Rezension: Vincent von Wroblewsky, Vermutlich Deutscher

Diese Geschichte beginnt mit der Geburt ihres Autors in Frankreich. Vincent von Wroblewsky kommt 1939 in Clermont-Ferrand auf die Welt. Seine Eltern waren 1933 nach Frankreich emigriert. Als er 10 Jahre alt ist, kehrt seine Mutter mit ihm und seinem Bruder nach Ostberlin zurück. Von Wroblewsky erlebt die ganze DDR vom Anfang bis zu ihrem Ende mit. Er wird Simultandolmetscher und kann öfters zu internationalen Begegnungen reisen. Er bezeichnet sein Buch als eine “ungehaltene Dankesrede eines zur Freiheit verurteilten, in Frankreich geborenen gottlosen Juden.” Damit klingt auch Sartre an, dessen Übersetzer und Herausgeber er wird. Traugott König (1934-1991) lädt ihn 1987 zu dem Sartre-Kongress in Frankfurt/Main ein: Nach 1990 bis 2005 wird Wroblewsky sein Nachfolger als Herausgeber der Werke Sartres bei Rowohlt: > Alle Bücher von Vincent von Wroblewsky. 1993 wurde die Sartre-Gesellschaft in Deutschland gegründet und von Wroblewsky wurde ihr Präsident, bis ihn jetzt Jens Bonnemann (Jena) in diesem Amt folgte.

Diese Autobiographie ist auch ein Geschichtsbuch. Zuerst die Nachforschungen zu den Großeltern, dann die Flucht der eigenen Eltern nach Frankreich, der frühe Tod seines Vaters und eine Reihe von glücklichen Umständen und auch Zufällen, die das Überleben seiner Mutter mit ihren beiden Söhnen in Frankreich gesichert haben. Im Kinderheim von Toulouse versuchte die Leiterin Golda Meir, die Familie zur Ausreise nach Israel zu bewegen. Es kam anders. 1950 begann für von Wroblewsky seine Zeit in der DDR. Es musste erst mal sich mit der deutschen Sprache vertraut machen, was ihm bestens gelang, am Schuljahresende war er Diktatbester.

Seine exzellentes Französisch sicherte ihm eine Karriere als Dolmetscher. Im Rahmen dieser Aufgabe gelang es ihm, nach dem Abitur für sieben Wochen nach Vietnam zu reisen. Danach begann sein Studium der Romanistik. Und die 120 Jahr-Feier der Universität bot ihm die Gelegenheit, anlässlich einer Konferenz zum Algerienkrieg zum ersten Mal aus einer Kabine heraus simultan zu dolmetschen.

Für seine Westreisen benötigte er Visa und weil die DDR nicht anerkannt war, musste er beim Alliierten Kontrollrat in Westberlin einen Pass beantragen: PRESUMED GERMAN stand darin. In Italien hörte er am 13. August von der Abriegelung der DDR, wieder so eine Maßnahme wie schon 1957 dachte er sich und konnte noch nicht ahnen, dass die Mauer bis 1989 die deutsche Teilung zementieren würde. Dennoch gelingt es ihm immer wieder, als Dolmetscher ins Ausland und auch nach Frankreich zu reisen, dabei berichtet er vieles über das DDR-Regime. Die Stasi wird auf ihn aufmerksam und beobachtet seine “sogenannten Diskussionsparties” (S. 101): “Die Stasi überschätzte maßlos meine Gefährlichkeit und meine Willen, Partei und Regierung vom Sockel ihrer macht zu stürzen.” Studium, Auslandseinsätze und die Diktatur in der DDR, das ist das Beziehungsgeflecht, in dem er sich nun bewegte: Studieren, kritisch denken zu lernen und die Beschlüsse der SED einfach hinzunehmen, ohne viele Fragen zu stellen: “War die von uns erwartete Normalität nicht Schizophrenie? Nein, wir konnten uns nicht vorstellen, wie krank diese Partei und Regierung sein mussten, wie sehr sie um ihre Herrschaft fürchteten, um mit einem riesigen Apparat Feinde zu überführen, die sie sich weitgehend in ihrer Fantasie selbst schufen.” (S. 102) Glücklicherweise entschied sich die Stasi nach langer Observation, ein “E-Verfahren” nicht einzuleiten, aber die erhaltenen Unterlagen, die von Wroblewsky nach der Wende einsehen konnte, ermöglichen sehr erhellende Einblicke in die Funktionsweisen des DDR-Regimes.

Auf der Weltfriedenskonferenz in Helsinki 1965 saß dann von Wroblewsky gegenüber von Sartre. Wieder kam es durch einen dummen Zufall nicht zu einem direkten Gespräch mit dem französischen Philosophen. Eine verpasste Chance, notiert von Wroblewsky.

in den Jahren nach dem Studium beschriebt er, wie er immer mal wieder seine Dolmetscherfähigkeiten bei Auslandsreisen einsetzen kann. Und ständig denkt er dabei über sein Verhältnis zur DDR nach: “Meine Naivität lag vermutlich auch darin, dass ich mich nicht hinreichend daran gewöhnt hatte, das Nicht-Normale, das in der DDR das Normale war als das Normale zu betrachten.” (s. 137) Einer der drei Gutachter seiner Dissertation war der IMS (Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung und Durchdringung eines Verantwortungsbereiches) “Klee” (S. 153), als dieser 1984-1986 die DDR-Delegation bei der UNO Menschenrechtskonferenz in Genf leitete, bewarb er sich als Vorsitzender der UN-Menschenrechtskommission, was den Vertreter Israels dazu veranlasste die  NSDAP-Nitgliedsnummer des IMS vorzulesen.

Wroblewsky bekam in Frankreich Kontakt mit dem DST (Direction de surveillance du territoire, der polizeiliche Inlandsnachrichtendienst), der sich für ihn interessierte… wegen dieses Kontakts bekam er dann in der DDR keine Ausreisevisa mehr… wieder ein Hinweis auf die Angst der DDR-Behörden, er könnte ihnen gefährlich werden. Aber man ließ ihn ins sozialistische Ausland reisen, so nach Kuba, wo er an der Revision des Philosophischen Wörterbuchs mehrmals mehrere Wochen mitarbeiten und dabei in dem berühmten Hotel Nacional auf den Spuren von Sartre und de Beauvoir logieren konnte.

In gewisser Form war es auch die Beschäftigung mit den Werken Sartres, seinen Definitionen von Situation, Freiheit, Wahl, Engagement und Verantwortung und Unaufrichtigkeit, die von Wroblewsky nicht nur begleiteten, sondern ihm auch das Überleben in der DDR sicherten. Ohne Zweifel haben oft Zufälle und Glück ihm in entscheidenden Situationen geholfen, aber er hat sich auch ganz bewusst sich für bestimmte Wege entschieden, ist seinen Grundsätzen treu geblieben. Und er hat schnell gelernt, mit dem Regime der DDR so umzugehen, dass er sich seine Freiräume sichern konnte. Und genauso wie die Positionen Sartres ihn beeindruckt haben, so gewann er durch seine Situation in der DDR eine Sichtweise auf Sartre, man denke nur an das Gutachten, dass er 1987 für die SED schrieb, als es um die Frage ging, ob Sartre in der DDR veröffentlicht werden dürfe, die in zu einem exzellenten Kenner seines Gesamtwerkes machte.

Vincent von Wroblewsky
> Vermutlich Deutscher
Gifkendorf: Merlin 2023
239 Seiten
ISBN 978-3-87536-340-1

Biblio/Sitographie:

Sartre Gesellschaft in Deutschland: www.sartre-gesellschaft.de

Alfred Beschart, Jean-Paul Sartre – The Website > www.sartre.ch

Zum Herunterladen im Format *.mp3: > Jean-Paul Sartre zum 40. Todestag. Zur Freiheit verurteilt
Vincent von Wroblewsky im Gespräch mit Simone Miller · Deutschlandfunk Kultur 12.04.2020

Wittmann, H., Lesebericht: Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage – www.france-blog.info – 26. November 2019

Sartre im Französischunterricht – 8. Januar 2020

Jean-Paul Sartre (1905-1980) – 15. April 2020

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Landesmedienzentrum Baden-Württemberg

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Do, 24.09.2020, 17.00 – 18.00 Uhr
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