Rezension: Wolf Wagner, Tatort Universität Vom Versagen deutscher Hochschulen und ihrer Rettung

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. Januar 2022 hat Heike Schmoll völlig zu Recht „Die Lage der Geisteswissenschaften“ unter dem Titel „Deutschland in der Bildugnskrise“ beklagt: „Seit 2010 haben sich die Studentenzahlen in den Geisteswissenschaften international fast halbiert. Auch in Deutschland gibt es einen erheblichen Rückgang um etwa 40 Prozent zwischen 2014 und 2023.“

Vorbemerkung: Die >Sommeruniversität in Rinteln bot von 2009-2025 die Gelegenheit, mit Schülern das Studieren zu üben: Jeden Tag ein anderes Fach! Täglich eine Vorlesung zu einem Thema gefolgt von einer Übung und einem Seminar um den Schülern zu zeigen, wie man Romanistik, Geschichte oder Politische Wissenschaften studiert. – Mit diesem Blogbeitrag erinnere ich auch an meinen Doktorvater Professor > Dirk Hoeges (1943-2020), der mir an der Universität Bonn die Romanistik von den Chronisten des Mittelalters bis zu Camus und Sartre gelehrt hat. Es war die ganze Bandbreite dieses Faches mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Geschichte, also der Kulturwissenschaft

Die folgende Rezension wird aus gegebenem Anlass hier wieder veröffentlicht. Sie erschien als Lesebericht am 9. März 2010 auf dem damals vier Jahre alten Blog von Klett-Cotta, der 2022 eingestellt wurde. Eine große Zahl der > Blogartikel unserer Blog-Redaktion wurde Ende 2022 auf die neue Website von Klett-Cotta übertragen.

Dem Titel und dem Untertitel dieses Buches Tatort Universität. Vom Versagen deutscher Hochschulen und ihrer Rettung von Wolf Wagner ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Wagners Buch ist eine herbe Kritik am Zustand der deutschen Hochschulen. Er wirft den deutschen Universitäten ein Verharren auf einem niedrigen Niveau in Bezug auf die Bildungsbeteiligung der Bevölkerung vor und kritisiert die damit zusammenhängende Begrenzung der Innovationsfähigkeit. Die deutsche Universität, so Wagner, „weigert sich in weiten Bereichen, die wissenschaftliche Berufsbildung der nächsten Generation zu übernehmen und gefährdet damit auf Dauer das Kreativitätspotential der deutschen Wirtschaft“ (S. 19) das ist einer der Kernsätze, der darauf hinweist, das die Hochschulen in Deutschland sich mit anderen Dingen beschäftigen als mit ihren eigentlichen Aufgaben. Der Bologna-Prozess und die Einführung der Bachelor-Studiengängen mit dem ungeheuren Aufwand der Akkreditierung von Studiengängen (> Akkreditierungsrat) gehören zu den Entwicklungen, die das Studium immer mehr reglementieren und folglich nicht geeignet sind, das Kreativitätspotential der Studenten zu fördern. Vielleicht wird man zu der Einsicht kommen, dass die Normierung der Studiengänge in Europa kein besonderer Geistesblitz war. Gerade die Vielfalt der unterschiedlichen Studiengänge macht(e) den Reiz aus, an eine andere Universität im europäischen Ausland zu gehen.

Aber Wolf Wagner wird noch deutlicher, er wirft der deutschen Universität vor, zu einer „Selbstbezüglichkeit“ zu neigen, „die sie dazu treibt, sich immer mehr von einander und er Wirklichkeit“ abzuschotten, sich in „immer stärker spezialisierte Fachkulturen aufzuspalten, die untereinander weder kommunikationsfähig noch kommunikationswillig sind.“ (ebd.)

Ein wichtiges Stichwort des Autors ist Kreativität. Sie kann in der Tat gar nicht erst aufblühen, wenn die Studenten einen Stundenplan diktiert bekommen, der wie die Verlängerung der Schule wirkt. Selbständigkeit, Lust an individueller Problemlösung, Neugier statt theoretischer Tiefbohrungen, die das Denken verengen und jede Horizonterweiterung scheitern lassen, sind für das, was Wagner das „verrückte Denken“ nennt, notwendig. Der aufgeblähte Bürokratismus der Bachelor-Studiengänge,der den Professoren und Studenten an der Universität Kraft und Zeit raubt, bringt die Studenten nicht dazu, für ihr Fach zu „glühen“. Mit Bologna ist auch der Bildungsbegriff der Universität verändert werden. Jetzt geht es um Kompetenzen und um abfragbare Inhalte (Stichwort „Module“, „Leistungspunkte“, „ECTS“), die sich wunderbar evaluieren lassen: „Mit dem Verlust der Humboldtschen Menschenbildung als zweckfreies Realisieren der eigenen besten Möglichkeiten wurde auch der letzte Rest an verrücktem, kreativen Denken aus der deutschen Hochschule eliminiert, und übrig blieb alleine das exakte Denken.“ (S. 87)

Nachdem die Kultusministerkonferenz (KM) am 15. Oktober 2009 die Hürden für ein 8-semestriges Bachelor-Studium beseitigt hat, plädiert Wagner für das Angebot eines „Kreativjahres“, (S. 99-101)mit dem das Verhältnis von Bachelor und Master überdacht und modifiziert werden kann.

Und dann noch ein Wort zur Mobilität, die durch den Bologna-Prozess in Gang gesetzt werden sollte. Wagner meint, der Rahmen dieses Prozesses würde dem nicht widersprechen, aber er macht die Modularisierung und die Prüfungsausschüsse dafür verantwortlich, „dass nur mit den eigenen Modulen identische Veranstaltungen anerkannt werden“, (S.108) die die Mobilität ersticken. Wer hat sich eigentlich den Begriff „Modul“ ausgedacht, und ist man sich bewusst, was man damit angerichtet hat? Da werden doch möglicherweise Lehrinhalte gestutzt und zurecht geschnitten, damit sie in ein Modul passen?


> duz – Unabhängige Deutsche Universitätszeitung 3/2010: 10 Jahre Studienreform durch Bologna: Stadtführer durch Bologna


Wolf Wagner hat ein kritisches Buch verfasst, aber er beweist auch seine Sachkenntnis und ist mit den Problemen, z.B. des Verhältnisses von Lehre und Forschung bestens vertraut. Er legt keine Kritik oder Ablehnung in Bausch und Bogen vor, sondern analysiert detailgetreu die Schwachstellen des Bologna-Prozesses und zeigt Lösungsansätze auf. Das Buch richtet sich an Hochschullehrer, an alle, die irgendeiner Form mit der Organisation der Hochschullehre betreut sind und an die Studenten, denen hier auch Wege aufgezeigt werden, das Beste aus ihrem Studium zu machen.

Wolf Wagner stammt aus Tübingen. Nach dem Studium in Tübingen, Bonn und Berlin wurde er an der Freien Universität Berlin 1976 Dr. rer. pol. promoviert und habilitierte sich 1979. Bis 1992 war wer Freier Therapeut in Tübingen und Berlin. Bis 2009 war er Professor für Sozialwissenschaften und Politische Systeme am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Erfurt, dort Prorektor und Rektor bis 2005. Seit September 2009 lebt er in Berlin.

Wolf Wagner
Tatort Universität   Leider vergriffen.
Vom Versagen deutscher Hochschulen und ihrer Rettung
Stuttgart: Klett-Cotta 2010
188 Seiten
ISBN: 978-3-608-94614-7


Das waren noch Zeiten, als ich von 209-2015 in der Sommeruniversität von Rinteln mit den Schülern das Studieren der Geisteswissenschaften ausprobieren durfte. Viele Themen aus dem Bereich der Literaturwissenschaft, um das fach Romanistik vorzustellen.

Z.B. > Das Studieren ausprobieren: Sommeruniversität in Rinteln – 30.7.-5.8.2011
Thema: Was soll man studieren? Naturwissenschaften oder Geisteswissenschaften?

Oft sind es die Lieblingsfächer in der Schule, vermutete Eignungen oder gar nur ein mehr oder weniger diffuses Bauchgefühl, das den Ausschlag gibt. Vielleicht sind es die großen Bücherstapel der Geisteswissenschaftler, die manche zu den Naturwissenschaften führen, auf der anderen Seite ist es vielleicht gar die Furcht vor Mathe und Statistik, die andere in die Hörsäle der Geisteswissenschaftler führt.
Die Naturwissenschaften untersuchen Vorgänge und Erscheinungen in der belebten und unbelebten Natur. Ihre bevorzugten Arbeitsmittel sind die Beobachtung und das Experiment. Die Geisteswissenschaften untersuchen die Welt, die Handlungen der Menschen, politische oder gesellschaftliche Ereignisse, Perspektiven und Alternativen.
Dieser Einführungsvortrag stellt ausgewählte Inhalte der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften vor.
Ort: Termin: Samstag, 30.07.11, 16.15 – 17.30 Uhr