Schönherr-Mann, Sartre. Philosophie als Lebensform

Hans-Martin Schönherr-Mann,
Sartre. Philosophie als Lebensform,
C. H. Beck, München 2005. ISBN 3-406-51138-4.

Die Einführung, die Schönherr-Mann in das Werk Sartres anlässlich seines 100. Geburtstags vorgelegt hat, konzentriert sich auf die Entwicklung des Existentialismus und dessen Verhältnis zum Marxismus. In den ersten drei Kapiteln entwickelt der Autor die Grundlagen von Das Sein und das Nichts (1943) und vor allem die Entwicklung seines Freiheitsbegriffs. Er zeigt, wie Sartre mit dem Bezug auf Husserls Phänomenologie und in Abgrenzung zu Descartes eine Definition des Bewusstseins entwickelt, das immer ein Bewußtsein von etwas ist (S. 32), und gleichzeitig von der Existenz zu unterscheiden ist, in dem Sinne, wie das Bewusstsein über diese Existenz hinausweist, also die eigene Situation überschreiten kann. Schönherr-Mann stellt die Entstehung von Das Sein und das Nichts in einen Zusammenhang mit Sartres Kriegserlebnissen, der Besatzungszeit in Paris und erklärt die Bezüge zu den Werken, die seinem philosophischen Hauptwerk vorausgingen, wie La Nausée (1938) und folgten wie seine Theaterstücke und der Romanzyklus Die Wege der Freiheit.

 

Die Freiheit ist gemäß der bekannten Formulierung, der Mensch ist zur Freiheit verurteilt, auch selber ein Zwang; sie ist eine schwierige und riskante Herausforderung, der wir aber nicht entgehen.” (S. 58) Die Freiheit beschreibt die menschliche Realität, die Sartre mit dem Begriff der Situation kennzeichnet, die er mit dem projet des Menschen, mit seinem Entwurf verbindet. .

In den folgenden Kapiteln entwickelt Schönherr-Mann jeweils einen der Grundbegriffe der Sartreschen Philosophie, wie die mauvaise foi, die Verantwortung und das Engagement, die er einzeln untersucht und deren Entwicklung im Werk Sartres er in einen Zusammenhang mit dessen politischen Engagement stellt. Schönherr-Mann entscheidet sich gegen Traugott König, der von der Unaufrichtigkeit sprach, dafür die mauvaise foi mit dem verdrehten Bewusstsein zu übersetzen und begründet dies mit der Verdrehung der Freiheit (S. 79), wodurch er im Gegensatz zum Freudschen Unbewußten die absichtliche Verdrehung von Fakten und das Umdefinieren von Faktizitäten verstehen möchte. Der Autor versucht so, Sartres Absicht, Freuds Theorie vom Unbewussten abzulehnen, wiederzugeben, wobei aber zu bedenken ist, dass so eine Aspekt dieses Begriffs möglicherweise unterschätzt wird: “Das wahre Problem der Unaufrichtigkeit kommt evidentermaßen daher, daß die Unaufrichtigkeit [mauvaise foi] ein Glaube [foi] sei.” (Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 154) und nicht unbedingt eine Lüge sondern ein “Seinsmodus”( ib. S. 156) ist. Diese Unterscheidung ist wichtig, da Sartre auf dieser Grundlage, nämlich eines Bewusstseins, das etwas ist, was es nicht ist und gleichzeitig nicht das ist, was es ist, die permanente Versuchung der Unaufrichtigkeit aufdeckt, und damit das Bewusstsein selbst untersuchen will, “… das nicht Totalität des menschlichen Seins ist, sondern der instantane Kern dieses Seins.” (ib. S. 160)

Das Engagement stellt Schönherr-Mann mit dem Begriff der littérature engagée in den von Sartre gemeinten Zusammenhang mit der Rezeptionsästhetik, die dem Leser am Entstehungsprozeß des Werkes beteiligt. Allerdings kommt in diesem Kapitel der Gedanke, daß ein Schriftsteller sich nicht ausdrücklich mit einem bestimmten Werk engagieren kann, etwas zu kurz, denn er ist immer engagiert, das heißt, er kann der Verantwortung für seine Werke nicht ausweichen. Andererseits weist Schönherr-Mann auch in seinen anderen Kapiteln sehr wohl auf die Bedeutung der Verantwortung gerade in der Verbindung mit dem Sartreschen Konzept der Freiheit ausdrücklich hin. Sartres Behauptung, die Wörter seien sein Abschied von der Literatur gewesen, darf, so wie Bernard-Henri Lévy dies getan hat, und Schönherr-Mann zitiert ihn, nicht überbewertet werden. Die monumentale Flaubert-Studie ist der beste Beweis dafür, daß ihn die Literatur sehr wohl weiter beschäftigt hat.

Seine Flaubert-Studie ist, wie es in ihrem Vorwort steht, die Fortsetzung von Questions de méthode, einem Artikel der zunächst 1957 in einer polnischen Zeitschrift erschien und dann in überarbeiteter Form im gleichen Jahr in Les Temps modernes, in dem Sartre die Zusammenhänge zwischen dem Existentialismus und dem Marxismus untersucht. Die Kritik, die Sartre in diesem Aufsatz, der 1960 wieder zu Beginn der Kritik der dialektischen Vernunft erscheint, am Marxismus äußert, erlaubt es nicht, vorbehaltlos von seinem “marxistisch orientierte[m] Denken” zu sprechen. Seine Kritik am Marxismus in seiner damaligen Praxis ist so deutlich, daß eine Verbindung zwischen Der Idiot der Familie und der Kritik der dialektischen Vernunft allenfalls auf der Ebene einer Kritik an der Dialektik selbst zu erkennen ist. Im übrigen übersieht Schönherr-Mann Sartres deutliche Reserviertheit gegenüber dem Stalinismus oder dem Kommunismus sowjetischer Prägung. Er zitiert den von Sartre und Merleau-Ponty zusammen unterzeichneten Artikels “Les jours de notre vie”, der 1950 in Les Temps modernes erschien, in der es heißt, daß die UdSSR sich im Gleichgewicht der Kräfte auf der Seite derer befinden würden, die gegen die uns bekannten Ausbeutungsformen kämpfen würden. (S. 137) Die Schlußfolgerung auf eine Zurückhaltung Sartres hinsichtlich einer Kritik am sowjetischen Lagersystem kann durch den Zusammenhang nicht gerechtfertigt werden. Sartre fügt an dieser Stelle hinzu: Die Dekadenz des russischen Kommunismus könne die marxistische Kritik nicht ungültig machen, und man müsse keine Nachsicht gegenüber dem Kommunismus zeigen, das heißt aber auch nicht, daß man sich mit seinen Gegnern verbinden könne. (Cf. Sartre, Merlau-Ponty, Les jours de notre vie, in: TM, Nr. 51, 1950, S. 1162 f). Im diesem Artikel heißt es u.a.: “A moins d’être illuminé, on admettra que ces faits remettent entièrement en question la signification du système russe.” (ib. S. 1154) und “… il n’y a pas de socialisme, quand un citoyen sur vingt est au camp.” (ib, S. 1155) und “En regardant vers l’origine du système concentrationnaire, nous mesurons l’illusion des communistes d’aujourd’hui.” (ib. S. 1160) Sartres Wegbegleitung der KPF von 1951-1956 hat ihn zu keiner Zeit dazu veranlaßt, seine Prinzipien und Konzepte hinsichtlich der Freiheit des Menschen aufzugeben.

Sein 1970 in einem Interview geäußertes Erstaunen, (cf. Sartre par Sartre, in: ders., Situations, IX, S. 101 f.) darüber , daß er geschrieben habe, der Mensch sei immer frei, zu entscheiden, ob er ein Verräter oder nicht sein werde, wird von Schönherr-Mann mit der Frage verbunden, ob er mit seinem marxistischen Engagement die Freiheit aufgegeben habe? Eine unmittelbare Antwort gibt er nicht, aber beim Leser bleibt vielleicht ein bestimmter Eindruck von diesem Interview haften. Man muß Sartres ganze Antwort lesen, in der er ganz unmarxistisch wiederholt, daß jeder immer dafür verantwortlich sei, was man aus ihm gemacht habe, denn jeder Mensch könne immer etwas aus dem machen, wozu man ihn gemacht habe. Dies sei die Definition, die er jetzt der Freiheit geben würde.

“Philosophie als Lebensform” heißt der Untertitel des hier besprochenen Buches, in dem Autor im letzten Kapitel sein Ergebnis vorlegt: “… Sartres Existentialismus zeigt den Menschen ihre Freiheit und Selbstverantwortlichkeit sowie den Reflexionszwang, um ihr Leben selber zu gestalten.” (S. 158)

Mit diesem Band ist dem Autor eine interessante Darstellung gelungen, die aufgrund einer geschickten Auswahl verschiedener Konzepte die Entwicklung des Denkens Sartres sowie seine festen Bezugspunkte in einen Zusammenhang mit seiner Zeitgeschichte bringt.

Heiner Wittmann

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Ronald Aronson, Camus & Sartre, Amitié et combat

Ronald Aronson, Camus & Sartre, Amitié et combat, übers. v. D. B. Roche, D. Letellier, Alvik Editions, Paris 2005. ISBN 2-914833-28-8 

Über den Streit zwischen Camus und Sartre, der der sich an der Ideologiekritik in L’homme révolté (1951) entzündete und nach einem öffentlichen Schlagabtausch in Les Temps modernes zum vollständigen Bruch zwischen beiden führte, ist immer wieder berichtet worden. 1)

Jetzt ist die französische Übersetzung der Untersuchung (2004) erschienen, mit der Ronald Aronson die Beziehungen zwischen Jean-Paul Sartre und Albert Camus zwischen ihrem ersten Zusammentreffen von 1943 und dem Bruch von 1952 eingehend analysiert. Mit einem Abstand von 50 Jahren, so der Autor, liegen jetzt genügend Dokumente vor, die eine Untersuchung dessen erlauben, was sich zwischen beiden zugetragen hat. Ihre Beziehung wurde so eng, daß schließlich auch ihre Werke Antworten auf Fragen formulierten, die sich beide stellten. Es ergaben sich aber dennoch Differenzen, die Aronson im Vorwort ankündigt, und die schließlich zu ihrem Zerwürfnis führten. Es kommt also darauf an, zu ermitteln, zu welchem Zeitpunkt und aufgrund welcher Themen oder Ereignisse ihre Meinungsverschiedenheiten erkennbar wurden. Der Kalte Krieg und seine Auswirkungen, so lautet Aronsons Erklärung, habe lange Zeit einer Aufarbeitung ihrer Geschichte im Wege gestanden, da ihre Interpreten immer wieder versucht waren, sich für die eine oder die andere Seite zu entscheiden. (Cf. S. 11, 15 )

Nach dem Ende des Kalten Krieges kann nun das historische Verdikt, dass Camus’ Ideen als einen Irrtum bezeichnete, umgedreht werden, um nun seine politische tadellose Klarsicht zu hervorzuheben. Mit dieser Auffassung entsteht ein methodisches Problem, das den Ansatz dieser Untersuchung betrifft. Muß Camus’ L’homme révolté unter dem Eindruck der Beurteilung seiner Gegner und damit entsprechend den Spezifika seiner Zeit gelesen werden, um den Streit von 1952 in seiner ganzen Tragweite verstehen zu können? Mit diesen beiden Fragen, die den Beginn ihres Disputs und die Interpretation von L’homme révolté und der daraus erkennbaren Bedeutung für ihren Streit betreffen, soll die vorliegende Untersuchung geprüft werden.

Aronson glaubt nicht daran, daß der Bruch zwischen beiden durch ihre Auffassungen von Anfang an vorherbestimmt gewesen sei, sondern vielmehr der Kalte Krieg habe ihre zunächst guten Beziehungen getrübt und schließlich scheitern lassen. Aronson möchte sich nicht auf die vorhandenen Biographien beider und Zeugnissen andere verlassen, sondern er will sich auf ihre Werke konzentrieren und so die Bezugspunkte finden, die sich auf das Werk des jeweils anderen beziehen.

Camus rezensiert 1938 La nausée (Camus, Essais, Paris 1965, S. 1417-1419) und Sartre rezensiert seinerseits 1942 L’étranger (Sartre, Situations, I, Paris 1947, S. 120-147). Aronson zeigt die Zusammenhänge zwischen diesen Texten der beiden Rezensenten. Wenn auch Sartre bald der Bekanntere von beiden ist, so ist der doch von Camus’ Engagement überrascht. “Sartre et tout à fait étranger au pragmatisme de l’action.” (S. 40) erklärt Aronson und erinnert an die immer mal wieder von einigen Autoren geäußerte Verwunderung über Sartres späte Entdeckung der Politik. In der ersten Jahreshälfte 1944, so Aronson, wird Camus, der Chefredakteur der Zeitung Combat ist, zum Mentor Sartres. Die Politik, die beide 1952 trennen wird, hat auch beide zusammengeführt, so lautet Aronsons These. Wenn auch beiden gewisse Grenzen der Übereinstimmung bewußt waren, so wurde doch Camus zu einem der engsten Freunde Sartres.

Der Text, der Sartres Engagement auslöste oder zumindest mitbestimmte, soll Camus’ Roman La peste (1947) gewesen sein. Aronsons Analyse, wie beide Ihre Ansichten austauschen und gemeinsame Berührungspunkte beibehalten, widerspricht der späteren Darstellung von Simone de Beauvoir, die in den Cérémonies d’adieux behauptete, Camus habe mit dem Existentialismus nichts gemein gehabt. Hier wird beispielhaft der Vorteil von Aronsons Ansatz deutlich, die vorhandenen Werke und Schriften der beiden Autoren genau zu lesen und sich nicht nur auf damalige oder spätere Meinungen und Aussagen zu verlassen. Die zunehmende Politisierung Sartres entwickelt sich parallel zu der Camus’ aber manchmal auch in umgekehrter Richtung. Damit deutet der Autor Sartre Verhältnis zur Kommunistischen Partei an, das die Qualität ihrer Beziehung bald beeinflussen sollte. Ihre Haltungen zur Geschichte lassen weitere Indizien erkennen, die ihre unterschiedlichen Auffassungen andeuten. Die präzise Untersuchung ihrer Texte, die nach der Befreiung entstanden sind, bietet dafür interessante Nachweise. Gerade in bezug auf die Begründung der Freiheit, in deren Rahmen Sartre, so der Autor, seine eher unhistorischen Begriffe der Situation und der absoluten Freiheit zumindest bis zum zweiten Band der Critique de la raison dialectique nicht mit den Realitäten der Menschen in Verbindung bringt, möchte Aronson deutliche Unterschiede zwischen beiden erkennen.

Aronson hält sich an den eingangs versprochenen Vergleich der Texte der beiden Autoren, führt aber immer wieder Äußerungen wie z.B. von Simone de Beauvoir an, erklärt aber auch, welche Details sie aus mehr oder weniger offenkundigen Gründen ausläßt (S. 110), und er beschreibt die Rollen von Merleau-Ponty und Arthur Koestler. Aronson zeigt auch, daß Camus Sartre nicht genau liest und beschreibt, wie es zu unterschiedlichen Interpretationen des Geschichtsbegriffs bei beiden kommt. Die Übereinkunft zwischen Sartre und Camus, daß das Kapitel über Nietzsche aus L’homme révolté in Les Temps modernes veröffentlicht werden soll, zeigt, daß beide von dem herannahenden Gewitter noch nicht so recht etwas ahnen. Nach dem Erscheinen des Buches (1951) kommt es 1952 zum Bruch zwischen beiden, der von der heftigen Ideologiekritik Camus, seine Ablehnung des Kommunismus, und Sartres heftiger Reaktion als Antwort auf Camus Klagen wegen der Rezension aus der Feder Francis Jeansons sich vollzieht: Aronsons Satz “On a vu devenir Sartre un révolutionnaire, Camus devenir un homme révolté.” (S. 191) läßt noch ein wenig die Absicht erkennen, doch ein Lager wählen zu wollen, die Aronson zu Beginn des Kapitels allen Interpreten von L’homme révolté zuschrieb. 2)

Beide hätten, so Aronson, in den Monaten nach dem Ende ihrer Freundschaft wenig geschrieben.- Camus veröffentlicht 1954 die Novellensammlung L’été, deren Themen seine Grundüberzeugungen Revue passieren lassen und er schreibt mehrere wichtige Texte über die Aufgaben des Künstlers -. Sartre veröffentlicht die Artikelserie Les communistes et la paix. 1956 erscheint La Chute, mit dem Camus sogleich einen beachtlichen Erfolg erzielt. Aronson liest diesen Roman als eine Antwort auf die Vorwürfe, die Sartre 1952 an Camus gerichtet hatte. 1975 erwähnte Sartre in einem Interview das Zerwürfnis mit Camus, erklärte daß er sich gegen den Brief Camus’, der mit den Worten “Monsieur le Directeur” begann, gewandt habe. Aber, er fügt auch hinzu: Camus sei vielleicht der letzte gute Freund gewesen.

Aronson zeigt in überzeugender Weise, wie es aufgrund der Zeitumstände und der unterschiedlichen Geschichtsauffassungen Sartre und Camus’ zu ihrem Streit kam, der das Ende ihrer Freundschaft besiegelte. Er zeigt aber auch, daß der Streit an beiden nicht spurlos vorbeigegangen ist und wie ihre späteren Werke immer wieder von diesem Streit geprägt sind. Nach Camus’ Tod hat Sartre in seinem Nachruf auf die Nähe Camus’ zu den französischen Moralisten hingewiesen. Er ordnete Camus in die lange Reihe der Erben der Moralisten ein , deren Werke das repräsentieren, was zum Ursprünglichsten der französischen Literatur gehöre. Und Camus habe durch die Hartnäckigkeit seiner Verweigerungen gegen die Machiavellisten und das goldene Kalb des Realismus die Existenz der Moral bestätigt.

Heiner Wittmann

www.logosjournal.com/issue_4.1/aronson_postel.htm:
Camus, Sartre, and Us: The Story of a Friendship and the Quarrel That Ended It
An Interview with Ron Aronson
With Danny Postel

1) Cf. u.a. : C. Kuhn, “Monsieur le Directeur”, “Mon cher Camus”. Die Anatomie eines Bruchs, in: B. Wilczeck, Hrsg., Paris 1944-1962. Dichter und Denker auf der Straße, Bühl-Moos 1994, S. 93-102;
H. Wittmann, Albert Camus. Kunst und Moral, Kapitel V: Albert Camus und Jean-Paul Sartre, Frankfurt/M. 2001, bsds. S. S. 94-98.
2) Cf. H.Wittmann, Sartre und die Kunst. Die Porträtstudien von Tintoretto bis Flaubert, Tübingen 1996, S. 73-88: Die Kritik am Marxismus.

Sartre und Foucault


Thomas R. Flynn, Sartre, Foucaul, and Historical Reason. Volume Two. A Poststructuralist Mapping of History, The University of Chicago Press, Chicago, London 2005. ISBN (paper) 0-226-25471-2

Sartre, Foucault und die Geschichte

Dieser kürzlich erschienene Band folgt dem ersten Band “Toward an Exististentialist Theory of History”. Der Autor beabsichtigt eine Rekonstruktion des philosophischen Geschichtsansatzes von Foucault zu unternehmen. In dieser zweibändigen Studie sollen die Geschichtstheorien zweier führender französischer Intellektuellen untersucht werden. Flynn verspricht sich durch diesen Vergleich weiterführende Erkenntnisse vor allem, weil beide sich kannten, aber die Methoden und Konzepten des jeweils anderen rundherum ablehnten. In diesem zweiten Band werden zuerst die Grundlagen des Foucaultschen Ansatzes untersucht, der er in einem zweiten Schritt mit Sartre verglichen wird. In der Einleitung erklärt Flynn detailliert den Aufbau seiner Untersuchung. Das 1.Kapitel führt den Leser in das Denken Foucaults ein und legt drei Abschnitte seines Denkens dar: der archäologische, der genealogische und der problematische Ansatz. Im 2. und 3. Kapitel wird sein Bezug auf die Ereignisgeschichte und sein Nominalismus untersucht, der ihn dazu führt “Macht” an sich in Frage zu stellen und sich auf individuelle Aktionen zu konzentrieren. Es folgen zwei Kapitel, in denen er Autor einzelne Schriften Foucaults analysiert. Im 2. Teil des Buches wird das Werk Foucaults der Dialektik Sartres gegenübergestellt. Auf diese Wei-se wird z.B. das Konzept des “vécu” von Sartre mit dem Foucaultschen Ausdruck der Erfahrung verglichen.

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Sartres Theaterstücke

Benedict O’Donohoe
Sartre’s Theatre: Acts for Life
Modern French Identities, hrsg. v. P. Collier, Vol. 34
Peter Lang, Bern 2005. 301 Seiten.
ISBN 3-03910-280-X

Rechtzeitig zur Neuausgabe der Theaterstücke Sartres in der Pléiade bei Gallimard hat Benedict O’Donohoe, der Präsident der britischen Society for Sartrean Studies und Herausgeber der Zeitschrift Sartre Studies international eine Studie vorgelegt, in der alle Stücke von Bariona (1940

 

In jeder dieser Analysen wird jeweils die Entstehung des Stücks im Zusammenhang mit Sartres Biographie und seinen Werken sowie hinsichtlich ihrer damaligen Rezeption dargestellt. O’Donohoe wehrt sich gegen oft vorherrschende Urteile, die vor allem einen Pessimismus und Nihilismus in den Sartreschen Stücken erkennen wollen. Sartre geht es nicht einfach um Gewalt oder Chaos, sondern er will Protagonisten auf die Bühne bringen, die den Wert des Lebens bestätigen, indem sie das eigene Leben in Gefahr bringen oder es sogar verlieren. Dieser Ansatz korrespondiert mit Sartres eigener Aussage: “Man stürze Menschen in solche allgemeinen extremen Situationen, die ihnen nur zwei Auswege offen lassen, man sorge dafür, daß sie mit ihrer Wahl des Ausweges sich selber wählen, dann hat man gewonnen, das Stück ist gut.” (Sartre, Für ein Situationstheater [November 1947], in: ders., Mythos und Realität des Theaters, übers. v. K. Völker, Reinbek 1979, S. 46) Die beiden vom Autor hinsichtlich des Todesgedanken angeführten Parallelen zu Baudelaire und Jean Genet sollen einen Zusammenhang zwischen seinen Künstlerstudien und seinem Theater herstellen: In dem einen Fall ist es die Umgehung des Selbstmordes, um im Fall Baudelaires den Dichter als Überlebenden darzustellen, und in dem anderen Fall ist es Genets Reaktion auf die Bestimmung als Dieb, also vor allem für andere etwas anderes werden, als das was man ist. Diese Überlegungen führen den Autor zu dem hier bereits zitierten Text Sartres über das Situationstheater, der tatsächlich seine Theaterästhetik in vorzüglicher Weise auf den Punkt bringt: In Grenzsituationen “…offenbart sich die Freiheit auf ihrer höchsten Stufe, da sie ja bereit ist, sich zugrunde zu richten, um sich behaupten zu können.” (Sartre, ib.) Die folgenden Analysen der Theaterstücke teilt der Autor in Kapitel ein, die Sartres Theaterwerk eine Struktur geben: “Das Schaffen der Mythen” (Bariona, ou le Fils du tonnerre, Les mouches, Huis clos), “Zuviel Realität” (Morts sans sépulture, La putain respectueuse, Les mains sales), “Vom spanisch-deutschen Melodrama” (Le diable et le bon dieu, Kean, Nekrassov) und “Wahnsinn und Armageddon” (Les séquestrés d’Altona, Les troyennes).

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Jean-Paul Sartre, eine Einführung

Martin Suhr,
Jean-Paul Sartre zur Einführung,

2. vollständig überarbeitete Auflage,
Hamburg:
Junius,2004.
ISBN 3-88506-394-8

Die Feststellung in der Einleitung, Sartres Einfluss, der sich u.a. “auf seine Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Kommunismus” bezieht , sei nach dem Zusammenbruch des Ostblock “zu einer lediglich historisch interessierenden Epoche geworden” (S. 12) – auch wenn Suhr, dies hier nur als mögliches on-dit anführt – enthält eine Bewertung, die ihm die Unabhängigkeit, die Sartre für sich in Anspruch nehmen wollte, nicht zugesteht. – Seine Wegbegleitung der PCF in den fünfziger Jahre, er spricht im Interview mit M. Contat von einer “voisinage”, (Sartre, Autoportrait à 70 ans, in : Situations, X, S. 181) war kein bloßes Mitlaufen, sondern auch von dem Versuch geprägt, auf die Partei einzuwirken. Das Scheitern dieses Versuchs ist ein anderes Thema. Es ist genauso erstaunlich, daß Sartre als Zielscheibe heftigster Kritik der PCF um 1947 beinahe nie genannt wird. – Seine Dramen werden, so Suhr, wenig gespielt, seine Romane werden wenig gelesen (cf. I. Grell, Les chemins de la liberté), aber er vermutet, daß seine Biographien und seine philosophischen Schriften seinen Nachruhm begründen. Das Thema seines Gesamtwerkes resümiert Suhr mit einem Zitat aus Saint Genet. Comédien et martyr (1951): “Es geht um die Leidenschaft, die Menschen zu verstehen.” (Saint Genet, S. 219). Wie aber kommt es dazu, daß Sartre versucht, “den Existentialismus dem Marxismus einzuordnen”, fragt Suhr, mit der er seine Position grundsätzlich verändert. Die Antwort auf diese Fragen will Suhr in den philosophischen Schriften Sartres finden. Es ist richtig, daß Suhr ausdrücklich auf die Bedeutung seiner literarischen Schriften für jede Einführung in sein Werk hinweist.

Es folgen sechs Kapitel, in denen Suhr Les Mots (1960), das Dasein als ästhetisches Phänomen (La nausée, 1938, L’existentialisme est un humanisme, 1947), den Geist der Ernsthaftigkeit (L’enfance d’un chef, Réflexions de la question juive), den Menschen als ein nutzlose Passion (L’être et le néant) und die Questions de méthode vorstellt.

Suhr unterstreicht die Ironie und den Witz in Les mots, wo eine Resignation des Autors erkennbar wird, und folgt der Kapiteleinteilung “Lesen”, Schreiben”. Beinahe beiläufig aber dennoch eindeutig erklärt Suhr die Einführung grundlegender Konzepte wie das Nichts, die Unaufrichtigkeit, die Wahl und die Existenz, mit denen Sartre seine Autobiographie strukturiert, die auch als Porträt eines sich entwickelnden jungen Schriftstellers, der von seiner Mission überzeugt ist, gelesen werden könnte. In Les mots werden diese Konzepte so genutzt, als ob der kleine Poulou damals mit ihnen zielstrebig seine Karriere vorbereitet habe. Die Ironie in bezug auf die eigenen Arbeiten kann eigentlich nur erkannt werden, wenn seine philosophischen Grundgedanken dem Leser vertraut sind.

Das Porträt des Roqentin in La nausée (1938) könnte, würde man der Anordnung in Suhrs Einführung folgen, eine Fortsetzung von Les mots sein. Sartre erklärt am Ende von Les mots, er sei Roquentin, an dem er “das Muster seines Lebens” zeige. Wieder geht es um die Konzepte wie Kontingenz, Wahl, die Angst, und es folgt die Einsicht Roquentins, daß sein Denken die Existenz rechtfertigt, woraus seine Verantwortung entsteht. Der Autodidakt hilft ihm bei seinem Erkenntnisprozeß. Roquentin erkennt schließlich die Bedeutung der Kunst: “Die Welt der Kunst ist eine andere Welt, in ihr gib es ein Sein, das nicht Existieren ist; ein Sein der Ordnung und Vollkommenheit.” (Suhr, S. 64.) Diese Einführung in La nausée ist sehr lesenswert, da es Suhr gelingt, den Zusammenhang der Konzepte untereinander zu verdeutlichen, wodurch der Leser geradezu aufgefordert wird, in L’être et le néant (1943) weiterzulesen.

Im genannten Interview mit M. Contat wird Sartre 1975 danach gefragt, was er vom Begriff des Existentialismus halte, und antwortet, der Begriff sei “idiotisch”. (Sartre, Autoportrait à 70 ans, in : Situations, X, S. 192.) Er gibt dann aber doch zu, daß er ihm der Bezeichnung “Existentialist” in Bezug auf seine eigene Philosophie vorziehe. Er selber war mit dem Druck seines so erfolgreichen Vortrags L’existialisme est un humanisme (1947) eher unzufrieden, wohl weil er die darin enthaltenen Ausführungen als eine Verkürzung seiner Philosophie betrachtete. Suhr stellt diesen Vortrag vor der Analyse von L’être et le néant (1943) vor und ergänzt auf diese Weise die bereits in seinen literarischen Werken dargestellten Konzepte seiner Philosophie. Mit längeren Zitaten erläutert Suhr die Struktur dieses Vortrags, der, so Suhr, die existentialistische Philosophie als optimistisch kennzeichnet und sie als eine “Lehre der Tat” (S. 74) beschreibt. In diesem Sinn sei der Mensch “ständig außerhalb seiner selbst”. Damit will Suhr die Perspektive auf L’être et le néant öffnen.

Die Kindheit eines Chefs (1938) und die Réflexions sur la question juive (geschrieben 1944, veröffentlicht 1947) gehören nach Suhr eng zusammen. Die Réflexions sind die theoretische Version der Erzählung von 1938. Andere Autoren (H. Ahrendt, M. Loewenstein, S. 85) haben diese Fragen auch behandelt, aber Sartre war der erste in Frankreich, der diese Überlegungnen in dieser Systematik vorgetragen hat. Für Sartre gilt “Mit einem Wort, der Antisemitismus, ist die Furcht vor dem Menschen.” (in: Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, übers. v. V. v. Wroblewsky, Reinbek b. Hamburg, 1994, S. 36), und damit wird die Frage nach der “Urangst vor dem Ich” (S. 85) gestellt, die Suhr anhand der Lektüre von L’être et le néant untersuchen will.

Eine “Grundlegung der existentialistischen Hermeneutik” wird mit L’être et le néant angeboten. Mit den Mitteln, mit denen der Mensch sich selbst begreifen kann, so Suhr, kann der Mensch auch andere begreifen. (S. 86). Auf den folgenden 80 Seiten, also der Hälfte seiner Untersuchung erklärt Suhr die Struktur von L’être et le néant und Sartres Argumentation. “An-sich-Sein” und “Für-sich-Sein”, das zentrale Begriffspaar wird zuerst erläutert, dann folgen Erklärungen zur Ontologie und zur Phänomenologie, lautet der Untertitel doch Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Den zentralen Begriffen ‘Angst” und “Freiheit’, dem hegelschen Begriff des Selbstbewußtseins, dem Begriff “Für andere’ und schließlich der Freiheit werden eigene Kapitel gewidmet. Suhrs Darstellung profitiert von dem Aufbau seiner Einführung, in der er zuerst die Anwendung der Konzepte vorstellt, deren theoretische Zusammenhänge er im Kapitel über L’être et le néant eingehend erläutert. Mit mehreren graphischen Darstellungen (S. 93, 102. 130 f.) erläutert er den Gang der Argumentation Sartres. Die Wahl, die wir sind, ist ein Ausdruck der Freiheit des Menschen. Die Methode, mit der versucht werden kann, diese Wahl zu begreifen, nennt Sartre die existentielle Psychoanalyse. (S. 159) Suhrs Einführung in L’être et le néant erleichtert den Zugang zu diesem Werk. Mit Recht weist er darauf hin, daß in diesem Werk die Antworten auf die Fragen gegeben werden, die in den Werken vor und nach L’être et le néant von Sartre gestellt werden. In diesem Sinne enthält dieser Band eine Begründung der menschlichen Freiheit, deren Aktualität ungebrochen ist.

Questions de méthode veröffentlichte er 1956 zuerst in einer polnischen Zeitschrift und dann stellte diesen Artikel 1960 vor die Einleitung in der Critique de la raison dialectique. Suhr betont, daß dieser Artikel zeigt, wie, Sartre Grundsätze des “historischen Materialismus” (S. 164) aufgreife, um mit ihnen seine existentielle Psychoanalyse zu ergänzen, da er die Mängel dieser Methode bei der Abfassung der Porträts über Baudelaire (1947) und Jean Genet (Saint Genet. Comédien et martyr, 1951) erkannt habe. Die Kritik, die Sartre aber in den Questions an der Entwicklung des Marxismus vorträgt, zeigt mit welcher Eindringlichkeit er die Verbindung von Marxismus und Existentialismus geprüft hat, ohne seine Grundsätze der Freiheit des Menschen auch nur im geringsten in Frage zu stellen. Sartre entwickelt hier die regressiv-progressive Methode, die bis zum Idiot de la famille seine Künstlerporträts bestimmen wird. Es geht um eine Darstellung der Kindheit. Dann werden die Mittel der jeweiligen Epoche mittels der regressiven Methode erkundet, mit denen die historische Einzigartigkeit der Objekte begreifbar gemacht werden soll, ohne daß die Biographie eine alleinige Rolle bekommt. “Werk, Mensch und Epoche” bilden eine Einheit, die es in einem “ständigen Hin und Her” (S. 170) zu erhellen gilt. Auf diese Weise wird eine progressive Methode der Integration dieser Elemente eingeführt. Mit diesen Erkenntnissen soll dann der Entwurf und sein Ziel formuliert werden. Von der Einführung des Marxismus in seine existentielle Psychoanalyse bleibt im wesentlichen seine Kritik am Marxismus. “…il [i.e.] a entièrement perdu le sens de ce que c’est un homme.” Questions de méthode, in: Critique de la raison dialectique, Paris 1960, S. 58) und “…le marxisme concret doit approfondir les hommes réels et non les dissoudre dans un bain d’acide sulfurique.” (ib. S. 37).

In der Préface (1960), die vor den Questions de méthode steht, erscheint der oft zitierte Satz “…je considère le marxisme comme l’indépassable philosophie de notre temps.” (S. 9), der immer wieder Interpreten dazu dient, aus Sartre einen Marxisten zu machen. Man würde seinem Werk und seinen Auffassungen, besonders der harschen Kritik an der Entwicklung des Marxismus, so wie er sie in den Questions de méthode vorträgt, besser gerecht werden, wenn man aus ihr nicht eine Wende in seinem Denken ableitet. Eine Entwicklung seines Denkens gab es ohne jeden Zweifel (cf. Sartre, Autoportrait à 70 ans, in: Situations, X, S. 180) aber ihre Folgen müssen differenzierter gesehen und bewertet werden. Tat-sächlich analysiert Suhr diese Wende nur auf einigen wenigen Seiten, ohne ihrer Analyse den wirklich notwendigen Raum zu geben. Es ist bedauerlich, daß Suhr nur in einigen kurzen Sätzen auf Sartres Porträt Flauberts in L’Idiot de la famille hinweist, aber dennoch hat er das eigentliche Ziel seiner Einführung erreicht. Der Leser erkennt die Zusammenhänge zwischen seinen literarischen und seinen philosophischen Werken. Zugleich öffnet Suhr die Perspektive auf die Künstlerporträts, vor allem auf die Studie über Flaubert. Und er erinnert daran, dass Sartre 1972 und 1974 in den Streitgesprächen mit Philippe Gavi und Pierre Victor trotz deren Drängen von seinem Flaubert-Buch keinerlei Abstand neh-men will, sondern ihnen die Notwendigkeit, diese Untersuchung weiterzuführen, verdeutlicht.

Kurze Einführungen in ein so komplexes Werk wie das von Jean-Paul Sartre sind nicht einfach auszuführen, aber Suhr ist es durch die geschickte Anordnung seiner Kapitel gelungen, eine Kontinuität im Werk von Sartre aufzuzeigen, die im wesentlichen von “der Leidenschaft, den Menschen zu verstehen” bestimmt wird. Damit beantwortet er auch die eingangs gestellte Frage nach dem, was von Sartre bleibt. Es ist die ungebrochene Aktualität seines Werks, das die Freiheit des Menschen immer wieder hervorhebt.

Heiner Wittmann

Sartre. Ohne Literatur und ohne Kunst.

Dorothea Wildenburg,
Jean-Paul Sartre,
Campus Einführungen, .
Frankfurt/M.: Campus Verlag 2004.
ISBN 3-593-37394-7

Die Darstellung, die Dorothea Wildenburg in der Reihe Einführungen bei Campus über Jean-Paul Sartre vorgelegt hat, bietet auf 150 Seiten eine knappe Einführung in sein Werk. Die Konzentration auf seine Hauptwerke, eine für die solche Einführungen verständliche und oft übliche Entscheidung, wirkt sich aber auf das Ergebnis dieses Buches eher nachteilig aus. L’imagination (1936) und L’imaginaire (1938) werden nicht genannt; folglich fehlt auch jeder Hinweis auf die Kunst, mit deren Darstellung Sartre in L’imaginaire seinen Freiheitsbegriff L’être et le néant (Gallimard, idées Nr. 101, S. 343-373) vorbereitet. Überhaupt kommt gemäß dieser Einführung die Kunst im Werk Sartres nicht vor. Spätestens aber mit der Lektüre der Flaubert-Studie wird jedem Leser der Stellenwert der Ästhetik im Werk Sartres auffallen, wenn er in L’idiot de la famille die zahlreichen präzise durchgeführten Analysen der Werke Flauberts entdecken wird. Wildenburg weist mit Recht daraufhin, daß Sartre den Menschen verstehen will, auch wenn sie den von Sartre intendierten totalen, also umfassenden Ansatz nur streift, aber das Verhältnis des Porträtierten zu seinem Werk und damit zur Literatur und zur Kunst als Thema von Sartres Werken nicht nennt. Die Art und Weise, wie sie die Bedeutung der Literatur in der Flaubert-Studie übergeht, ist bedauerlich, aber erklärlich, allein schon weil in dieser Einführung Qu’est-ce que la littérature? (1947) und außer zwei Interviews die Situations-Bände gar nicht genannt werden.

Ein Kapitel berichtet über die existentielle Psychonalyse, über Sartres Freud-Kritik, über seine Suche nach dem konkreten Urentwuf und auf einer Seite über die Flaubert-Studie. Sein Verhältnis zum Marxismus und zu den Maoisten wird im Kapitel “Sartres ‘neue Passion'” abgehandelt, in dem allerdings jeder Hinweis auf die zahlreichen kritischen Äußerungen Sartres zum Marxismus und der PCF fehlen. Der im wesentlichen philosophisch geprägte Ansatz dieser Einführung muß die Verbindung von Philosophie und Literatur, die Sartre durch seine Beschäftigung mit der Kunst geprägt hat, übersehen. Einführungen dieser Art übergehen viele wesentliche Aspekte seines Werkes, sie nehmen wie hier nur einige Werke in den Blick, zeichnen seine vermeintlichen ideologischen Änderungen nach, stellen sein “Sündenregister” (S. 147 ff.) auf und übersehen dabei die erstaunliche Kontinuität, mit der Sartre sein Werk seit der Beschäftigung mit Jaspers (1927) bis zur Flaubert-Studie geprägt hat.

Dennoch hat Wildenburg aber auf ihre Art eine solide Einführung in seine Philosophie vorgelegt. Ihre wichtigsten Begriffe von L’être et le néant, über die demnächst auf deutsch vorliegenden Cahiers pour une morale bis zur Critique de la raison dialectique werden hier in kurzer und prägnanter Form dargelegt und helfen auch beim Verständnis seiner philosophischen Hauptwerke.

Heiner Wittmann

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