Rezension: Volker Hunecke, Napoleon. Das Scheitern eines guten Diktators

Der Untertitel “Das Scheitern eines guten Diktators” der Biographie über Napoleon von Volker Hunecke, die 2011 im Verlag Ferdinand Schöningh erschienen ist, fasst die Thesen des Autors prägnant zusammen. Hunecke hat zuerst die Erfolge Napoleons im Auge: Der Erste Konsul hat in knapp drei Jahren Frankreich befriedet, für die Aussöhnung mit der römischen Kirche gesorgt, die Emigranten zurückgeholt, die staatliche Institutionen neu geordnet und neue Gesetzbücher verabschieden lassen. (vgl. S. 10) Folglich wurde er 1802 Konsul auf Lebenszeit. An dieser Stelle verortet Hunecke den Ursprung aller Probleme, die Napoleon von nun an begleiten werden. Seine Fehler, denen Hunecke sich im Lauf seiner Untersuchung zuwenden wird, seien nur der Tatsache geschuldet, dass Napoleon sich zum unumschränkten Herrscher habe aufschwingen können. (vgl. S. 12)

Den Krieg hatte er vor 1802 beendet, aber sein erneuter Beginn 1803 und seine Ausweitung auf den Kontinent war, so Hunecke, eine Folge der vom Kaiser betriebenen Außenpolitik. Zu seinem Scheitern hatte auch der Plan, Frankreich zu einer hegemonialen Großmacht machen zu wollen, beigetragen. Hunecke unterstreicht ausdrücklich, dass es keine moralischen Defizite gewesen seien, die dem Kaiser geschadet hätten, es war “sein Unvermögen, grundlegende Prämissen und Gebote des modernen Verfassungslebens einzusehen und gar zu akzeptieren,” (S. 13), das zu seinem Scheitern führte, aber auch gleichzeitig, “das Werk des guten Diktator vor dem Untergang bewahrte” (S. 14). Damit ist der Ansatz dieser Untersuchung umrissen, die mit der Schärfung des Blicks auf das Verfassungsrecht eine Lücke in der so unübersehbar großen Liste aller Veröffentlichungen zu Napoleon I. füllen möchte.

Die Einleitung erinnert an einige Stationen, mit denen der militärische Aufstieg Napoleons begann: Der 13. Vendémaire, IV (5.10.1795) war das Ereignis, aus dessen Anlass Paul Barras, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte in Paris und der Inlandsarmee sich die Unterstützung Napoleons holte, der mit seinem artilleristischen Knowhow die Aufständischen an der Kirche Saint-Roch besiegte. Der künftige Kaiser wurde mit 24 Jahren zum General befördert und lernte ein paar Monate später seine künftige Frau Joséphine de Beauharnais kennen. Anfang 1796 wird er zum Oberbefehlshaber der Italienarmee befördert. Ab jetzt griff er in das Geschehen ein.

Ein weiterer Vorzug dieser Darstellung sind die vielen Hinweise auf die Literatur: U.a. erinnert Hunecke an die Mémoires d’Outre tombe von Chateaubriand (t.XIX-XXIV) mit dessen Generalabrechnung mit Napoleon oder an La Confession d’un enfant de siècle von Alfred de Musset oder an Adolphe Thiers, der das schwierige Verhältnis der Blutströme und der politischen Freiheit als ein unauflösbares Problem der Herrschaft des Kaisers verstand. Man versprach sich Rettung durch den Konsul, der aber durch seine Machtfülle dann doch in eine Verschärfung der Diktatur abgeleitete. Die Interventionen in den europäischen Staaten bis zum Zug der großen Armee nach Moskau konnten nicht gut gehen. Trug das Kaiserreich von Beginn an, den Keim des Scheitern in sich? Wieder wendet sich Hunecke der Verfassung des Konsultats zu, und fragt, ob deren Art. 39 ff., die dem Konsul eine so unbegrenzte Machtfülle gaben, künftige Probleme des Kaisers vorprogrammierten?

Napoleon sei kein Sohn der Revolution gewesen, aber als Arzt habe er ihre Wunden geheilt, so lautet Huneckes These infolge des 15. Dezembers 1799, an dem die Verfassung des Jahres VIII verkündet und in einer Proklamation der drei Konsuln die Revolution für beendet erklärt wird: “eine Verheißung für die Zukunft” S. 33 Wie bereits angedeutet, interessiert Hunecke sich ganz besonders für verfassungsrechtliche Fragen, für die Napoleon sich offensichtlich weniger begeistern konnte, ihm ging es allein um Machtfragen: vgl. S. 35. Aber sein Regime bekommt auch einen Namen, über den “Bonapartismus” wird viel geschrieben werden und sein Neffe Louis-Napoléon wird sich nach 1852 anschicken, diesen weiterzuentwickeln.

Im III. Teil “Der Aufstieg” schildert Volker Hunecke die Karriere, die Bonaparte bis zum General geführt hat. Bemerkenswert ist es, wie die Kritik an der großen Machtfülle des Parlaments noch vor der Machtübernahme am 18. Brumaire deutlich wird und sich so ein wesentliches Kennzeichen des Bonapartismus abzeichnet. Spuren dieser Kritik werden sich bis 1958 in der Verfassung der V. Republik wiederfinden, mit dem was man als einen “parlementarisme rationalisé” bezeichnet hat. Aber das Resultat des 18. Brumaire hat er sich in einer Volksabstimmung bestätigen lassen: S. 80-87, der dann die > Verfassung des Jahres VIII folgte, in der der Regierung eine herausgehobene Position als “Repräsentant der Nation” bekommt. 1804 geht der Kaiser noch weiter: “Das Volk wird durch die gesetzlichen Gewalten repräsentiert.” S. 89.

Es entsteht eine “plebiszitäre Monarchie” (S. 116-142): Frankreichs vierte Dynastie mit allen Attributen einer neuen Monarchie, bei der aber die von Montesquieu Zwischengewalten nicht ihre Position als notwendige Gegengewichte erhalten: S. 129 f. Nach 1804 ist Napoleon der einzige Repräsentant der Nation und wurde so anerkannt, weil er (noch) als Stifter des Friedens und Reformer (S. 143 ff.) akzeptiert wurde. In Kurzform. Alle Werke und Verdienste, die er nicht auf seine eigene Person bezog, waren von Dauer, wobei der von ihm so stark geprägte Zentralismus erfolgreich umgesetzt wurde, so dass er auch heute noch nur schwer reformierbar ist.

Der Innere Frieden war nicht umsonst zu haben. Ihr Preis war die “Ächtung der Opposition” (vgl. S. 175), die Zensur und die Propaganda und das Exil der Schriftsteller (vgl. S. 187-196).

Napoleons Siege festigten die Stellung des Diktators (vgl. S. 204 ff). Nachdem er die Revolutionskriege 1802 beendet hatte, erklärte England Frankreich 1803 den Krieg, damit begann ein Krieg Frankreichs gegen Europa: vgl. S. 221 ff. 1808 bemächtigte er sich des spanischen Throns und so begann der Abstieg seiner Herrschaft (vgl. S. 269). Bis 1812 bestand noch sein Grand Empire (vgl. S. 278), das aber spätestens mit dem großen Desaster des Russlandfeldzuges zu Ende war. Nach seiner Abdankung beließen ihn die Alliierten als souveränen Herrscher über Elba.

Napoleon ließ sich das nicht gefallen und und landete am 1. März 1815 in Frankreich und eilte in drei Wochen nach Paris um wieder die Herrschaft zu übernehmen, das gelang ihm für 100 Tage und endet mit der Schlacht von Waterloo und seiner Verbannung nach St. Helena, wo er 1821 starb. Auch in diesem Kapitel versucht Volker Hunecke die Actes additionnels aux constitutions de l’Empire mit den vorhergehenden Verfassungen zu vergleichen: Napoleon distanzierte sich vom Kaiserreich und betonte den Schutz der Freiheit der Bürger. Seine Anhänger zeigten sich schockiert. War der Kaiser unglaubwürdig geworden? Aber die Actes waren nur eine halbe Sache, die verfassungsgebende Gewalt wollte der Kaiser behalten. Das Volk sollte wohl souverän werden, aber ihr Inhaber wollte der Kaiser bleiben.

Volker Hunecke präsentiert in diesem Band die verfassungsrechtliche Entwicklung unter Napoleon I. als Schlüssel zum Verständnis seiner erfolgreichen Herrschaft und als Erklärung für ihren Untergang.

Drei weitere Kapitel “XII: Von der Legende zum Bonapartismus”, “XIII. Strassen und Brunnen. Künste und Wissenschaften” und “XIV. Bilanz eines guten Diktators” erklären die Verdienste, die den Ruhm des Kaisers begründeten. Diese Kapitel zeigen auch, wie wichtig die Kenntnisse der Biographie des Kaisers und der Geschichte seiner nachrevolutionären Epoche sind, um das künftige Ringen um eine Verfassung in Frankreich verstehen zu können. Napoleon nutzte Pelebiszite, um seine Diktatur zu festigen, eine Befragung des Volkes hatte er nicht im Sinn. Nicht nur die Bücher über Napoleon, sondern auch über die Napoleon-Legende lassen ganze Bücherregale unter ihrer Last sich biegen. Sein Neffe profitierte von ihr und verfolgte planmäßig die für ihn eigentlich ziemlich aussichtslose Idee, das Erbe seines Onkels anzutreten. Zufälle und politisches Geschick halfen ihm dabei, am 2. Dezember 1851 seinen dritten Staatsstreich zu begehen, mit dem der erste Präsident der Republik (> Vor 170 Jahren: 10 décembre 1848 : L’élection du premier Président de la République – 5. Dezember 2018) sich sein Amt für 10 Jahre sicherte, um am 2. Dezember 1852 das II. Kaiserreich zu gründen.

Volker Hunecke: Napoleon. Das Scheitern eines guten Diktators, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, 419 S., ISBN 978-3-506-76809-4.


“Noch heute sind achtzig Prozent der Besucher des Schlachtfeldes von Waterloo, wie Jürg Altwegg heute in der FAZ: „Eine glorreiche Niederlage“ berichtet, Viele Besucher des Schlachtfeldes seien heute noch davon überzeugt, Napoleon habe diese Schlacht für sich entschieden. Sein Genius war gar nicht in der Lage, so eine Schlacht zu verlieren. Auch nach seinem Tod am 5. Mai 1821 in der Verbannung, haben wohl viele eine solche Schreckensmeldung mit der Antwort: Napoleon könne nicht sterben, abgetan.

Auch wenn sich jetzt der Jahrestag dieser Schlacht zum 200. Mal jährt, wirkt die Napoleon-Legende 1) immer noch nach. Auch seine Gegner konnten sich ihr nicht entziehen….” > Bitte weiterlesen.

Volker Hunecke
> Napoleons Rückkehr
Die letzten hundert Tage – Elba, Waterloo, St. Helena
Stuttgart: Klett-Cotta, 1. Aufl. 2015, 256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-94855-4

Comprendre comment la crise de l’euro a transformé les institutions européennes

Yves Doutriaux, Christian Lequesne
Les institutions de l’Union européenne après la crise de l’euro
(9ème édition), Paris:  La Documentation française 2013

ISBN : 978-2-11-009270-0

Ce livre est le résultat d’une longue observation de l’euro et des institutions européennes. Le titre de cet ouvrage propose une explication des institutions de l’Union européenne une fois que la crise de l’euro sera achevée. – Chaque jour on nous parle de la crise de l’euro, les uns confirment qu’elle est terminée, les autres prévoient qu’elle touche à sa fin, et il y en a qui nous mettent en gardent contre un rebondissement de la crise, et enfin, il y a ceux qui prônent la sortie de l’euro. Peut-être on a inversé les étapes de l’intégration en créant l’euro avant d’affermir les institutions qui le régissent, les uns pensent qu’on est allé trop vite, or, sans aucun doute, l’Union européenne a su bien répondre à la crise en adaptant ses institutions.

Christian Lequesne, L’union européenne d’hier à aujourd’hui :

Chapitre I décrit Une séries de traités (p. 11-30) qui a commencé en 1951 avec le CECA la Communauté européenne du charbon et de l’acier, qui dès le début prévoyait des transferts de souveraineté, un beau coup d’envoi, une dimension que les traités ultérieurs n’ont pas toujours atteint. Lequesne propose une synoptique claire et précise des différents traités jusqu’aux traités intergouvernementaux de 2012 qui, eux, formulaient une réponse à la crise de l’euro. Ces traités comportaient et une solution intergouvernementale et une amélioration de la coordination des politiques budgétaires.

Chapitre II. Les élargissements de 1973 – 2013 (p. 31-44) étaient peut-être parfois aussi prématurés, mais cela n’est pas la question clé. Les adhésions confirment la force et le pouvoir d’attraction de l’UE qui compte aujourd’hui 508 millions d’habitants .

Chapitre III. Une crise comporte des risques et des pertes mais il y aune autre face de la médaille: L’Europe a connu Une série de crises productives (p. 45-56). Productive car la crise ressemble au pierre de Sisyphe qui en la remontant la colline doit sans cesse relever un défi. Il y en a même des membres comme le Royaume-Uni qui discutent la sortie de l’UE ce qui causerait de coûts énormes au Royaume Uni.

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Wie arbeiten Paris und Berlin zusammen?

Demesmay / Koopmann / Thorel
Die Konsenswerkstatt
Deutsch-französische Kommunikations- und Entscheidungsprozesse in der Europapolitik
Herausgegeben von Claire Demesmay, Martin Koopmann, Julien Thorel
Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2013, 231 S., Broschiert,
ISBN 978-3-8487-0528-3

In den Medien werden die Aktivitäten der deutsch-französischen Kooperation meistens nur genannt, wenn der französische Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin ihre halbjährlichen Treffen haben oder wenn sie sich zu anderen Gelegenheiten begegnen. Sehr oft wird dabei eine künftige engere Zusammenarbeit beschlossen und verkündet. Aber wurde sie auch umgesetzt?

Tatsächlich gibt es eine sehr enge Kooperation zwischen beiden Regierungen, auch auf allen Ebenen der Ministerien, worüber die Öffentlichkeit nur bei bestimmten Anlässen explizit informiert wird. Oft heißt es aus dem Bundeskanzleramt, die Kanzlerin habe sich mit dem Präsidenten abgestimmt, wobei Außenstehende nur ansatzweise vermuten können, wie die Abstimmungsprozesse tatsächlich verlaufen.

Der vorliegende Band, herausgeben von Claire Demesmay, der Programmleiterin Frankreich / Deutsch-französische Beziehungen in der DGAP, Martin Koopmann, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied “Europäischer Dialog” in der Stiftung Gernshagen und Julien Thorel, Enseignant-chercheur à l’Université de Cergy-Pontoise, vereinigt elf Beiträge, mit denen die deutsch-französische Kooperation auf den Feldern der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Außen- und Sicherheitspolitik, der Energie- und Umweltpolitik und schließlich auch unter den Gesichtspunkten Integration und Vertiefung untersucht werden.

In ihrer Einleitung umreißen die Herausgeber den thematischen Rahmen ihres Buches: “Die Institutionalisierung der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich hat einen Grad erreicht, der in der Geschichte der internationalen Beziehungen einzigartig ist.” Der zweite Satz gibt zu verstehen, dass der Wille vorhanden ist, wobei an dieser Stelle noch offengelassen wird, inwieweit er realisiert worden ist: “Sie (die Zusammenarbeit, H.W.) ist Ausdruck des Willens beider Staaten, eine neue Form des Regierens zu schaffen, die im europäischen Mehrebenensystem zwischen der nationalen und der europäischen Ebene angesiedelt ist.”(S. 9) Betont werden hier die Absichten, zugleich wird aber auch das Ziel beschrieben, das, wie wir sehen werden, teilweise realisiert ist, da die “neue Form des Regierens” bereits anhand bestimmter Politikfelder gezeigt werden kann.

Es geht also um die bilateralen Entscheidungsprozesse, bei denen nach dem Élysée-Vertrag von 1963 verschiedene Organisationsformen wie der Blaesheim-Prozess sich entwickelten bis zu der seit 2003 immer stärkeren Verflechtung auf der Ebene der Ministerien.

Bei einer zunehmend intensiven Kooperation bleibt es nicht aus, dass Konflikte und Differenzen (vgl. S. 10 f) auch gelegentlich deutlicher in den Vordergrund treten. Die Herausgeber nennen “Unterschiede in der politischen Kultur und divergierende nationale Interessen” als zwei der Ursachen deutsch-französischer Meinungsunterschiede. Mit Recht weisen die Herausgeber daraufhin, dass “die Mechanismen und Prozesse bilateraler Kompromissfindung” bisher nur ungenügend untersucht wurden. Die Herausgeber wollen, anstatt nur Unterschiede aufzuzählen, das “institutionelle Gefüge der bilateralen Beziehungen und dessen tatsächliche Funktionsweise” analysieren. ( ib.) Das ist der Ansatz dieses Buches, an dem sein Fazit zu messen ist.

Im Kapitel über die Wirtschafts- und Finanzpolitik beschreiben Jean-François Jamet, Franck Lirzin, Joachim Schild und Daniela Schwarzer “Krisenmanagement und Governance Reformen in der Eurozone”. Der Untertitel ihres Beitrags untersucht den gemeinsamen deutsch-französischen Weg seit etwa 2008: “Enge Abstimmung bei divergierenden Lösungsansätzen”. Nationales Interesse, die spezifische Situationsdeutung und Innovationsfähigkeit beeinflussten die Positionen in den bilateralen Verhandlungen, von denen der Erfolg des Managements der Eurokrise in Europa abhängt. Jean-Nicolas Brehon und Robert Kaiser nehmen “Die Vorbereitung der mittelfristigen EZU-Finanzplanung – Ambivalente Rolle des institutionalisierten Bilateralismus” unter die Lupe und zeigen, wie unter dem Druck der Ereignisse und aufgrund des Einigungswillens auch Formen und Strukturen des Zusammenarbeit zugunsten des gemeinsamen Erfolges erfolgreich modifiziert wurden, zugleich geben sie Grenzen zu erkennen, weil die gemeinsamen Prozesse (Blaesheim-Prozess) sich nicht ohne weiteres auf Europa übertragen lassen.

Auf dem Gebiet der Sicherheits- und Außenpolitik bedauern Clare Demesmay und Katrin Sold die “Reaktionen auf den Arabischen Frühling – Kleinster gemeinsamer Nenner statt innovativer Kompromisse”. Hier gibt es Nachholbedarf, und man darf ihren Beitrag als Aufgabenkatalog für ähnliche künftige Situationen verstehen. Stephan Mertens und Julien Thorel untersuchen die “Dissonanzen bei der Union für den Mittelmeerraum – Politische Konflikte und diplomatische Lösungen” und unterstreichen die besondere Rolle des Élysée-Palastes und des Bundeskanzleramtes bei der gemeinsamen Entscheidungen und der Entschärfung von Spannungen in den diplomatischen Kommunikationskanälen. Auch bei der Abstimmung bei einem andern Konflikt, wie Laure Delcour und Elsa Tulmets zeigen: “Die deutsch-französischen Beziehungen im russisch-georgischen Konflikt – Parallel laufende diplomatische Initiativen”, werden gravierende Defizite im Rahmen der deutsch-französischen Kooperation erkennbar: “Schließlich scheinen die deutsch-französischen Kommunikationsmechanismen für internationale Krisensituationen nicht geeignet zu sein…” (S. 117)

Die Energie- und Umweltpolitik ist Anlass für Severin Fischer eine zunächst stärkere aber nach 2008 abnehmende Kooperation (S. 121) zu konstatieren. Das Thema Atomkraft scheint die Konsensbemühungen weiter zu schwächen. Michel Cruciani und Sabine von Oppeln loten in ihrem Beitrag “Deutsch-französische Gegensätze und europäische Kompromisse” aus: Der hohe Grad der Sicherheitsanforderungen beiderseits des Rheins sei den politischen Eliten bewusst, aber hinsichtlich der Grundausrichtung der Energiepolitik gibt es weiterhin erhebliche Gegensätze, die vor allem auf der Arbeitsebene notwendige und wohl auch aussichtsreiche Kompromiss- und Konsensfindungsfähigkeit nach sich ziehen. (vgl. S. 139) Auch bei diesem Themenblock gibt es eine Fallstudie: Stefan C. Aykut und François Michaux analysieren “Die EU-Verordnung zur Verminderung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen Deutschland und Frankreich zwischen Konfrontation und Kooperation”: Sie konstatieren, dass das institutionelle Gefüge der deutsch-französischen Institutionen wie die Botschaften oder der Deutsch-Französische Umweltrat bei der Lösung dieser Frage keine große Rolle gespielt haben. (vgl. S. 157) Erfolg kam vor allem durch vielfältigen Kontakte auf allen Ebenen, eben die personelle Verflechtung zwischen Berlin und Paris. Lena Bendlin untersucht den “Gipfel von Kopenhagen” (2009). Ihr Untertitel “Eine defensive deutsch-französische Partnerschaft” resümiert ihr Fazit.

Als Fazit dieses Bandes dient der vierte Teil: Integration und Vertiefung. Die “Lösung der Verfassungskreise” ging nur gemeinsam: “Vom französischen “Non” zum Vertrag von Lissabon”. Barabara Kunz und Maxime Lefebvre. Interessant mit welcher Behutsamkeit hier die Autoren das Gewicht und die Kooperationsfähigkeit der beiden Partnern in schwierigen Momenten analysieren und gewichten. Dabei fällt wieder auf, wie wichtig und bestimmend immer noch das persönliche Verhältnis von Präsident und Kanzlerin ist. Marion Gaillard und Nele Wissmann sind sich nicht ganz sicher, ob der “Vertrag von Prüm” (2005) wirklich das “Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich” ist. Die Spannungen und Missverständnisse bei diesem Prozess deuten auf Verstimmungen hin, die aber von den Autoren auch wieder als normale Begleiterscheinungen im prinzipiell erfolgreichen deutsch-französischen Dialog gewertet werden. Schließlich untersuchen Clarie Demesmay, Martin Koopmann und Julien Thorel die “Möglichkeiten und Grenzen einer Werkstatt: Perspektiven der institutionellen deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Europapolitik. Ihr Urteil: Ein Befriedigend, aber auch kein Gut. Die beiden Partner verfügen über alle gemeinsamen Voraussetzungen, aber es mangelt in der strategischen gemeinsamen Planung. (vgl. S. 219) Der hohe Grad der gemeinsamen Verflechtung oder “Verzahnung der Institutionen” stößt immer wieder an Grenzen. Der Anpassungsprozess ist nicht immer auf der Höhe der aktuellen Notwendigkeiten. “Beide wissen viel, wollen, sollten viel, sie haben gute Voraussetzungen und müssen sich aber noch viel mehr anstrengen, um ihre gemeinsame Ziele zu erreichen, ” könnte man nach der Lektüre dieses Buches für Berlin und Paris in ihr Zeugnis schreiben.

Heiner Wittmann


Auf dem Frankreich-Blog:                       www.france-blog.info
62 Artikel zum deutsch-französischen Jahr 2012/2013
Angela Merkel und François Hollande gratulieren zum 50. Jahrestag des DFJW / OFAJ
Appell der deutschen und französischen Jugend an die Politik
Appel de la Jeunesse française et allemande aux responsables politiques
Discours du Premier ministre pour les 50 ans de l’Office franco-allemand pour la jeunesse


Die politische und wirtschaftliche Zukunft Europas

Christian de Boissieu, Jean-Hervé Lorenzi,
Et si le soleil se levait à nouveau sur l’Europe ?
Paris Fayard 2013. ISBN 9782213678177

Woher kommt es eigentlich, dass europäische Politik durch die Europäer selbst immer so pessimistisch betrachtet wird? Eurokrise, wirt-schaftliche, politische Krisen. Krisen überall! Aber warum eigentlich? Folgt man den Autoren der Beiträge dieses Bandes, so besteht dazu aufgrund des Reichtums unseres Kontinents nur wenig Anlass: “Il faut résolument dénoncer une vision défaitiste et fausse de l’Europe. Son prétendu déclin n’a rien de définitif, ” steht im ersten Satz auf dem Klappentext dieses Buches. Nichts ist verloren, aber an einigen Ecken müssen wir doch schon ein wenig aufpassen.Im übigen wird nach der Lektüre dieses Bandes deutlich, außer der Euro-Krise gibt es auch an einigen anderen Stellen Anlass zu Sorge, aber nur wenn nichts geschieht. Zuallererst wollen die Autoren dieses Bandes an die Chancen und die Trümpfe unseres Kontinentes erinnern. Und das ist dringend notwendig, da aus der Politik beiderseits des Rheins wenig Visionäres zu Europa kommt. Wir Europäer wuchern nicht mit unsere n Pfründen, sondern klagen auf einen ziemlich hohen Niveau.

Die beiden Herausgeber J.-H. Lorenzi und Ch. de Boissieu bezeichnen ihr Buch als eine Herausforderung, weil ihre Autoren die Europapoliitk gegen den gewohnten Strich bürsten. Es geht nicht um einen Blick zurück, sondern sie präsentieren das Zukunftsprojekt Europa. Besteht man auf einem Rückblick, darf man sich daran erinnern, dass dieser Kontinent die Demokratie erfand, die industriellen Revolutionen lancierte und damit ein Wissen schuf, dass heute mit einer besorgniserregenden Situation fertig werden muss: “Certitudes absurdes, incertititudes profondes, incohérences tragiques et convergences nécessaires,” (S. 11) Absurd: Europäischer Anteil am BSP auf Weltniveau 5 % und damit einen Niedergang Europas als sicher darstellen. Die demographische gibt zu Sorgen Anlass, das muss Europa keineswegs von einem neuem Aufschwung abhalten. Incohérences tragiques: Man sieht den EuroO als Erfolg an und genießt Europa als erste Handlesmacht in der Welt, es gibt aber (noch) keine Regulierungsmechanismen für den Euro und Europa lernt die Haushaltsdisziplin erst langsam. Alle schlagen Lösungen vor, es gibt keine gemeinsamen Visionen. Konvergenz ist das Stichwort, dass die Autoren dieses Bandes dem üblichen europäischen Pessimismus, der für sie keine seriösen Begründung vorweisen kann, entgegensetzen wollen.

Drei Teile: I: Was wäre wenn der “Déclinisme” das Gerede vom europäischen Niedergang ein Irrtum wäre?, II. Und wenn Europa widerstehen würde? und III. Wie wäre es wenn Europa sich eine Zukunft konstruieren würde?

Um es gleich zusagen. Europa hat alle Trümpfe. 28 Mitglieder, viele von ihnen haben eine gemeinsame Währung. Statt auf gemeinsame Perspektiven und Erfolge zu pochen, versuchen die Kritiker nationale Egoismen zu wecken.

Olivier Pastré stellt uns Europa 2025 vor. 2021 haben sich Frankreich und Deutschland vereint. Sein Aufsatz ist ein echter Fahrplan auf dem Weg zu diesem Ziel, das schließlich auch eine wirklich europäische Industriepolitik ermöglicht. (> www.france-blog.info/expertenkommission-das-grundgesetz-in-deutschland-und-die-verfassung-in-frankreich, 1. April 2013) Andrew Moravcsik fragt sich, warum Europa mit einem höheren Einfluß, 2. Militärmacht nach den USA in der Welt als China nicht mehr aus seiner Situation mache. Ordnung und Frieden in Europa machen die Macht seiner Zivilgesellschaft aus, die ihresgleichen in der Welt sucht. Aber die Europäer unterschätzen sich und den Euro, weil ihnen seine Erfolge nicht bewußtgemacht werden.

Anne-Marie Slaughter berichtet über die Beziehungen Europas mit Asien, so wie Manio Shankir Aiyar seinen Beitrag mit “L’Inde, fantasme d’une menace” überschrieben hat. Masahiko Aoki berichtet aus China und Martin Ziguélé zeigt wie Europa aus afrikanischer Sicht gesehen wird: Er setzt auf den Wissenstransfer nach Afrika. Jean Pisani-Ferry erinnert daran, dass Europa schon immer eine Art Forschungsinstitut für die internationalen Beziehungen gewesen sei, in dem es alle nur denkbarne Regierungsformen ausprobiert habe. Europa habe einen Multitlateralismus entwickelt, der sogar dem der USA voraus sei. Außerdem habe sich Europa erfolgreich als globaler Regulierer betätigt, wo internationals Regeln fehlen, (Vgl. S. 81): “Aucun autre pays ou groupement de pays n’est aujourd’hui en mesure de contribuer de la même manière à la constuction de la gouvernance mondiale.” (S. 83)

Patrick Artus dringt auf mehr Wachstumspolitik, da wo sie möglich ist, im Sinne eines Strategiewechsels in der Euro-Zone, die aber möglicherweise nicht eingeleitet wird, weshalb er mit einer Fortsetzung der Zinssatzpolitik rechnet. Auf diese Weise werde die Eurokrise nicht beendet. Pascal Lamy fragt, ob der Euro überbewertet sei? Christian de Boissieu fürchtet strukturelle Defizite, wenn der FMI nicht mehr Kompetenzen erhalte, während Jean-Paul Betgbèze die Schlüsselposition der EZB hervorhebt. Will die Euro-Zone überleben, wird man um die Steuerharmonisierung nicht herumkommen, meint Alain Trannoy. Hervé LeBras erinnert an die demographischen Entwicklungen und ihre Auswirkungen in Frankreich und Deutschland. Thierry Weil et Pierre-Noël Giraud plädieren für eine Industriepolitik und erinnern an den > Rapport Gallois.

Europa muss sich auf den Weg in die Zukunft machen und seine Entwicklung aktiver in die Hand nehmen, seine Trümpfe ausnutzen und sich nicht treiben lassen. Unsere Politiker sprechen von Krisen und verwalten Europa, was ihnen aufgrund unserer vielfältigen Ressourcen gut gelingt. Sie formulieren aber keine Visionen, wo die Reise hingehen soll. Diesen Defiziten setzt Philippe Aghion die Herausforderung einer besseren Bildung in den Hochschulen und im Sekundarbereich entgegen. Diese Ausbildungsstätten sind für ihn der entscheidende Wachstumsfaktor. Philippe Trainar ist der Überzeugung, Europa muss wieder lernen, Risiken auf sich zu nehmen. Jean-Louis Georgelin erinnert an die Notwendigkeit einer koordinierten Verteidigungspolitik in Europa. Aber bisher zögern die Nationen, Souveränitätsrechte abzugeben. Die Globalisierung stellt Europa vor neue Aufgaben, die es mit der aktuellen Situation nicht beantworten kann, zugleich profitiert Europa immer noch vom Atlantischen Bündnis. Auch Hubert Védrine wendet sich mit Nachdruck gegn die Unterbewertung einer einheitlichen europäischen Außenpolitik. Eine entscheidende Perspektive für den in diesem Band geforderten Aufbruch Europas sehen Jacques Mistral und > Henrik Uterwedde im deutsch-französischen Einverständnis. Sie beschreiben in Ihrem Beitrag die gemeinsamen Iinteressen der beiden Staaten wie auch ihre unterschiedlichen Wirtschaftsvorstellungen. Zugleich skizzieren sie auch, wie beide Staaten sich annähern werden: Präsident Hollande unternimmt alles, um das Gleichgewicht der öffentlichen Finanzen wiederzuerlangen, wobei die beiden Autoren sich nicht sicher sind, ob die französischen Anstrengungen in Berlin wirklich verstanden werden. Ihr Urteil über die Maßnahmen der Regierung in Paris führt sie zu der Forderung, dass es jetzt an der Zeit sei, den deutsch-französischen Motor wieder zu starten. (Vgl. S. 230) Kemal Dervis blickt auf die Wahlen zum Eurpopaparlament im Mai 2014: “Gérer la Grande Europe.” Pierre Jaquet (“Renouer avec la ‘grande politique'”) setzte sich für einen Ausgleich zwischen nationalen und internationalen Zielen ein.

Heiner Wittmann

Jacques-Pierre Gougeon, Frankreich – Deutschland

Jacques-Pierre Gougeon,
France-Allemagne. Une union menacée? Paris :
Armand Colin 2012. 216 p.,
ISBN : 978-2200257637

Der Umschlag des Buches von Jacques-Pierre Gougeon, France-Allemagne. Une union menacée? ist mit mehr als nur ein kurzer Blick wert. Betrachten wir die beiden Flaggen, die Trikolore und die Flagge von Deutschland, beide vor dem Hintergrund mit einer eingerissenen europäischen Flagge. Sicher kann man dieses Bild ganz unterschiedliche interpretieren. Wenn wir aufmerksam den Untertitel des Buches lesen, entdecken wir das Wort Union, womit die Europäische Union gemeint ist. Wenn das Einverständnis zwischen Frankreich und Deutschland beeinträchtigt, gestört oder sonst irgendwie beeinträchtigt wird, geht es Europa nicht gut, könnte man hinzufügen. Soweit sind wir noch nicht und der Autor will nicht dramatisieren. Er analysiert die Situation beider Länder hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Leistung und ihres je eigenen Blicks auf die nationale Geschichte. Aber dieser Vergleich zwischen dem wirtschaftlichen Erfolg und der Selbst-Perzeption beider Länder wie ihr Blick über den Rhein zeigen immer mehr die Probleme der Konvergenz.

Ein Blick auf die beiden Länder zusammen zeigt immer mehr den Gegensatz zwischen einem “deutschen Modell”, das die Erfolge der deutschen Wirtschaft beschreibt und dem Gefühl des Niedergangs in Frankreich, das aus einer Reihe von Kennzahlen entsteht, wie der Rückgang der Wettbewerbsfähigung und Strukturproblemen, wie u. a. die deutlich niedrigere Anzahl von mittelständischen Betrieben im Vergleich zu Deutschland, dies zeigt.

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