Michel Onfray,
L’ordre libertaire.
La vie philosophique d’Albert Camus
Paris: Flammarion, 2012.
ISBN : 978-2-0812-6441-0
Der Titel dieses Buches zeigt unmissverständlich die Position, die der Autor dieses Buches vehement vertritt. Er ist überzeugt, dass Albert Camus als ein Philosoph zu gelten hat. Diese Auffassung duldet keinen Widerspruch.
Ganz ohne Zweifel denkt Camus auf grundlegende Weise über das Leben und die wesentliche Begriffe der menschlichen Existenz nach und bezieht sich dabei auf eine ganze Reihe von Prinzipien, wie die Ablehnung jedweder Ungerechtigkeit und jeder Form von Gewalt. Dennoch legt sein Werk mit den Novellen, Romanen und theoretischen Schriften kein wirkliches philosophisches System vor, wenn auch seine Werke eng miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind.
Der preußische Hegel und der dänische Kierkegaard. Onfrays Unterscheidung der philosophischen Haupströmungen ist ganz einfach. Camus ähnle dem dänischen Philosphen, ein Zweifel ist nicht erlaubt : indem er daran erinnert, er sei kein Philosoph, « il illustre à merveille la tradition de la philosophie française », erklärt Onfray. Er ist ein existentieller Philosoph, fügt sein Biograph hinzu.
Sartre befinde sich mit seinem Hauptwerk L’Être et le néant auf der anderen Seiten, auf der preußischen Seite: « Camus, la ligne claire, contre Sartre, le trait obscur. » (S. 13) Das ist es also: Der Gegensatz zu Sartre wird zum Leitgedanken für diese Biographie!
Ein Absatz des ersten Kapitels verlangt unsere ganze Aufmerksamkeit. 1950 erinnert Camus daran, dass das Absurde nicht Verzweiflung bedeutet, es gehe vielmehr um den Beginn eines positiven Lebens. Und Onfray will nicht, dass man Camus einen Philosoph des Absurden nennt: « Il n’est pas le philosophe existentialiste accablé par le non-sens du monde, mais le penseur du réel déserté, dans, par et pour la révolte. » (S. 16 f.) Absurdität und Revolte, diese Dialektik genügt aber nicht, um den wesentlichen Teil des Denkens Camus’ zu beschreiben. Man muss sich fragen, wie Camus es in seinem gesamten Werk immer wieder gemacht hat, wer die Revolte anführt. Man muss gar nicht lange suchen, genügt es doch Le Mythe de Sisyphe und L’Homme révolté nochmal genau zu lesen, um dort die Kunst, die Unabhängigkeit des Menschen und seine Freiheit in einer Welt zu entdecken, die “vernunftwidrig schweigt”. Das Absurde ist für Camus eine Art Diagnose. Danach erst kommte es zur Revolte. Diese Feststellung genügt aber nicht, um das Denken von Camus wirklich zu verstehen. Es fehlt ein Glied in der Kette. Es ist die Kunst, die sein Gesamtwerk ständig begleitet, die in dieser Biographie merkwürdig abwesend ist. « Le monde absurde ne reçoit qu’une justification esthétique », notiert Camus in Carnets II.
Onfray resumiert L’Étranger, aber er vernachlässigt wesentliche Passagen der beiden Hauptwerke. Er sucht dort Zitate, um seine Thesen zu stützen. Die langen Kapitel, die Camus in Le mythe de Sisyphe und in L’homme révolté dem Künstler und der Kunst widmet, werden offenkundig nur oberflächlich oder gar nicht gelesen. Nur auf vier Seiten erwähnt Onfray den « Le philosophe artiste » (S. 91-95), ohne den wesentlichen Sinn der ästhetischen Reflexionen Camus’ zu nennen.
Kunst und Freiheit, Engagement und Verantwortung, die Antworten von Camus und Sartre zeigten, dass ihre humanistischen Konzeptionen auf gleicher Wellenlänge sind, ohne dass dadurch ihre Unterschiede hinsichtlich politischer Unterschiede verdeckt werden. Spricht man heute von Sartre und Camus, wird immer noch auch gleich ihr Streit von 1952 erwähnt. Aber wenn man die Werke Sartres wieder liest, besonders das Porträt von Roquentin, dann die Studien, die er Baudelaire, Genet, Mallarmé, Tintoretto oder Flaubert, gewidmet hat, wird man dann doch nicht über so viel Lust ohne Grenzen, den Menschen besser verstehen zu wollen, staunen, die ich als den Humanismus von Sartre bezeichnen würde?
Soviele Schriften aus seiner Feder, alle Irrtümer miteingeschlossen. Wenn man seine theoretischen Werke berücksichtigt und sie nicht nur als obskur abtut, dann stehen wir vor einem Philosophen. L’Être et le néant ist ein faszinierendes Traktat, in dem er versucht, die Freiheit eines Menschen mit all ihren Konsequenzen zu definieren. La Critique de la raison dialectique geht nicht von einer vorgefassten Idee aus; es handelt sich um eine offene Untersuchung, die eine Lösung sucht. Es ist nicht erstaunlich, dass beide Werke unvollendet sind.
Im Gegensatz dazu ist L’Homme révolté das Werk eines Autors, der eine ganze bestimmte Idee vorstellt und sie mit Beweisen aus der Literatur und der Kunstgeschichte zu belegen sucht. Man muss diesem Autor genau Schritt für Schritt folgen, um den Kern und die Konzeption seines Werkes zu verstehen.
Was den Leser dieser Biographie irritieren könnte, ist Onfrays Versuch, mit allen Mitteln die Idee zu verteidigen, Camus sei ein Philosoph. Er liest die Werk Camus’ unter einem bestimmten Blickwinkel, zitiert die dafür passenden Passagen, und es gelingt ihm , einen originellen Denker, einen philosphischen Essayisten zu präsentieren, der sehr wohl seine Freiheit gegen die Attacken seiner ideologischen Gegner zu verteidigen weiß. Dieses Vorgehen versäumt die Chance, uns zu zeigen, was für ein exzellenter Schriftsteller Camus ist. Die Unterscheidung zwischen klar (Camus) und obskur (Sartre) im ersten Kapitel trägt zu dieser Erkenntnis nicht viel bei.
Die Hartnäckigkeit, mit der Onfray die Idee eines Philospophen Camus vertritt, ist nicht ohne Risiko. Wenn er auch erklärt, man müsse das Werk Camus’ lesen, so hat er es nur teilweise gelesen. Er beschränkt sich auf die Texte, die ihm erlauben, Belege für seine Thesen zu finden, um vor allem Sartre widersprechen zu können.
Politisch und ideologisch unterscheiden sich Sartre und Camus. Daran gibt es keine Zweifel. Aber beide Autoren verteidigen die Freiheit und die Schöpfung. Sie haben unterschiedliche Konzeptionen, aber sieht nur den einfachen Gegensatz zwischen beiden, übersieht man, dass sie sich beide für die bedingungslose Freiheit des Menschen einsetzen, die sie als eine Voraussetzung für die Kunst in allen ihren Ausdrucksformen verstehen. Reduziert man ihre Werke nur auf die ideologischen Kämpfe, dann übergeht und widerspricht man dem Humanismus und der Freiheit die beide mit und in ihren Werke auf unmissverständliche Weise einfordern.
Heiner Wittmann