléons zum Kaiser bekommen. Erst im Oktober 1838 sollte er von der Existenz seines Halbbruders erfahren.
Hortense de Beauharnais (1783-1837), so Strauss-Schom,war eine der einflussreichsten Personen im Leben Louis-Napoléons: „He was also a prisoner of her love.“ S. 22 Ihre Urlaube in Italien hatten weitreichende Folgen für ihren Sohn und den Grafen Francesco Arese (1778-1847), sie sich beide in Italien engagieren, wo 1831 Napoléon-Louis in Forlì stirbt. Louis-Napoléon, der sich fortan mindestens bis 1884 nach dem Namen seines Bruders nennen wird, kehrt nach Arenenberg zurück. Nicht Arese sondern Louis-Napoleon sei lebenslang Freimaurer gewesen (S. 32) berichtet Strauss-Schom. Dazu gibt es in der Forschung bisher keine Belege, auch wenn eine Reihe von Tatsachen, dies nahelegen: vgl. H. Wittmann, > Napoleon III. Macht und Kunst, Reihe Dialoghi/dialogues. Literatur und Kultur Italiens und Frankreichs, hrsg. Dirk Hoeges, Band 17, Verlag Peter Lang, Frankfurt, Berlin, Bern u. a., 2013, S. 40-45: Louis-Napoleon: ein Freimaurer?
Seine Jahre in Arenenberg wieder ab 1835 sind Lehrjahre, die er nicht nur zu Studien nutzt. Er knüpft Kontakte und unternimmt einen ersten Staatsstreich in Straßburg 1837, der scheitert, die Regierung lässt ihn in die USA ausreisen, er darf aber zu seiner todkranken Mutter 1837 nach Arenenberg zurückkehren.
Srauss-Schom trifft den richtigen Ton, in dem er zeigt, wie Louis-Napoleon immer Sorge um sein Erbe, die Erinnerung an die Bedeutung seines Onkels aufrechtzuerhalten, stets in dem Bestreben, immer wieder Gruppen von Getreuen um sich zu sammeln. Die Landung in Boulogne scheitert kläglich und in der Festungshaft in Ham, fast ein offener Strafvollzug darf er seine Studien fortsetzen und intensivieren. 1840 werden die sterblichen Überreste des Kaisers nach Frankreich zurückgeholt. Eine bessere Werbung für die eigene Sache Louis-Napoleons hätte es nicht geben können.
Wiederum sind es einige Getreue, unter ihnen der Arzt und Freimaurer Henri Conneau, die Louis-Napoléon zur Seite stehen. Die Napoleonischen Ideen aus der Feder Louis-Napoléons lesen sich wie ein Programmschrift und Strauss-Schom gibt ihnen auch den richtigen Stellenwert, so wie L’Extinction du Paupérisme seine sozialen Ideen vorstellen und ihn als einen linken Politiker präsentieren. 1846 gelingt ihm als Bauarbeiter verkleidet die Flucht aus dem Fort Ham nach England.
Sein Glücksfall ist die Revolution von 1848. Louis-Philippe dankt ab, die Republik wird ausgerufen und Louis-Napoleon, wieder mit der Hilfe einige Getreuer nutzt seine Chance und wird im Dezember zum Staatspräsidenten gewählt. Das Kapitel 13 „A Pure New Holy Republic: 1848“ zeigt, wie Louis Napoleon sich strategisch geschickt die politische Unterstützung für seine Pläne sichert.
16. “Countdown to Empire” ist die Einleitung zur Erneuerung des Kaiserreichs, die mit einem Staatsstreich, diesmal gelingt er, von Louis-Napoleon wieder mit einer kleinen Zahl von Getreuen vorbereitet und erfolgreich ausgeführt wird. Die Kapitelüberschrift 18. “The Sphinx of the Tuileries” ist gut gewählt. Eine besondere Aufmerksamkeit erhält hier die politische Organisation der neuen Staatsform. Mehr als in anderen Biographien stellt Strauss-Schom die außenpolitischen Beziehungen des Kaiserreichs dar. Der Titel des Buches lockt den Leser auf eine falsche Fährte, da Alain Strauss-Schom sehr wohl die Erneuerung der Wirtschaft und die Reformen Napoleons III berücksichtigt und der Umgestaltung von Paris 21. „Georges Haussmann“ und 22. „Prefect of Paris“ einen breiten Raum widmet. Auch die Kultur in seiner Biographie kommt in seiner Biographie bekommt ebenfalls die Aufmerksamkeit des Autors: 30 „Offenbachland“.
Natürlich liegt der Vergleich der beiden Kaiserreiche nahe. Der Neffe eifert dem Onkel nach, aber es gelingt ihm auch, das zeigt er in seinen programmatischen Schriften, sich von den Doktrinen seines Onkels abzusetzen. Er hat eine viel längere Zeit der Regierung gehabt und sie für eine tiefgreifende Modernisierung mit Unterstützung der Industrialisierung sehr errfolgreich zu nutzen gewusst. Die außenpolitischen Abenteuer haben ihn dazu geführt, seinen selbst gewählten Grundsatz, das Kaiserreich ist der Friede, wiederholt zu verletzen, dennoch erlaubt der Vergleich mit seinem Onkel, dem es gelang, Frankreich nach den Revolution zu befrieden, wenn auch nur um den Preis erneuter Kriege, es nicht, seinen Neffen in seinen Schatten zu stellen. Abgesehen davon hat Strauss-Schom eine sehr lesenswerte Biographie verfasst.

Ein ausführliches Register S. 481-496 erleichtert die Orientierung in diesem Buch.

Alan Strauss-Schom  –  His Website: > alanschom.com
> The Shadow Emperor
New York 2018
ISBN: 9781250057785
512 Pages

Iris Radisch, Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben

Im Untertitel steht “Von Sartre bis Houellebecq”, beide Autoren werden auf der letzten Seite nochmal genannt. Ob Houellebecq das Erbe von Sartre antritt, mag dahingestellt sein. So bleibt es erst mal dabei, dass dieses Buch mit Sartre beginnt und chronologisch mit Houellebecq endet.

Allerdings ist es auch wahr, dass wenn Sie dieses Buch lesen werden – und Sie sind sicher neugierig – werden Sie danach Ihre Liste der unbedingt zu lesenden Bücher und auch ihr Regal sogleich um einige wichtige Titel erweitern. Iris Radisch macht echt Lust auf Lesen wichtiger und guter Bücher: Liste auf S. 221.

Alles beginnt  mit den Sartre-Jahren mit Simone de Beauvoir, Michel Leiris, Albert Camus, Samuel Beckett und vielen anderen, dann kommt der neue Roman von Natahalie Sarraute über Alain Robbe-Grillet bis Michel Butor und Claude Simon, alle mit ihren Eigenarten. Die Außenseiter Julien Green, Françoise Sagan, Eugène Ionesco, E.M. Cioran, Henri  Michaux, Michel Leiris und Georges Bataille kommen nicht zu kurz. Dann kommt die Explosion des Pariser Mai: Georges Perec, Daniel Cohn-Bendit, Patrick Moindiano. Die frankophonen Autoren  mit Assia Djebar, > Boualem Sansal, Kamel Daouds, Aimé Césaire und Edouard  Glissant kommen nicht zu kurz. Dann kommt eine Epoche der Aufbruchsjahre mit dem Tod von Sartre und Barthes. Jean-Marie Gustave Le Clézio und Annie Ernaux, Marguerite Duras und Pierre Michon stehen im Licht der Aufmerksamkeit. Danach kommen die Houellebecq-Jahre = Michel Thoma, Yasmina Reza Emmanuel Carrère und Mathias Énard.

Nein, Sartres Kriegstagebücher zählen heute nicht unbedingt zu seinen besten Werken (S. 11). Wie gesagt, die Auswahl ist ganz subjektiv, so natürlich auch die vorgetragenen Beurteilungen einzelner oder ganzer Werke. “Der Ekel bleibt sein bester Roman.” (S. 25) Stimmt. Man kann hier und da einzelne Urteile oder Schlussfolgerungen der Autorin in Frage stellen, so wie ihren Hinweis auf Sartres Vortrag L’existentialisme est un humanisme mit dem er einen Sturm auslöst: “Bevor Sie leben, ist das Leben nichts, es ist an Ihnen, ihm einen Sinn zu geben, und der Wert ist nichts anderes als dieser Sinn…”, das war nicht neu, das hatte der Autodidakt Roquentin in La Nausée auch schon gesagt. Dann erinnert Radisch an Sartres Kritik in Qu’est-ce que la littérature?: “Die Politik des stalinistischen Kommunismus ist mit der ehrlichen Ausübung des literarischen Handwerks unvereinbar,” (S. 35) meint aber “sein ästhetisches Programm” hätte sich nicht von den Parolen des sowjetischen Schriftstellerkongresses von 1934 unterschieden. Hier gerät doch einiges durcheinander.

1947 erscheint Camus’ Die Pest. 52000 Exemplare werden schon in den ersten Monaten verkauft. Camus selber, so  Radisch, wollte die Pest- und die Naziseuche nicht in eins gesetzt wissen. Ich weiß nicht ob, der “Männerclub der einsamen Pessimisten, die sich dem Absurden so entschlossen entgegenstemmt,” den Radisch direkt aus dem erwähnten Vortrag von Sartre kommen sieht, wichtiger als die “entlastende historische Metapher der Krankheit” ist (S. 48). > Rupert Neudeck gab das Buch seinen Mitreisenden auf der Cap Anamur als Bibel der NGO mit auf die Reise.

Das Kapitel über den Nouveau Roman ist heute wirklich schon Literaturgeschichte. Texte die in der Schule bei uns so gar nicht  gelesen werden, zu Unrecht darf man sagen, nachdem man dieses Kapitel gelesen hat. Zwischendurch eine Bemerkung über Sartre und die engagierte Literatur, nein, für Sartre war ein Schriftsteller engagiert, in dem Moment, wo er die erste Silbe schrieb, dann war er schon für das, was er schrieb, verantwortlich.

Das 3. Kapitel “Die Außenseiter” beschreibt mit Julien Green, Françoise Sagan, Eugène Ionesco und so vielen Anderen eine Übergangszeit, in der sich eine Art Wirtschaftswunder ereignet. Die Indizes zeigen nach oben, aber dann kommt der Mai 68 wie > Antoine Campagnon dies kürzlich so prägnant und einleuchtend erklärt hat.

“Die Franzosen” gibt es nicht, es gibt aber viele auch sehr gute französische Schriftstellerinnen und Schriftsteller.

Das Buch ist natürlich auch für Oberstufenschüler geeignet, die hier mal nachlesen können, was für eine wunderbare Welt die französische Literatur vor allem aber ihren eigenen Sprachkenntnisse eröffnet. Die Auswahl der zitierten Werke ist ganz subjektiv, knapp und prägnant, aber literaturhistorisch sinnvoll auf einen Nenner gebracht und zwar in einer Form, die man nach dem Lesen dieses Buches durchaus im Gedächtnis behalten wird, wenn man zum Befolgen der Leseempfehlungen in den Buchladen oder in die Bibliothek schreitet. Das ist Irisch Radisch wirklich gut gelungen: Sie verknüpft einige biographische Erzählungen , ein bisschen wer mit wem, das ist immer spannend, geschickt mit Berichten über die von ihr ausgewählten Werke. Sie stellt Bezüge her, zeigt Entwicklungen auf und wenn man ihr Buch gelesen hat, und an den Französischunterricht in der Oberstufe denkt, kommt man ins Träumen. Ach, wenn meine Schüler/innen aus jedem Kapitel dieses Buches mindestens ein Buch vor dem Abitur gelesen haben müssten. Wenn sie wüssten, dass die Lektüre nach einem ersten ganzen Buch mit jedem weiteren Buch stets leichter fällt!

Iris Radisch
Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben
Von Sartre bis Houellebecq

Hamburg: Rowohlt 2017

Rezension: Jean-Noël Jeanneney, Le Moment Macron. Un président et l’Histoire

french german 

Rezension: Henrik Uterwedde. Frankreich – eine Länderkunde

Henrik Uterwedde, der frühere stellvertretende Direktor des > Deutsch-französischen Instituts DFI in Ludwigsburg hat eine Frankreich-eine Länderkunde (Opladen, Berlin, Tronto: > Budrich 2017) vorgelegt. Mit 180 Seiten können sich interessierte Leser auf den neuesten Stand in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht bringen, um mitreden zu können, wenn es um unser Nachbarland Frankreich geht.

Es geht los mit der Wahl Emmanuel Macrons am 7. Mai 2017 zum Staatspräsidenten. Eine gute Gelegenheit, auch gleich eine neue Landeskunde zu verfassen, will doch Macron so viel in Frankreich umkrempeln, so dass noch schnell eine Bestandsaufnahme dringend angesagt ist, um die Tragweite der anstehenden und versprochenen Reformen ermessen zu wollen.

Die Historischen Grundlagen werden durch eine Tabelle der aufeinanderfolgenden Regime (S. 23) ergänzt; wer sie im Kopf hat, hat auch ein Gerüst für die französische Geschichte seit 1789. Ein Kunststück, auf knapp 10 Seiten die Geschichte seit 1789 darzustellen. Man merkt der Darstellung die Souveränität an, mit der Uterwedde über sein Wissen verfügt. Wie schon in diesem Kapitel ist die weiterführende Literatur am Ende eines jeden Kapitels mit großer Sorgfalt ausgewählt.

Das politische System ist im wesentlichen eine Darstellung der Geschichte und der verfassungsrechtlichen Grundlagen der V. Republik. Der Text ist auf dem neuesten Stand und somit eine gute Grundlage um die neue Ära Macron gut verstehen zu können.

Parteien und Wahlen bestimmen das politische Leben. Hier werden die aktuellen Erschütterungen des Parteienlandschaft in einen Zusammenhang mit der Geschichte der Parteien gestellt. Unter Macron hat die Links-Rechts-Polarisierung eine Verschnaufpause. Wie lange, wird der neue Präsident, die Regierung der Mitte stärken können? In diesem Kapitel gibt es viel Stoff zum Verständnis der komplizierten Geschichte der Partien, die ihre Namen immer wieder ändern, um ihre eigene Dynamik zu erneuern.

Im Kapitel “Die Rolle des Staates” wird u. a. die territoriale Ordnung Frankreichs in den Blick genommen, sowie die Rolle Staates im Wirtschaftsleben. Aber das Rollenverständnis in Staat und Gesellschaft ist in Bewegung geraten. Dieses Kapitel vermittelt die notwendigen Eckdaten, um das Gewicht der anstehenden Reformen gut einschätzen zu können. Dezentralisierung und Stärkung der Zwischengewalten gehören zu den wichtigen Stichwörtern.

Digitalisierung, Strukturwandel, Internet, Konzentration, neuen Nutzungsgewohnheiten bringen von den Medien in Zugzwang. Ein Erneuerungsprozess, der vom Autor verlangt, auch hier die Grundbedingungen darzustellen, nach deren Lektüre Entwicklungstendenzen in der französischen Medienlandschaft erkannt und eingeordnet werden können. Diese Aufgabe ist gut gelöst und diese Beobachtung gilt auch für die folgenden Kapitel Wirtschaft und Gesellschaft, deren Präzision dem beeindruckenden Fachwissen und der Erfahrung des Autors geschuldet ist.

“Der gesellschaftliche Zusammenhalt”: S. 141-161. Das ist warum es jetzt in Frankreich geht. Wird der neue Staatspräsident in der Lage sein, die mit seiner Wahl angekündigte Neuordnung der politischen Landschaft zu bewältigen? Es sieht so aus, als wollte er die Eckwerte der gesellschaftlichen Entwicklung jetzt in den Blick nehmen, um die Wirtschaft grundlegend zu reformieren, damit die Zahl der Arbeitslosen signifikant gesenkt werden kann. Diese Umbrüche werden auch die Gesellschaft betreffen. Wie groß wird ihr Beharrungsvermögen sein?

Das Bildungssystem ist das vorletzte Kapitel, es hätte aber viel weiter vorne stehen müssen, da hier die Achillesverse der künftigen gesellschaftlichen Entwicklungen beschrieben wird. “In kaum einem vergleichbaren Land wird so intensiv über die eigene Rolle in der Welt nachgedacht wie in Frankreich,” S. 175, viele pertinente Beobachtungen wie diese fallen dem Autor, der ein vorzüglicher Kenner der deutsch-französischen Beziehungen ist, leicht.

Studenten, auch Schüler, finden hier ein sorgfältig aufbereitetes und klug vorgetragenes Orientierungswissen.

Grundsätzliches zur Gastronomie-Kultur

Serviert von Vincent Klink 
Grundzüge des gastronomischen Anstands von Grimod de la Reynière
Hamburg: Rowohlt 2016.

Wir haben uns schon oft gefragt, wo der Koch Vincent Klink, den Ursprung seiner Passion für die Koch- und Bewirtungskunst gefunden hat, die er in so perfekter Weise in seinem Restaurant Wielandshöhe in Stuttgart zu zelebrieren versteht.

Vincent Klink spricht über Grimod de la Reynière
5. Dezember 2016 von H. Wittmann

Es ist Balthazar Grimod de la Reynière (1758–1837) der in seinen Werken die hohe Kunst der Gastronomiekritik entwickelt hat. Er wurde in eine sehr wohlhabende Pariser Familie hineingeboren. Das war am 20. November 1758. Ein Krüppel kam zur Welt mit verstümmelten Armen ohne Hände. Das hinderte ihn nicht daran, schon als Kind und Heranwachsender die Sinnes- und Gaumenfreuden im elterlichen Haus zu verfolgen und zu verinnerlichen. Ob ihn der Tod des Großvaters, der an einer Gänseleber erstickte, beeindruckt hatte? Klink nennt seine Einleitung zur Werkauswahl von Grimod de la Reynière: “Der große Vordenker der wohlüberlegten Nahrungsaufnahme: Alexandre Balthazar Laurent Grimod de la Reynière (1758-1837)” und berichtet vom kulinarischen und gatronomischen Salon, den der Vater dem Sohne finanzierte.

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