Tintoretto in der Scuola di San Rocco
Astrid Zenkert, Tintoretto in der Scuola di San Rocco, Ensemble und Wirkung,
Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen 2003. 264 Seiten. 50 Schwarzweiß-Abbildungen.
ISBN 3-8030-1918-4
Sartres Studien über Tintoretto, besonders auch seine Beschreibungen der Gemälde in der Scuola di San Rocco, verleiten immer wieder dazu, bei Kunsthistorikern nachzusehen, ob seine Schlussfolgerungen sich mit ihren Ergebnissen messen können. Die Studie von Astrid Zenkert ist eine willkommene Gelegenheit, ihre Beobachtungen mit denen Sartres zu vergleichen.
Zenkerts Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf die Gemälde, die Tintoretto zwischen 1567 und 1588 für die Scuola angefertigt hat. Sartre hingegen nennt vor allem die “Kreuzigung” in seinem Fragment La Reine Albemarle ou le dernier touriste (Paris 1991, S. 142-145). Zusammen mit den Analysen in den anderen Fragmenten (bsd. Saint Marc et son double.Le sequestré de Venise. Inédit, in: Obliques, 24/25, Nyons 1981, S. 171-203) analysiert Sartre anhand präziser Bildbeschreibungen, wie Tintoretto den Blick des Betrachters lenkt und leitet daraus Hinweise auf die Maltechnik des Meisters ab. Es ist kein Mangel, wenn Astrid Zenkert, Sartres Untersuchungen nicht nennt, denn ihre Studie konzentriert sich auf die Ensemblewirkung der Gemälde vor allem in der “sala dell’albergo” mit der “Kreuzigung” und der “Sala superiore” mit den großen Deckenbildern und den vielen Wandbildern in Scuola di San Rocco.
Tintoretto bemühte sich erfolgreich um den Auftrag, die ganze Scuola auszumalen. Spätestens nach seiner Aufnahme 1565 in die Bruderschaft war er seinem Ziel sehr nahegekommen. Die Wände der Scuola bot ihm die besondere Möglichkeit, großformatige Gemälde mit Bezügen unter- und zueinander anzufertigen. Zu Recht unterstreicht Zenkert die zentrale Bedeutung dieser Ensemblegestaltung für das Verständnis der Bilderzyklen Tintorettos in der Scuola. Der Überblick über den Stand der Forschung präzisiert die Thesen ihrer Untersuchung. Die Art und Weise, wie Tintoretto bewußt die Beziehungen zwischen den Gemälden gestaltete, ist bisher nur in Ansätzen aber nicht genügend gewürdigt worden.
Mit ihren Analysen der “Kreuzigung” und des “Christus vor Pilatus” im “Sala dell’albergo” erarbeitet Zenkert einprägsame Belege für ihre Thesen. Zum einen beschreibt sie sehr anschaulich, wie die “Kreuzigung” zum Beispiel die Männer bei der Aufrichtung des Kreuzes zeigt und nennt ausdrücklich die Anstrengungen und die Bewegungen der Männer und damit die kinematographischen Effekte. Sartre erinnert immer wieder an die verschiedenen Zeitabläufe auf Tintorettos Gemälde und nannte damit auch Interpretationsansätze, die auch von Kunsthistorikern in ihre Analysen einbezogen werden.
“Christus vor Pilatus” (5.15 * 3.80) ist neben der Eingangstür zu der “sala dell’albergo” angebracht. Die unterschiedlichen Schrägsichten auf das Bild, je nachdem an welchem Platz sich der Betrachter befindet, erlauben jeweils einen ganz andern Blick auf das Bild. In diesem Falle ist es das Gesims der Palastarchitektur, das auf dem Bild als eine wuchtige Schräge erscheint. Aus der Sicht der gegenüberliegende nördlichen Ecke, an der Stelle, wo die Ratsmitglieder sich hinter die banca zu ihren Sitzplätzen begaben, wird das Gesims als waagrechte Linie erkennbar. (S. 35 und 67) Diese Beobachtung ist wichtig, da Zenkert auf ganz ähnliche Weise die weiteren Gemälde in der Scuola analysiert.
Zenkert untersucht auch die Frage, wie die Ensemblewirkung entstand und wendet sich gegen die These, daß das Konzept für die Gesamtdekoration erst nach und nach entstand. Hier berücksichtigt sie ausführlich die verschiedenen Positionen der Forschung. Die Bezüge der Gemälde untereinander, besonders die von ihr an vielen Beispielen erläuterte Mehrsichtigkeit, mit der sie die Verbindung zweier Bilder in der Schrägsicht offenzulegen versucht, sind überzeugende Belege für ihre Thesen. Auch hinsichtlich der Autorenschaft des Bildprogramms (s. S. 180-184) zeigt sich Zenkert überzeugt von konzeptuellen und gestalterischen Fähigkeiten Tintorettos.
Das “Letzte Abendmahl”, das südlichste Bild der Ostwand, ist das Bild, daß man von der prächtigen Treppe aus beim Betreten des Saales als erstes erblickt. Ihren Hinweis auf die Verbindung des in diesem Bild dargestellten Tisches mit dem Altar an der Südseite des Saales unterstreicht die Bildkomposition des “Letzten Abendmahles”, das tatsächlich für genau diese Stelle der Wand gemalt worden ist. Zenkert vergleicht dieses Bild mit dem, das den gleichen Titel trägt, in der Kirche San Giorgio Maggiore, das dort an der rechten Wand des Presbyteriums hängt. Hier erstreckt sich der Abendmahlstisch von links vorne nach rechts hinten. Wiederum ist der Effekt erkennbar, daß der Tisch rechtwinklig zu den Seitenwänden des Presbyteriums steht, wie der wirkliche Altar. Genauso entwickelt auch Sartre seine Analysen der Bilder Tintorettos, in dem er Beobachtungen auf einem Bild mit denjenigen auf anderen Bildern überprüft, Thesen verifiziert und Schlüsse auf die Maltechnik Tintorettos zieht.
Zenkerts Studie ist nicht nur für Kunsthistoriker eine interessante Studie, mit der die Ensemblewirkung der Bilder Tintorettos in überzeugender Form dargestellt wird. Ihre Arbeit beruht auf präzisen Analysen der Bilder, mit denen die deren gegenseitige Bezüge aufdeckt und die Illustration der Eucharistie erläutert. Die Konzentration auf die Bilder der Scuolo di San Rocco ist durch deren einmaliges Ensemble völlig gerechtfertigt. Die Beziehungen zwischen diesen Bilder der Scuola und vieler anderer, die Tintoretto für viele andere Kirchen und Gebäude gemalt hat, auch zugunsten ihrer eigenen Thesen, geraten dabei etwas aus dem Blick. In diesem Sinne sind gerade Sartes Tintoretto-Studien eine wichtige Ergänzung zu ihrem Buch.
Heiner Wittmann