Sartre und Foucault
Thomas R. Flynn, Sartre, Foucaul, and Historical Reason. Volume Two. A Poststructuralist Mapping of History, The University of Chicago Press, Chicago, London 2005. ISBN (paper) 0-226-25471-2
Sartre, Foucault und die Geschichte
Dieser kürzlich erschienene Band folgt dem ersten Band “Toward an Exististentialist Theory of History”. Der Autor beabsichtigt eine Rekonstruktion des philosophischen Geschichtsansatzes von Foucault zu unternehmen. In dieser zweibändigen Studie sollen die Geschichtstheorien zweier führender französischer Intellektuellen untersucht werden. Flynn verspricht sich durch diesen Vergleich weiterführende Erkenntnisse vor allem, weil beide sich kannten, aber die Methoden und Konzepten des jeweils anderen rundherum ablehnten. In diesem zweiten Band werden zuerst die Grundlagen des Foucaultschen Ansatzes untersucht, der er in einem zweiten Schritt mit Sartre verglichen wird. In der Einleitung erklärt Flynn detailliert den Aufbau seiner Untersuchung. Das 1.Kapitel führt den Leser in das Denken Foucaults ein und legt drei Abschnitte seines Denkens dar: der archäologische, der genealogische und der problematische Ansatz. Im 2. und 3. Kapitel wird sein Bezug auf die Ereignisgeschichte und sein Nominalismus untersucht, der ihn dazu führt “Macht” an sich in Frage zu stellen und sich auf individuelle Aktionen zu konzentrieren. Es folgen zwei Kapitel, in denen er Autor einzelne Schriften Foucaults analysiert. Im 2. Teil des Buches wird das Werk Foucaults der Dialektik Sartres gegenübergestellt. Auf diese Wei-se wird z.B. das Konzept des “vécu” von Sartre mit dem Foucaultschen Ausdruck der Erfahrung verglichen.
Ein anderer Vergleich, bei dem sich Flynn auf die letzten Vorle-sungen Foucaults bezieht, betrifft dessen Interesse für die mutige Sprache (“parrhe-sia”) mit Sartres “Authentizität”. Im 11. Kapitel werden Bedeutung der Gewalt in ihren Werken und ihre unterschiedlichen Geschichtsauffassungen untersucht. Der Vernunftbegriff Foucaults ist nicht dialektisch wie bei Sartre, sondern wird von Foucault als mehrdeutig und als dem Wandel der Geschichte unterworfen begriffen.
In der Tat ist das erste Kapitel Foucault and the Historians eine eindrucksvolle Einführung in sein Denken unter dem Aspekt seiner Geschichtsauffassung. In bezug auf den historischen Nominalismus werden schon diesem Kapitel zahlreiche Parallelen, oder besser Gegensätze zum Werk Sartres aufgezeigt. Im 8. Kapitel wird Sartres Geschichtstheorie auf der Grundalge von Was ist Literatur?, Die Entwürfe für eine Moralphilosophie bis zum I. und II. Band der Kritik der dialektischen Vernunft vorge-stellt. Flynn insistiert besonders auf die enge Verbindung zwischen Biographie und Geschichte, also zwischen der existentiellen Psychoanalyse und Dialektik, die histori-sche Ereignisse in ihren Zusammenhängen und Widersprüchen untersucht. Dieser Ansatz geht davon aus, daß Sartres Untersuchungen über Leben und Werk der Künstler primär Biographien sind. Zum Teil ist das zutreffend; die Beschränkung auf die Biographie würde aber wesentliche Aspekte der Künstlerporträts wie besonders im Fall Flauberts übersehen. Lautet doch der ersten Satz der Flaubert Studie: “L’Idiot de la famille est la suite des Questions de méthode,” wodurch sogleich diese Porträtstudie auch als die Untersuchung einer Methode vorgestellt wird. Flynn greift im übrigen den Sartreschen Ansatz, was können wir überhaupt von einem Menschen wissen, auf. (S. 192) Der Vergleich mit Foucault führt zu einigen Fragen in bezug auf Sartres theoretischen Ansatz, das Fehlen einer expliziten Sprachphilosophie, die seinen biographischen Ansatz als problematisch erscheinen läßt.: “Though Sartre never formulated an explicit philosophy of language, he allowed that one could be rationally reconstructed from the body of his writings.” (S. 193) Einerseits erlaubt Flynns Vorgehen mögli-cherweise ein besseres Verständnis des Sartreschen Denkens, andererseits birgt der so tiefgehende und detailreiche Vergleich mit den Ansätzen Foucaults, daß falsche Gewichtungen entstehen können, die dazu führen die Qualität Ergebnisse Sartres schließlich doch nicht an seinen eigenen Voraussetzungen, sondern eher an denen Foucaults gemessen werden. Flynns Untersuchung gibt dieser Versuchung, die als methodisches Problem seiner Untersuchung nicht zu übersehen ist, aber nicht nach.
Im 11. Kapitel stellt Flynn Sartres Gewaltbegriff vor und bezieht sich dabei vor allem auf die (kürzlich auf deutsch erschienenen) Entwürfe für eine Moralphilosophie, Das Sein und das Nichts sowie auf einige Stellungnahmen Sartres in verschiedenen Interviews, und er zeigt, wie sich die Auseinandersetzung mit der Gewalt durch sein ganze Werk bis zur Critique de la raison dialectique und darüber hinaus zieht. In diesem Zusammenhang fällt die deutliche Stellungnahme Flynns in bezug auf Sartres Moral auf: “Sartre was at heart a moralist much as was Albert Camus, but Sartre was never e moralizer.” (S. 237) Und Flynn deutet an, als Sartre den Nachruf auf Camus schrieb, die-ser sei eine Repräsentant der langen Reihe von Moralisten gewesen, die vielleicht das Ursprünglichste in der französischen Literatur repräsentieren, Sartre möglicherweise auch über sich selbst geschrieben habe. (ib.) Die Systematik mit der Flynn die Dimensionen sozialer Gewalt in den Entwürfen darstellt, dies wird auch durch den Aufbau dieser aus Sartres Nachlaß erschienenen Untersuchung erleichtert, wird zur Lesehilfe und ist tatsächlich ein Anreiz, diese Passagen bei Sartre selbst nachzulesen. Auf diese Weise eröffnet Flynn seinen Lesern einen Zugang zu Sartre. Auf dieser Grundlage geht Flynn zu dem Vergleich mit dem Gewaltbegriff bei Foucault über und berücksichtigt in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich die Geschichtsauffassung der beiden Autoren. Foucault scheint, so Flynn mehr Camus zuzuneigen, in dem sein Ansatz, es gibt keine Hoffnung mehr, so Flynn, der Weisheit des Sisyphos ähnle. Sartre konzentriert seine Theorie der Geschichte auf die Kontingenz und auf die Knappheit der Ressourcen. Solche Verkürzungen sind der Preis für den Vergleich, der trotzdem interessante Aufschlüsse über die Werke Foucaults und Sartre vermittelt. Die Analyse der letzten Vorlesungen von Foucault im Collège de France erklärt die Ähnlichkeiten seines Ansatzes mit Sartres Begriff der Authentizität, wenn auch Foucault Sartres Begriff der Urwahl reserviert gegenübersteht. Die eigentlichen Unterschiede zwischen Foucault und Sartre erkennt Flynn u.a. beim Vergleich der biographischen Ansätze beider Autoren in bezug auf ihre Geschichtsauffassung. Mit Bezug auf den ersten Band seiner Untersuchung erinnert Flynn daran, daß Sartre in seinen Biographien, die er als “existentielle Psychoanalysen” verstand seinen Erzählungen eine moralische Kraft, wie Flynn es nennt, verleihen wollte (S. 306) Foucaults Bemerkungen über Herculine Barnin und Pierre Rivière seien mit dem historischen Konzept der Biographien Sartres nicht zu vergleichen.
Am Ende seiner Untersuchung zitiert Flynn den Nachruf von Robert Maggiori auf Foucauld in Libération, in dem dieser Sartre und Foucault als die führende Intellektuellen bezeichnete und die Lektüre ihrer Werke nicht hinsichtlich einer Synthese, sondern mit dem Ziel der gegenseitigen Bereicherung vorschlug. “That, in sum, has been-the aim of our lengthy investigation.” (S. 310)
Heiner Wittmann
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