Die politische und wirtschaftliche Zukunft Europas

Christian de Boissieu, Jean-Hervé Lorenzi,
Et si le soleil se levait à nouveau sur l’Europe ?
Paris Fayard 2013. ISBN 9782213678177

Woher kommt es eigentlich, dass europäische Politik durch die Europäer selbst immer so pessimistisch betrachtet wird? Eurokrise, wirt-schaftliche, politische Krisen. Krisen überall! Aber warum eigentlich? Folgt man den Autoren der Beiträge dieses Bandes, so besteht dazu aufgrund des Reichtums unseres Kontinents nur wenig Anlass: “Il faut résolument dénoncer une vision défaitiste et fausse de l’Europe. Son prétendu déclin n’a rien de définitif, ” steht im ersten Satz auf dem Klappentext dieses Buches. Nichts ist verloren, aber an einigen Ecken müssen wir doch schon ein wenig aufpassen.Im übigen wird nach der Lektüre dieses Bandes deutlich, außer der Euro-Krise gibt es auch an einigen anderen Stellen Anlass zu Sorge, aber nur wenn nichts geschieht. Zuallererst wollen die Autoren dieses Bandes an die Chancen und die Trümpfe unseres Kontinentes erinnern. Und das ist dringend notwendig, da aus der Politik beiderseits des Rheins wenig Visionäres zu Europa kommt. Wir Europäer wuchern nicht mit unsere n Pfründen, sondern klagen auf einen ziemlich hohen Niveau.

Die beiden Herausgeber J.-H. Lorenzi und Ch. de Boissieu bezeichnen ihr Buch als eine Herausforderung, weil ihre Autoren die Europapoliitk gegen den gewohnten Strich bürsten. Es geht nicht um einen Blick zurück, sondern sie präsentieren das Zukunftsprojekt Europa. Besteht man auf einem Rückblick, darf man sich daran erinnern, dass dieser Kontinent die Demokratie erfand, die industriellen Revolutionen lancierte und damit ein Wissen schuf, dass heute mit einer besorgniserregenden Situation fertig werden muss: “Certitudes absurdes, incertititudes profondes, incohérences tragiques et convergences nécessaires,” (S. 11) Absurd: Europäischer Anteil am BSP auf Weltniveau 5 % und damit einen Niedergang Europas als sicher darstellen. Die demographische gibt zu Sorgen Anlass, das muss Europa keineswegs von einem neuem Aufschwung abhalten. Incohérences tragiques: Man sieht den EuroO als Erfolg an und genießt Europa als erste Handlesmacht in der Welt, es gibt aber (noch) keine Regulierungsmechanismen für den Euro und Europa lernt die Haushaltsdisziplin erst langsam. Alle schlagen Lösungen vor, es gibt keine gemeinsamen Visionen. Konvergenz ist das Stichwort, dass die Autoren dieses Bandes dem üblichen europäischen Pessimismus, der für sie keine seriösen Begründung vorweisen kann, entgegensetzen wollen.

Drei Teile: I: Was wäre wenn der “Déclinisme” das Gerede vom europäischen Niedergang ein Irrtum wäre?, II. Und wenn Europa widerstehen würde? und III. Wie wäre es wenn Europa sich eine Zukunft konstruieren würde?

Um es gleich zusagen. Europa hat alle Trümpfe. 28 Mitglieder, viele von ihnen haben eine gemeinsame Währung. Statt auf gemeinsame Perspektiven und Erfolge zu pochen, versuchen die Kritiker nationale Egoismen zu wecken.

Olivier Pastré stellt uns Europa 2025 vor. 2021 haben sich Frankreich und Deutschland vereint. Sein Aufsatz ist ein echter Fahrplan auf dem Weg zu diesem Ziel, das schließlich auch eine wirklich europäische Industriepolitik ermöglicht. (> www.france-blog.info/expertenkommission-das-grundgesetz-in-deutschland-und-die-verfassung-in-frankreich, 1. April 2013) Andrew Moravcsik fragt sich, warum Europa mit einem höheren Einfluß, 2. Militärmacht nach den USA in der Welt als China nicht mehr aus seiner Situation mache. Ordnung und Frieden in Europa machen die Macht seiner Zivilgesellschaft aus, die ihresgleichen in der Welt sucht. Aber die Europäer unterschätzen sich und den Euro, weil ihnen seine Erfolge nicht bewußtgemacht werden.

Anne-Marie Slaughter berichtet über die Beziehungen Europas mit Asien, so wie Manio Shankir Aiyar seinen Beitrag mit “L’Inde, fantasme d’une menace” überschrieben hat. Masahiko Aoki berichtet aus China und Martin Ziguélé zeigt wie Europa aus afrikanischer Sicht gesehen wird: Er setzt auf den Wissenstransfer nach Afrika. Jean Pisani-Ferry erinnert daran, dass Europa schon immer eine Art Forschungsinstitut für die internationalen Beziehungen gewesen sei, in dem es alle nur denkbarne Regierungsformen ausprobiert habe. Europa habe einen Multitlateralismus entwickelt, der sogar dem der USA voraus sei. Außerdem habe sich Europa erfolgreich als globaler Regulierer betätigt, wo internationals Regeln fehlen, (Vgl. S. 81): “Aucun autre pays ou groupement de pays n’est aujourd’hui en mesure de contribuer de la même manière à la constuction de la gouvernance mondiale.” (S. 83)

Patrick Artus dringt auf mehr Wachstumspolitik, da wo sie möglich ist, im Sinne eines Strategiewechsels in der Euro-Zone, die aber möglicherweise nicht eingeleitet wird, weshalb er mit einer Fortsetzung der Zinssatzpolitik rechnet. Auf diese Weise werde die Eurokrise nicht beendet. Pascal Lamy fragt, ob der Euro überbewertet sei? Christian de Boissieu fürchtet strukturelle Defizite, wenn der FMI nicht mehr Kompetenzen erhalte, während Jean-Paul Betgbèze die Schlüsselposition der EZB hervorhebt. Will die Euro-Zone überleben, wird man um die Steuerharmonisierung nicht herumkommen, meint Alain Trannoy. Hervé LeBras erinnert an die demographischen Entwicklungen und ihre Auswirkungen in Frankreich und Deutschland. Thierry Weil et Pierre-Noël Giraud plädieren für eine Industriepolitik und erinnern an den > Rapport Gallois.

Europa muss sich auf den Weg in die Zukunft machen und seine Entwicklung aktiver in die Hand nehmen, seine Trümpfe ausnutzen und sich nicht treiben lassen. Unsere Politiker sprechen von Krisen und verwalten Europa, was ihnen aufgrund unserer vielfältigen Ressourcen gut gelingt. Sie formulieren aber keine Visionen, wo die Reise hingehen soll. Diesen Defiziten setzt Philippe Aghion die Herausforderung einer besseren Bildung in den Hochschulen und im Sekundarbereich entgegen. Diese Ausbildungsstätten sind für ihn der entscheidende Wachstumsfaktor. Philippe Trainar ist der Überzeugung, Europa muss wieder lernen, Risiken auf sich zu nehmen. Jean-Louis Georgelin erinnert an die Notwendigkeit einer koordinierten Verteidigungspolitik in Europa. Aber bisher zögern die Nationen, Souveränitätsrechte abzugeben. Die Globalisierung stellt Europa vor neue Aufgaben, die es mit der aktuellen Situation nicht beantworten kann, zugleich profitiert Europa immer noch vom Atlantischen Bündnis. Auch Hubert Védrine wendet sich mit Nachdruck gegn die Unterbewertung einer einheitlichen europäischen Außenpolitik. Eine entscheidende Perspektive für den in diesem Band geforderten Aufbruch Europas sehen Jacques Mistral und > Henrik Uterwedde im deutsch-französischen Einverständnis. Sie beschreiben in Ihrem Beitrag die gemeinsamen Iinteressen der beiden Staaten wie auch ihre unterschiedlichen Wirtschaftsvorstellungen. Zugleich skizzieren sie auch, wie beide Staaten sich annähern werden: Präsident Hollande unternimmt alles, um das Gleichgewicht der öffentlichen Finanzen wiederzuerlangen, wobei die beiden Autoren sich nicht sicher sind, ob die französischen Anstrengungen in Berlin wirklich verstanden werden. Ihr Urteil über die Maßnahmen der Regierung in Paris führt sie zu der Forderung, dass es jetzt an der Zeit sei, den deutsch-französischen Motor wieder zu starten. (Vgl. S. 230) Kemal Dervis blickt auf die Wahlen zum Eurpopaparlament im Mai 2014: “Gérer la Grande Europe.” Pierre Jaquet (“Renouer avec la ‘grande politique'”) setzte sich für einen Ausgleich zwischen nationalen und internationalen Zielen ein.

Heiner Wittmann