Poesie und Identität

Khalid Hadji,
La présence poétique
Lecture d’Arman Monjo, Abdelllatif Laâbi et Mahmoud Darwich.
Université Sidi Mohammed Ben Abdellah, Fès, 2006

Die présence poétique ist etwas, das bei einem Autor das verlangen, sowohl im Glück wie im Unglück zu sprechen, bezeichnet. Außerdem bezeichnet sie auch das Bewusstsein, das der Autor von seiner Identität, seiner Sprache und seiner Lebensumgebung hat. “Das Gedicht kann einen Sinn erzeugen, weil seine Wörter, obgleich es dieselben sind, etwas anderes aufdecken kann,” heißt es in der Einleitung zu diesem Band, in dem es darum geht, die Formen und Figuren dieser “présence poétique” zu analysieren, um die Frage zu beantworten, warum auf die Dringlichkeit, die Welt zu bewohnen, ein so großer Wert gelegt wird? Es geht um das Verhältnis von Poesie und Existenz, das die Werke der für diese Studie ausgewählten Dichter bestimmt.

Armand Monjo (1913-1998), ein Freund von Jean Giono und Pablo Picasso. Von ihm stammt eine zweisprachige Anthologie Poésie italienne (Seghers, Paris 1964). Trotz seines Engagements sei er nur wenig bekannt geworden. Abdellatif Laâbi (1942 in Fès geboren) gehört zu den Mitbegründern der Zeitschrift Souffles. Von ihm erschien zuletzt Fragments d’une genèse oubliée (1998). Seine Poesie, die jede Form der Reduktion überschreiten will und die Sprache neu bewerten will, bringt ihn in die Nähe zu Mahmoud Darwich (geboren 1941 in Galiläa). Zuletzt erschien Onze planètes (1992).

Die Fragen nach der Präsenz, das Sein-in-der-Welt und dem Standort berühren die Philosophien, die das Sein befrgaen, vor allem die Ontologie Martin Heideggers, erklärt der Autor dieser Studie, die er in drei Teilen vorlegt: Im ersten Kapitel “Ecriture de la présence” geht es um die Darstellung der Welt, die Dichtung, die Dauer und schließlich um die Entwicklung des poetischen Gedankens. Im zweiten Kapitel untersucht der Autor die Symbolik unter dem Stichwort der Mimesis und im dritten Kapitel steht die Semiotik im Vordergrund seiner Untersuchung.

Im ersten Kapitel wird die “présence poétique” als eine Offenbarung der Welt verstanden. Diese poetische Präsenz ist aber gleichzeitig auch als eie Art geheimnisvolles Einverständnis mit der Wlet zu verstehen. Es geht aber hier auch um das Lebendige selbst, durch das der Sinn entsteht, dne der Autor auch als Wiederaneignung einer verlorenen Substanz bezeichnet. Gegenwart und Abwesenheit kennzeichnet die poetische Entwicklung im zweiten Kapitel, wobei der Zeichenvorrat des Dichters, deesen er sich bedient, auf einen Erkenntnisakt zielt: Der Sinn entsteht durch die Beschreibung der Formen der Existenz. (S. 91). Die “présence poétique” bedeutet eine Projektion des Seins auf die Existenz, die auch das Anderssein des eigenen Ichs einschließen kann.

Diese Studie über drei Dichter, die aus verschiedenen Kulturen stammen, zeigt bei ihnen ganz ähnliche Ansätze, mit der ihrer Dichtung die eigene Identität zu untersuchen und auszudrücken. Mit dem bezug auf theoretische Texte zur Poetik wie u.a. auch von Paul Ricoeur, Yves Bonnefoy, der Autor nennt auch Käte Hamburger verleiht er seiner Studie ein solides theoretisches Gerüst. In diesem Sinne geht es in seiner Studie nicht nur um die Interpretationen ausgewählter Gedichte, sondern auch um eine vergleichenden Analyse dreier Poetiken, wobei der Autor Ähnlichkeiten und Unterschiede aufdeckt.

Heiner Wittmann

Schönherr-Mann, Sartre. Philosophie als Lebensform

Hans-Martin Schönherr-Mann,
Sartre. Philosophie als Lebensform,
C. H. Beck, München 2005. ISBN 3-406-51138-4.

Die Einführung, die Schönherr-Mann in das Werk Sartres anlässlich seines 100. Geburtstags vorgelegt hat, konzentriert sich auf die Entwicklung des Existentialismus und dessen Verhältnis zum Marxismus. In den ersten drei Kapiteln entwickelt der Autor die Grundlagen von Das Sein und das Nichts (1943) und vor allem die Entwicklung seines Freiheitsbegriffs. Er zeigt, wie Sartre mit dem Bezug auf Husserls Phänomenologie und in Abgrenzung zu Descartes eine Definition des Bewusstseins entwickelt, das immer ein Bewußtsein von etwas ist (S. 32), und gleichzeitig von der Existenz zu unterscheiden ist, in dem Sinne, wie das Bewusstsein über diese Existenz hinausweist, also die eigene Situation überschreiten kann. Schönherr-Mann stellt die Entstehung von Das Sein und das Nichts in einen Zusammenhang mit Sartres Kriegserlebnissen, der Besatzungszeit in Paris und erklärt die Bezüge zu den Werken, die seinem philosophischen Hauptwerk vorausgingen, wie La Nausée (1938) und folgten wie seine Theaterstücke und der Romanzyklus Die Wege der Freiheit.

 

Die Freiheit ist gemäß der bekannten Formulierung, der Mensch ist zur Freiheit verurteilt, auch selber ein Zwang; sie ist eine schwierige und riskante Herausforderung, der wir aber nicht entgehen.” (S. 58) Die Freiheit beschreibt die menschliche Realität, die Sartre mit dem Begriff der Situation kennzeichnet, die er mit dem projet des Menschen, mit seinem Entwurf verbindet. .

In den folgenden Kapiteln entwickelt Schönherr-Mann jeweils einen der Grundbegriffe der Sartreschen Philosophie, wie die mauvaise foi, die Verantwortung und das Engagement, die er einzeln untersucht und deren Entwicklung im Werk Sartres er in einen Zusammenhang mit dessen politischen Engagement stellt. Schönherr-Mann entscheidet sich gegen Traugott König, der von der Unaufrichtigkeit sprach, dafür die mauvaise foi mit dem verdrehten Bewusstsein zu übersetzen und begründet dies mit der Verdrehung der Freiheit (S. 79), wodurch er im Gegensatz zum Freudschen Unbewußten die absichtliche Verdrehung von Fakten und das Umdefinieren von Faktizitäten verstehen möchte. Der Autor versucht so, Sartres Absicht, Freuds Theorie vom Unbewussten abzulehnen, wiederzugeben, wobei aber zu bedenken ist, dass so eine Aspekt dieses Begriffs möglicherweise unterschätzt wird: “Das wahre Problem der Unaufrichtigkeit kommt evidentermaßen daher, daß die Unaufrichtigkeit [mauvaise foi] ein Glaube [foi] sei.” (Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 154) und nicht unbedingt eine Lüge sondern ein “Seinsmodus”( ib. S. 156) ist. Diese Unterscheidung ist wichtig, da Sartre auf dieser Grundlage, nämlich eines Bewusstseins, das etwas ist, was es nicht ist und gleichzeitig nicht das ist, was es ist, die permanente Versuchung der Unaufrichtigkeit aufdeckt, und damit das Bewusstsein selbst untersuchen will, “… das nicht Totalität des menschlichen Seins ist, sondern der instantane Kern dieses Seins.” (ib. S. 160)

Das Engagement stellt Schönherr-Mann mit dem Begriff der littérature engagée in den von Sartre gemeinten Zusammenhang mit der Rezeptionsästhetik, die dem Leser am Entstehungsprozeß des Werkes beteiligt. Allerdings kommt in diesem Kapitel der Gedanke, daß ein Schriftsteller sich nicht ausdrücklich mit einem bestimmten Werk engagieren kann, etwas zu kurz, denn er ist immer engagiert, das heißt, er kann der Verantwortung für seine Werke nicht ausweichen. Andererseits weist Schönherr-Mann auch in seinen anderen Kapiteln sehr wohl auf die Bedeutung der Verantwortung gerade in der Verbindung mit dem Sartreschen Konzept der Freiheit ausdrücklich hin. Sartres Behauptung, die Wörter seien sein Abschied von der Literatur gewesen, darf, so wie Bernard-Henri Lévy dies getan hat, und Schönherr-Mann zitiert ihn, nicht überbewertet werden. Die monumentale Flaubert-Studie ist der beste Beweis dafür, daß ihn die Literatur sehr wohl weiter beschäftigt hat.

Seine Flaubert-Studie ist, wie es in ihrem Vorwort steht, die Fortsetzung von Questions de méthode, einem Artikel der zunächst 1957 in einer polnischen Zeitschrift erschien und dann in überarbeiteter Form im gleichen Jahr in Les Temps modernes, in dem Sartre die Zusammenhänge zwischen dem Existentialismus und dem Marxismus untersucht. Die Kritik, die Sartre in diesem Aufsatz, der 1960 wieder zu Beginn der Kritik der dialektischen Vernunft erscheint, am Marxismus äußert, erlaubt es nicht, vorbehaltlos von seinem “marxistisch orientierte[m] Denken” zu sprechen. Seine Kritik am Marxismus in seiner damaligen Praxis ist so deutlich, daß eine Verbindung zwischen Der Idiot der Familie und der Kritik der dialektischen Vernunft allenfalls auf der Ebene einer Kritik an der Dialektik selbst zu erkennen ist. Im übrigen übersieht Schönherr-Mann Sartres deutliche Reserviertheit gegenüber dem Stalinismus oder dem Kommunismus sowjetischer Prägung. Er zitiert den von Sartre und Merleau-Ponty zusammen unterzeichneten Artikels “Les jours de notre vie”, der 1950 in Les Temps modernes erschien, in der es heißt, daß die UdSSR sich im Gleichgewicht der Kräfte auf der Seite derer befinden würden, die gegen die uns bekannten Ausbeutungsformen kämpfen würden. (S. 137) Die Schlußfolgerung auf eine Zurückhaltung Sartres hinsichtlich einer Kritik am sowjetischen Lagersystem kann durch den Zusammenhang nicht gerechtfertigt werden. Sartre fügt an dieser Stelle hinzu: Die Dekadenz des russischen Kommunismus könne die marxistische Kritik nicht ungültig machen, und man müsse keine Nachsicht gegenüber dem Kommunismus zeigen, das heißt aber auch nicht, daß man sich mit seinen Gegnern verbinden könne. (Cf. Sartre, Merlau-Ponty, Les jours de notre vie, in: TM, Nr. 51, 1950, S. 1162 f). Im diesem Artikel heißt es u.a.: “A moins d’être illuminé, on admettra que ces faits remettent entièrement en question la signification du système russe.” (ib. S. 1154) und “… il n’y a pas de socialisme, quand un citoyen sur vingt est au camp.” (ib, S. 1155) und “En regardant vers l’origine du système concentrationnaire, nous mesurons l’illusion des communistes d’aujourd’hui.” (ib. S. 1160) Sartres Wegbegleitung der KPF von 1951-1956 hat ihn zu keiner Zeit dazu veranlaßt, seine Prinzipien und Konzepte hinsichtlich der Freiheit des Menschen aufzugeben.

Sein 1970 in einem Interview geäußertes Erstaunen, (cf. Sartre par Sartre, in: ders., Situations, IX, S. 101 f.) darüber , daß er geschrieben habe, der Mensch sei immer frei, zu entscheiden, ob er ein Verräter oder nicht sein werde, wird von Schönherr-Mann mit der Frage verbunden, ob er mit seinem marxistischen Engagement die Freiheit aufgegeben habe? Eine unmittelbare Antwort gibt er nicht, aber beim Leser bleibt vielleicht ein bestimmter Eindruck von diesem Interview haften. Man muß Sartres ganze Antwort lesen, in der er ganz unmarxistisch wiederholt, daß jeder immer dafür verantwortlich sei, was man aus ihm gemacht habe, denn jeder Mensch könne immer etwas aus dem machen, wozu man ihn gemacht habe. Dies sei die Definition, die er jetzt der Freiheit geben würde.

“Philosophie als Lebensform” heißt der Untertitel des hier besprochenen Buches, in dem Autor im letzten Kapitel sein Ergebnis vorlegt: “… Sartres Existentialismus zeigt den Menschen ihre Freiheit und Selbstverantwortlichkeit sowie den Reflexionszwang, um ihr Leben selber zu gestalten.” (S. 158)

Mit diesem Band ist dem Autor eine interessante Darstellung gelungen, die aufgrund einer geschickten Auswahl verschiedener Konzepte die Entwicklung des Denkens Sartres sowie seine festen Bezugspunkte in einen Zusammenhang mit seiner Zeitgeschichte bringt.

Heiner Wittmann

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Ronald Aronson, Camus & Sartre, Amitié et combat

Ronald Aronson, Camus & Sartre, Amitié et combat, übers. v. D. B. Roche, D. Letellier, Alvik Editions, Paris 2005. ISBN 2-914833-28-8 

Über den Streit zwischen Camus und Sartre, der der sich an der Ideologiekritik in L’homme révolté (1951) entzündete und nach einem öffentlichen Schlagabtausch in Les Temps modernes zum vollständigen Bruch zwischen beiden führte, ist immer wieder berichtet worden. 1)

Jetzt ist die französische Übersetzung der Untersuchung (2004) erschienen, mit der Ronald Aronson die Beziehungen zwischen Jean-Paul Sartre und Albert Camus zwischen ihrem ersten Zusammentreffen von 1943 und dem Bruch von 1952 eingehend analysiert. Mit einem Abstand von 50 Jahren, so der Autor, liegen jetzt genügend Dokumente vor, die eine Untersuchung dessen erlauben, was sich zwischen beiden zugetragen hat. Ihre Beziehung wurde so eng, daß schließlich auch ihre Werke Antworten auf Fragen formulierten, die sich beide stellten. Es ergaben sich aber dennoch Differenzen, die Aronson im Vorwort ankündigt, und die schließlich zu ihrem Zerwürfnis führten. Es kommt also darauf an, zu ermitteln, zu welchem Zeitpunkt und aufgrund welcher Themen oder Ereignisse ihre Meinungsverschiedenheiten erkennbar wurden. Der Kalte Krieg und seine Auswirkungen, so lautet Aronsons Erklärung, habe lange Zeit einer Aufarbeitung ihrer Geschichte im Wege gestanden, da ihre Interpreten immer wieder versucht waren, sich für die eine oder die andere Seite zu entscheiden. (Cf. S. 11, 15 )

Nach dem Ende des Kalten Krieges kann nun das historische Verdikt, dass Camus’ Ideen als einen Irrtum bezeichnete, umgedreht werden, um nun seine politische tadellose Klarsicht zu hervorzuheben. Mit dieser Auffassung entsteht ein methodisches Problem, das den Ansatz dieser Untersuchung betrifft. Muß Camus’ L’homme révolté unter dem Eindruck der Beurteilung seiner Gegner und damit entsprechend den Spezifika seiner Zeit gelesen werden, um den Streit von 1952 in seiner ganzen Tragweite verstehen zu können? Mit diesen beiden Fragen, die den Beginn ihres Disputs und die Interpretation von L’homme révolté und der daraus erkennbaren Bedeutung für ihren Streit betreffen, soll die vorliegende Untersuchung geprüft werden.

Aronson glaubt nicht daran, daß der Bruch zwischen beiden durch ihre Auffassungen von Anfang an vorherbestimmt gewesen sei, sondern vielmehr der Kalte Krieg habe ihre zunächst guten Beziehungen getrübt und schließlich scheitern lassen. Aronson möchte sich nicht auf die vorhandenen Biographien beider und Zeugnissen andere verlassen, sondern er will sich auf ihre Werke konzentrieren und so die Bezugspunkte finden, die sich auf das Werk des jeweils anderen beziehen.

Camus rezensiert 1938 La nausée (Camus, Essais, Paris 1965, S. 1417-1419) und Sartre rezensiert seinerseits 1942 L’étranger (Sartre, Situations, I, Paris 1947, S. 120-147). Aronson zeigt die Zusammenhänge zwischen diesen Texten der beiden Rezensenten. Wenn auch Sartre bald der Bekanntere von beiden ist, so ist der doch von Camus’ Engagement überrascht. “Sartre et tout à fait étranger au pragmatisme de l’action.” (S. 40) erklärt Aronson und erinnert an die immer mal wieder von einigen Autoren geäußerte Verwunderung über Sartres späte Entdeckung der Politik. In der ersten Jahreshälfte 1944, so Aronson, wird Camus, der Chefredakteur der Zeitung Combat ist, zum Mentor Sartres. Die Politik, die beide 1952 trennen wird, hat auch beide zusammengeführt, so lautet Aronsons These. Wenn auch beiden gewisse Grenzen der Übereinstimmung bewußt waren, so wurde doch Camus zu einem der engsten Freunde Sartres.

Der Text, der Sartres Engagement auslöste oder zumindest mitbestimmte, soll Camus’ Roman La peste (1947) gewesen sein. Aronsons Analyse, wie beide Ihre Ansichten austauschen und gemeinsame Berührungspunkte beibehalten, widerspricht der späteren Darstellung von Simone de Beauvoir, die in den Cérémonies d’adieux behauptete, Camus habe mit dem Existentialismus nichts gemein gehabt. Hier wird beispielhaft der Vorteil von Aronsons Ansatz deutlich, die vorhandenen Werke und Schriften der beiden Autoren genau zu lesen und sich nicht nur auf damalige oder spätere Meinungen und Aussagen zu verlassen. Die zunehmende Politisierung Sartres entwickelt sich parallel zu der Camus’ aber manchmal auch in umgekehrter Richtung. Damit deutet der Autor Sartre Verhältnis zur Kommunistischen Partei an, das die Qualität ihrer Beziehung bald beeinflussen sollte. Ihre Haltungen zur Geschichte lassen weitere Indizien erkennen, die ihre unterschiedlichen Auffassungen andeuten. Die präzise Untersuchung ihrer Texte, die nach der Befreiung entstanden sind, bietet dafür interessante Nachweise. Gerade in bezug auf die Begründung der Freiheit, in deren Rahmen Sartre, so der Autor, seine eher unhistorischen Begriffe der Situation und der absoluten Freiheit zumindest bis zum zweiten Band der Critique de la raison dialectique nicht mit den Realitäten der Menschen in Verbindung bringt, möchte Aronson deutliche Unterschiede zwischen beiden erkennen.

Aronson hält sich an den eingangs versprochenen Vergleich der Texte der beiden Autoren, führt aber immer wieder Äußerungen wie z.B. von Simone de Beauvoir an, erklärt aber auch, welche Details sie aus mehr oder weniger offenkundigen Gründen ausläßt (S. 110), und er beschreibt die Rollen von Merleau-Ponty und Arthur Koestler. Aronson zeigt auch, daß Camus Sartre nicht genau liest und beschreibt, wie es zu unterschiedlichen Interpretationen des Geschichtsbegriffs bei beiden kommt. Die Übereinkunft zwischen Sartre und Camus, daß das Kapitel über Nietzsche aus L’homme révolté in Les Temps modernes veröffentlicht werden soll, zeigt, daß beide von dem herannahenden Gewitter noch nicht so recht etwas ahnen. Nach dem Erscheinen des Buches (1951) kommt es 1952 zum Bruch zwischen beiden, der von der heftigen Ideologiekritik Camus, seine Ablehnung des Kommunismus, und Sartres heftiger Reaktion als Antwort auf Camus Klagen wegen der Rezension aus der Feder Francis Jeansons sich vollzieht: Aronsons Satz “On a vu devenir Sartre un révolutionnaire, Camus devenir un homme révolté.” (S. 191) läßt noch ein wenig die Absicht erkennen, doch ein Lager wählen zu wollen, die Aronson zu Beginn des Kapitels allen Interpreten von L’homme révolté zuschrieb. 2)

Beide hätten, so Aronson, in den Monaten nach dem Ende ihrer Freundschaft wenig geschrieben.- Camus veröffentlicht 1954 die Novellensammlung L’été, deren Themen seine Grundüberzeugungen Revue passieren lassen und er schreibt mehrere wichtige Texte über die Aufgaben des Künstlers -. Sartre veröffentlicht die Artikelserie Les communistes et la paix. 1956 erscheint La Chute, mit dem Camus sogleich einen beachtlichen Erfolg erzielt. Aronson liest diesen Roman als eine Antwort auf die Vorwürfe, die Sartre 1952 an Camus gerichtet hatte. 1975 erwähnte Sartre in einem Interview das Zerwürfnis mit Camus, erklärte daß er sich gegen den Brief Camus’, der mit den Worten “Monsieur le Directeur” begann, gewandt habe. Aber, er fügt auch hinzu: Camus sei vielleicht der letzte gute Freund gewesen.

Aronson zeigt in überzeugender Weise, wie es aufgrund der Zeitumstände und der unterschiedlichen Geschichtsauffassungen Sartre und Camus’ zu ihrem Streit kam, der das Ende ihrer Freundschaft besiegelte. Er zeigt aber auch, daß der Streit an beiden nicht spurlos vorbeigegangen ist und wie ihre späteren Werke immer wieder von diesem Streit geprägt sind. Nach Camus’ Tod hat Sartre in seinem Nachruf auf die Nähe Camus’ zu den französischen Moralisten hingewiesen. Er ordnete Camus in die lange Reihe der Erben der Moralisten ein , deren Werke das repräsentieren, was zum Ursprünglichsten der französischen Literatur gehöre. Und Camus habe durch die Hartnäckigkeit seiner Verweigerungen gegen die Machiavellisten und das goldene Kalb des Realismus die Existenz der Moral bestätigt.

Heiner Wittmann

www.logosjournal.com/issue_4.1/aronson_postel.htm:
Camus, Sartre, and Us: The Story of a Friendship and the Quarrel That Ended It
An Interview with Ron Aronson
With Danny Postel

1) Cf. u.a. : C. Kuhn, “Monsieur le Directeur”, “Mon cher Camus”. Die Anatomie eines Bruchs, in: B. Wilczeck, Hrsg., Paris 1944-1962. Dichter und Denker auf der Straße, Bühl-Moos 1994, S. 93-102;
H. Wittmann, Albert Camus. Kunst und Moral, Kapitel V: Albert Camus und Jean-Paul Sartre, Frankfurt/M. 2001, bsds. S. S. 94-98.
2) Cf. H.Wittmann, Sartre und die Kunst. Die Porträtstudien von Tintoretto bis Flaubert, Tübingen 1996, S. 73-88: Die Kritik am Marxismus.

Brigitte Sändig, Albert Camus, Autonomie und Solidarität

Brigitte Sändig, Albert Camus. Autonomie und Solidarität,
Würzburg: 
Königshausen & Neumann 2004.
ISBN 3-8260-2630-6 

In diesem Band sind 25 Aufsätze versammelt, von denen die größte Anzahl nach 1989 verfasst wurde. Die Autorin hat ihnen durch eine Kapiteleinteilung im Inhaltsverzeichnis eine Struktur gegeben: “Die Bindung an Algerien”, die bis zu seinem Tod sein Werk bestimmt hat, versammelt die Aufsätze des ersten Kapitels. Mit “Kunstausübung, Kunstreflexion” ist das zweite Kapitel überschrieben, in dem u.a. Camus’ Literaturverständnis mit dem Sartres verglichen wird. Das Kapitel “Geschichte und Politik” enthält Betrachtungen zur Zeitgeschichte, Spanien, Deutschland im Jahr 1945, zu seinem Eintreten gegen die Todesstrafe und eine Untersuchung seiner Bezeichnung der “Geschichte von Europas Hochmut”. Das Kapitel “Wirkungen” enthält Aufsätze, in denen sein Werk mit denen anderer Schriftsteller wie Rachid Mimouni oder Gunter Grass und Christoph Hein verglichen wird. Der letzte Abschnitt “Aufnahme” läßt die Rezeption Camus’ in der DDR Revue passieren.

Das erste Kapitel über Algerien enthält vor allem Analysen mit biographischem Interesse in bezug auf seine Herkunft und unterstreicht mit Zitaten aus seinen Tagebüchern und aus dem Romanfragment Le premier homme und der Novellensammlung L’exil et le royaume seine enge Bindung an Algerien. Ohne Zweifel muß sein Werk vor dem Hintergrund dieser Lebensgeschichte gelesen werden. Sändig stellt durchaus kritische Fragen, die Camus’ Verständnis des Zusammenlebens von Kolonisierten und Kolonisatoren betreffen. Ihr Erstaunen über die Wortwahl Camus’, “er spricht … sogar vom “Golgatha-Weg der Kolonisierung des 19. Jahrhunderts” (S. 43) ist nicht berechtigt. In der Fußnote gibt Sändig auch den französischen Wortlaut dieser Passage an “le calvaire des colons de 1848” an. Es sind aber nicht Camus’ Worte, sondern er erwähnt hier lediglich in einer Notiz in seinen Fragmenten im Anhang das Buch Calvaire des Colons de 48 von Maxime Rasteil (1930). Sein Verhältnis zu Algerien muß sicherlich durch eine genaue Lektüre seiner Artikel in seinen Actuelles-Bänden ergänzt werden. Es ist richtig, daß er sich nach 1956 sich zu diesem Thema kaum noch geäußert hat und lediglich seine innere Zerrissenheit erkennen ließ.

Das zweite Kapitel enthält den Aufsatz “Zur Funktion von Kunst und Künstler” (1974), der 1975 in den Beiträgen zu romanischen Philologie veröffentlicht wurde. Im Ansatz untersucht sie hier seine Kunstkonzeption vor dem Hintergrund seiner Biographie. Angesichts der von Camus immer wieder evozierten Absurdität der Welt wird die Kunst für ihn zur einer “Form subjektiver Lebensbewältigung.”
(S. 59) Es ist richtig, die Entwicklung seiner ästhetischen Vorstellungen besonders eng an die Kriegsereignisse und seine Erfahrungen in der Résistance zu knüpfen. Sändig weist auch auf die Rede “Le Témoin de la liberté” hin, in der Camus 1948 die Aufgaben des Schriftstellers präzisiert. Er und die Künstler dürfen dem Leid der Menschen gegenüber nicht teilnahmslos bleiben. Daraus ergibt sich eine etwas nuancierte Auffassung des Begriffs ‘Engagement’, so wie ihn Sartre versteht. Allerdings darf diese Unterscheidung nicht zu stark akzentuiert werden, indem zu verstehen gegeben wird, Camus wende sich allein gegen tödliche Ideologien. Sartres ursprüngliches Verständnis des Engagements (Qu’est-ce que la littérature? 1947) enthält zunächst nur die aus jeder Aktivität eines Schriftstellers entstehende Verantwortung, als Ausdruck seines Engagements ohne, daß er sich expressis verbis für eine Ideologie einsetzt: “Je dirai qu’un écrivain est engagé lorsqu’il tâche à prendre la conscience la plus lucide et la plus entière d’être embarqué…” Sartre, Qu’est-ce que la littérature?, Paris 1948, S. 98. Ohne Zweifel ist der Streit zwischen Camus und Sartre auch auf unterschiedliche Auffassungen in diesem Bereich zurückzuführen, aber in bezug auf die Wirkungsmöglichkeiten der Kunst und die Aufgaben des Künstlers ergeben sich zwischen beiden erstaunliche Parallelen, die auch von ihrem Streit nicht verwischt werden können. Mit Recht weist Sändig auf Camus’ Bemerkung hin, daß die Forderung der Revolte z.T. eine ästhetische Forderung sei. (S. 66) Das ist tatsächlich der Kerngedanke von L’homme révolté, mit dem die Kunst dem Künstler die Aufgabe verleiht, die Welt neu zu erschaffen, wie Camus dies in einem übertragenem Sinn ausdrückt. Camus hat seine theoretischen Überlegungen in seinem Roman La chute (1956) und in der Novelle Jonas ou l’Artiste au travail (1957) fortgeführt. Außerdem hat er seine Überlegungen zur Kunst und zur Verantwortung des Künstlers in seiner Nobelpreis-Rede eindeutig dokumentiert. 1974 hat Sändig folglich die besondere Stellung der Kunst im Werk Camus’ beschrieben, sie zitiert Marx in bezug auf die Kunstproduktion Jonas’, sie zeigt Camus’ Ideologiekritik, aber die besondere Stellung der Kunst in ihrer ihr eigentümlichen Autonomie, die er allen Ideologien entgegensetzt, tritt nicht ganz so deutlich hervor.

Der folgende Aufsatz “Was kann Kunst? Zum Literaturverständnis von Camus und Sartre” ist 1991 entstanden. Das von Sändig gewählte Zitat, mit dem der Beitrag des Schriftstellers hinsichtlich der “Bildung einer konstruktiven und revolutionären Ideologie” (Sartre, Qu’est-ce que la littérature? op.cit., S. 289) dargestellt wird, verleitet sie zu der Anmerkung, so – wenn auch die Unerfüllbarkeit beinahe zugegeben wird – “überfrachtet Sartre den Schriftsteller nicht nur quantitativ, sondern nagelt ihn gewissermaßen auf die engagement-Funktion, ja auf die Erstellung von Ideologie fest.” (S.83) Zu diesem Sachverhalt folgert sie: “Solch konkret-soziale Funktionssetzungen liegen Camus fern.” (ib.). Nun darf aber das gerade erwähnte Zitat Sartres nicht ohne den in Qu’est-ce que la littérature? unmittelbar folgenden Satz gelesen werden: “Il s’agit malheureusement d’espoirs anachroniques : ce qui était possible au temps de Proudhon et de Marx ne l’est plus.” (S. 289 f.) In der Tat, Sartres Literaturmanifest ist eine Neubegründung der Rezeptionsästhetik, so wie sie ein Emile Hennequin im Sinn gehabt hat, es ist aber kein Vademekum für das Erstellen ideologischer Schriften.

Das dritte Kapitel “Geschichte und Politik” enthält einen Aufsatz, in dem sein Verhältnis zu Spanien untersucht wird und einen über die Beziehungen Camus’ zum Deutschland des Jahres 1945. Das letzte Kapitel dieses Abschnitts stellt die Frage nach der Bedeutung von Camus’ “Geschichte von Europas Hochmut”, ein Gedanke, mit dem Camus seinen Essay L’homme révolté (Der Mensch in der Revolte,Le mythe de Sisyphe,Sisyphos, Hamburg 1953, S. 13, L’homme révolté, in: Essais, Paris 1965, S. 420) die Einleitung nennt. Camus erklärt diesen Ausdruck, so Sändig, mit dem “schrankenlosen Autonomieanspruch des Subjekts”, woraus auch für Verbrechen ein Legitmationsanspruch entstände, der im 20. Jahrhundert einen Höhepunkt erreicht. Als Resultat ihrer Untersuchung verweist die Autorin auf C.G. Jung und nennt die Notwendigkeit, heute psychische Realitäten, womit auch das Unbewußte gemeint ist, anzuerkennen. Sändig unterstreicht ihr Ergebnis mit dem Hinweis auf Camus’ Lektüre der Werke C.G. Jungs und A. Adlers. (S. 201). Der Verlauf der Argumentation in ihrem Beitrag visiert das hier dargestellte Ergebnis an. Es ist aus dem Zusammenhang des Textes nicht klar erkennbar, ob Camus an dieser Stelle mit seinem Begriff vom Hochmut Europas wirklich den von der Autorin evozierten Autonomieanspruch zum Ausdruck bringen will. Dieser Begriff steht am Ende des vorletzten Absatzes der Einleitung, die im letzten Absatz, die Revolte als das Thema seines Essays in den Vordergrund rückt, die er mit der Frage nach einer Regel verbindet, die das Absurde nicht vorgeben kann. Er erwähnt auch die Hoffnung nach der Schöpfung, und erinnert daran, daß der Mensch das einzige Wesen sei, das sich weigern kann, das zu sein, was er ist. Insoweit wird hier eine gewisse Autonomie angedeutet, die aber nicht ausreicht, den hier beschriebenen Ansatz der Autorin zu stützen. Läßt man sich aber dennoch auf den von der Autorin gewählten Ansatz ein, findet man hier eine sehr komprimierte, aber interessante Fassung der Grundprobleme von L’homme révolté, die allerdings vom dritten Teil des Essays mit den Überlegungen zur Kunst nicht getrennt werden sollten. Vielleicht war das auch ein Grund für die Schärfe der Auseinandersetzung mit Sartre, bei der lediglich die Ideologiekritik Camus’, der Verriß von Francis Jeanson und die Antwort von Camus (Monsieur le Directeur…) eine Rolle spielten.

Zusammen mit den im letzten Teil folgenden Aufsätzen, die die Werke Camus’ mit denen anderer Autoren vergleichen, dokumentiert dieser Band langjährige, beharrliche Forschungen. Manchmal wird der Blick der Autorin durch die Konzentration auf Details etwas eingeengt. Der Blick auf sein Gesamtwerk mit all seinen Facetten und die behutsame Reduktion biographischer Elemente, die dessen Wirkungsgeschichte eher behindern, ist im Zusammenhang aller Aufsätze angelegt, da sie dem Leser eine eindrucksvolle Perspektive auf die Bedeutung des Werks Camus’ öffnen.

Heiner Wittmann

Tintoretto in der Scuola di San Rocco

Astrid Zenkert, Tintoretto in der Scuola di San Rocco, Ensemble und Wirkung,
Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen 2003. 264 Seiten. 50 Schwarzweiß-Abbildungen.
ISBN 3-8030-1918-4

Sartres Studien über Tintoretto, besonders auch seine Beschreibungen der Gemälde in der Scuola di San Rocco, verleiten immer wieder dazu, bei Kunsthistorikern nachzusehen, ob seine Schlussfolgerungen sich mit ihren Ergebnissen messen können. Die Studie von Astrid Zenkert ist eine willkommene Gelegenheit, ihre Beobachtungen mit denen Sartres zu vergleichen.

Zenkerts Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf die Gemälde, die Tintoretto zwischen 1567 und 1588 für die Scuola angefertigt hat. Sartre hingegen nennt vor allem die “Kreuzigung” in seinem Fragment La Reine Albemarle ou le dernier touriste (Paris 1991, S. 142-145). Zusammen mit den Analysen in den anderen Fragmenten (bsd. Saint Marc et son double.Le sequestré de Venise. Inédit, in: Obliques, 24/25, Nyons 1981, S. 171-203) analysiert Sartre anhand präziser Bildbeschreibungen, wie Tintoretto den Blick des Betrachters lenkt und leitet daraus Hinweise auf die Maltechnik des Meisters ab. Es ist kein Mangel, wenn Astrid Zenkert, Sartres Untersuchungen nicht nennt, denn ihre Studie konzentriert sich auf die Ensemblewirkung der Gemälde vor allem in der “sala dell’albergo” mit der “Kreuzigung” und der “Sala superiore” mit den großen Deckenbildern und den vielen Wandbildern in Scuola di San Rocco.

Tintoretto bemühte sich erfolgreich um den Auftrag, die ganze Scuola auszumalen. Spätestens nach seiner Aufnahme 1565 in die Bruderschaft war er seinem Ziel sehr nahegekommen. Die Wände der Scuola bot ihm die besondere Möglichkeit, großformatige Gemälde mit Bezügen unter- und zueinander anzufertigen. Zu Recht unterstreicht Zenkert die zentrale Bedeutung dieser Ensemblegestaltung für das Verständnis der Bilderzyklen Tintorettos in der Scuola. Der Überblick über den Stand der Forschung präzisiert die Thesen ihrer Untersuchung. Die Art und Weise, wie Tintoretto bewußt die Beziehungen zwischen den Gemälden gestaltete, ist bisher nur in Ansätzen aber nicht genügend gewürdigt worden.

Mit ihren Analysen der “Kreuzigung” und des “Christus vor Pilatus” im “Sala dell’albergo” erarbeitet Zenkert einprägsame Belege für ihre Thesen. Zum einen beschreibt sie sehr anschaulich, wie die “Kreuzigung” zum Beispiel die Männer bei der Aufrichtung des Kreuzes zeigt und nennt ausdrücklich die Anstrengungen und die Bewegungen der Männer und damit die kinematographischen Effekte. Sartre erinnert immer wieder an die verschiedenen Zeitabläufe auf Tintorettos Gemälde und nannte damit auch Interpretationsansätze, die auch von Kunsthistorikern in ihre Analysen einbezogen werden.

“Christus vor Pilatus” (5.15 * 3.80) ist neben der Eingangstür zu der “sala dell’albergo” angebracht. Die unterschiedlichen Schrägsichten auf das Bild, je nachdem an welchem Platz sich der Betrachter befindet, erlauben jeweils einen ganz andern Blick auf das Bild. In diesem Falle ist es das Gesims der Palastarchitektur, das auf dem Bild als eine wuchtige Schräge erscheint. Aus der Sicht der gegenüberliegende nördlichen Ecke, an der Stelle, wo die Ratsmitglieder sich hinter die banca zu ihren Sitzplätzen begaben, wird das Gesims als waagrechte Linie erkennbar. (S. 35 und 67) Diese Beobachtung ist wichtig, da Zenkert auf ganz ähnliche Weise die weiteren Gemälde in der Scuola analysiert.

Zenkert untersucht auch die Frage, wie die Ensemblewirkung entstand und wendet sich gegen die These, daß das Konzept für die Gesamtdekoration erst nach und nach entstand. Hier berücksichtigt sie ausführlich die verschiedenen Positionen der Forschung. Die Bezüge der Gemälde untereinander, besonders die von ihr an vielen Beispielen erläuterte Mehrsichtigkeit, mit der sie die Verbindung zweier Bilder in der Schrägsicht offenzulegen versucht, sind überzeugende Belege für ihre Thesen. Auch hinsichtlich der Autorenschaft des Bildprogramms (s. S. 180-184) zeigt sich Zenkert überzeugt von konzeptuellen und gestalterischen Fähigkeiten Tintorettos.

Das “Letzte Abendmahl”, das südlichste Bild der Ostwand, ist das Bild, daß man von der prächtigen Treppe aus beim Betreten des Saales als erstes erblickt. Ihren Hinweis auf die Verbindung des in diesem Bild dargestellten Tisches mit dem Altar an der Südseite des Saales unterstreicht die Bildkomposition des “Letzten Abendmahles”, das tatsächlich für genau diese Stelle der Wand gemalt worden ist. Zenkert vergleicht dieses Bild mit dem, das den gleichen Titel trägt, in der Kirche San Giorgio Maggiore, das dort an der rechten Wand des Presbyteriums hängt. Hier erstreckt sich der Abendmahlstisch von links vorne nach rechts hinten. Wiederum ist der Effekt erkennbar, daß der Tisch rechtwinklig zu den Seitenwänden des Presbyteriums steht, wie der wirkliche Altar. Genauso entwickelt auch Sartre seine Analysen der Bilder Tintorettos, in dem er Beobachtungen auf einem Bild mit denjenigen auf anderen Bildern überprüft, Thesen verifiziert und Schlüsse auf die Maltechnik Tintorettos zieht.

Zenkerts Studie ist nicht nur für Kunsthistoriker eine interessante Studie, mit der die Ensemblewirkung der Bilder Tintorettos in überzeugender Form dargestellt wird. Ihre Arbeit beruht auf präzisen Analysen der Bilder, mit denen die deren gegenseitige Bezüge aufdeckt und die Illustration der Eucharistie erläutert. Die Konzentration auf die Bilder der Scuolo di San Rocco ist durch deren einmaliges Ensemble völlig gerechtfertigt. Die Beziehungen zwischen diesen Bilder der Scuola und vieler anderer, die Tintoretto für viele andere Kirchen und Gebäude gemalt hat, auch zugunsten ihrer eigenen Thesen, geraten dabei etwas aus dem Blick. In diesem Sinne sind gerade Sartes Tintoretto-Studien eine wichtige Ergänzung zu ihrem Buch.

Heiner Wittmann

Der Betrachter muss immer mitarbeiten

Lars Blunck
Between Object & Event.
Partizipationskunst zwischen Mythos und Teilhabe.
VDG Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2003

I. Rezension:

Mit seiner Untersuchung über die Einbeziehung des Betrachters in die Entstehung des Kunstwerks oder in den Ablauf eines ästhetischen Prozesses hat Lars Blunck einen wichtigen Abschnitt der Kunstgeschichte, untersucht, der von den Experimenten und Exponaten Joseph Cornells und Marcel Duchamp bis Tom Wesselmann, Jime Dine und deren Abkehr von der Idee der Zuschauerbeteiligung in der Pop Art reicht.

Mit seiner Definition der Assemblage in ihren vielfältigen Ausprägungen von der Collage über Objektkunst bis zum Ready-Made entscheidet sich Blunck mit einem Verweis auf William C. Seitz dazu, die Assemblage als eine Gattungsbezeichnung zu benennen, sie aber gleichzeitig auch als Bezeichnung für eine bestimmte “künstlerisch-technische Vorgehensweise” heranzuziehen. Der zweite Teil der einleitenden Begriffsbestimmung erläutert die Idee der Partizipation. Auch hier wird William C. Seitz genannt, der 1961 in seinem Aufsatz “The Art of Assemblage” auf die Zuschauerbeteiligung hinwies. Frank Popper stellte 1975 Kontemplation und Partizipation gegenüber. Mit ihren Aussagen präzisiert Blunck diesen Begriff im Rahmen seiner Arbeit, in der vor allem die “taktil-kinästhetische Wahrnehmung” als eine wesentliche Voraussetzung für eine Partizipation gelten soll.

Die nachfolgenden Kapitel sind ein veritabler und interessanter Gang durch die Kunstgeschichte. Einzelne Kunstwerke von Duchamp, die Miniaturmuseen von Cornell, die Music Box (Elemental Sculpture, um 1953, Sammlung Jasper Johns, New York) und die White Paintings (1951, im Besitz des Künstlers) von Robert Rauschenberg werden besprochen. Die Werke von Jasper Johns von Construction with Toy Piano (1954, Öffentliche Kunstsammlung, Basel) bis Target with Four Faces (1955, The Museum of Modern Art, New York) werden im wesentlichen hinsichtlich ihres Beitrags zum Partizipationsgedanken untersucht. Dabei zeigt Blunck auf, wie sich Johns von dieser Partizipation offenbar distanziert hat.

Andere Wege ging Allan Kaprow mit seinen Assemblagen von Grandma’s Boy (1956/57, The Newark Museum) bis zu seinen Happenings in 6 Parts, die im Oktober 1959 in einer theaterähnlichen Form aufgeführt wurden. George Brecht stellte 1961 seinen Wandschrank Repository (The Museum of Modern Art, New York) vor, der zunächst als Beitrag zu einem Event hergestellt worden war. Water Yam (1963, Staatsgalerie Stuttgart) ist eine Edition, die Brecht 1963 entwickelte. Ihre Karten enthielten unterschiedliche Hinweise auf Events, sogenannte Events-Scores.

Die Involvierung des Betrachters wird mit Edward Kienholz’ Tableaus und Environments erläutert. Mal sind des Spiegel, die den Betrachter in die dargestellten Szenen integrieren: Roxys, 1962, 1968, documenta Kassel 1968. Aber auch hier zeigt sich, daß die Situationsgebundenheit der Kunstwerke den Partizipationsgedanken verändern oder abschwächen: z.B. E. Kienholz, The Portable War Memorial, 1968, Museum Ludwig, Köln.

Im letzten Kapitel erläutert Blunck die Abwendung von der Idee der Zuschauerbeteiligung in der Pop Art, so wie sie mit den Werken von Tom Wesselmann und Jime Dine gezeigt werden kann. Beide Künstler lehnten diese Partizipation an ihren Assemblagen grundsätzlich und ausdrücklich ab. Ihr Versuch, die “konventinelle Trias von Künstler, Werk und Betrachter” zu restaurieren, kann möglicherweise, wie Blunck erklärt, “das Wirkungsfeld einer neuen Ästhetik – der amerikanischen Pop Art” einleiten.

Der hier so kurz umrissene Gang durch die Kunstgeschichte ist eigentlich eine Geschichte der Partizipation des Betrachters, wie sie sich ab der zwanziger Jahren entwickelte und in den sechziger Jahren auch zunehmend theoretisch von den Künstlern selbst reflektiert worden ist. Blunck gelingt es vor allem, die Unterschiede zwischen den Intentionen der Künstler und den Ergebnissen ihrer Werke hinsichtlich der Teilhabe der Betrachter präzise herauszuarbeiten.

Mit den Ergebnissen von Bluncks Untersuchung erhält der Museumsbesucher nicht nur eine nützliche theoretische Grundlage für die Betrachtung dieser Werke, sondern zugleich auch eine fundierte Einführung in die Kunst des 20. Jahrhunderts.

II. Der Betrachter muß immer mitarbeiten, ob er will oder nicht

Ohne jedoch den theoretischen Ansatz von Bluncks Untersuchung schmälern zu wollen, muß doch auf den auch vom Autor selbst mehrfach zitierten Zusammenhang zwischen Betrachterpartizipation und der Rezeptionsästhetik hingewiesen werden.

1946 beschrieb Jean-Paul Sartre in Qu’est-ce que la littérature? die Entstehungs eines Kunstwerks: “[…] l’opération d’écrire implique celle de lire comme son corrélatif dialectique et ces deux actes connexes nécessitent deux agents distincts. C’est l’effort conjugué de l’auteur et du lecteur qui fera surgir cet objet concret et imaginaire qu’est l’ouvrage de l’esprit. Il n’y a d’art que pour et par autrui.” (Sartre, Qu’est-ce que la littérature? Paris 1947, S. 55 – vgl. H. Wittmann, Sartre und die Kunst. Die Porträtstudien von Tintoretto bis Flaubert, Gunter Narr Verlag, Tübingen 1996, S. 62.) Wenn der Autor und der Künstler ihre Arbeiten beendet haben, sind ihre Werke keinesfalls vollendet. Autor und Leser, Künstler und Betrachter, so darf man mit Blick auf Sartres Ästhetik mit vollem Recht hinzufügen, müssen notwendigerweise zusammenarbeiten, da nur das Ergebnis der gemeinsamen künstlerischen oder schriftstellerischen Arbeit als Kunstwerk bezeichnet werden könne.

Sartre hat seine Porträttechnik, die er mit der Analyse der Werke vieler Schriftsteller und bildender Künstler entwickelt hat, auch auf die Analyse der Werke Tintorettos übertragen. Mit der Interpretation vieler Werke des venezianischen Malers hat Sartre eindrucksvoll gezeigt, wie der Maler durch die Komposition der Bildelemente, durch Einführung der dritten Dimension und die zeitlich vesetzten Szenen auf dem gleichen Bild die Blicke des Betrachters lenkt: “Le Tintoret va mettre le public au travail. Cyniquement. Chacun de ses ouvrages réclamera notre concours; le peintre, au nom de son Art, nous affectera de passions et fera de nous les ‚supporters’ réels de son monde imaginare.”( Sartre, Saint Marc et son double. Le Séquestré de Venise. Inédit, in: Obliques 24/25, Sartre et les arts (éd. M. Sicard), Nyons 1981 (171-202), Vgl. loc cit., S. 186.)

Schon in der Literaturwissenschaft ist Sartres Beitrag zur Entwicklung der Rezeptionsästhetik übergangen oder nur am Rande erwähnt worden. Er ist kein Kunsthistoriker im eigentlich Sinn, dennoch darf sein Beitrag gerade hinsichtlich der Strategien, wie Künstler ihre Kundschaft miteinbeziehen, nicht unterbewertet werden. Zum einen hat Sartre sich auf Künstler konzentriert, die wie Flaubert, Baudelaire oder Tintoretto für ihre Zeit etwas grundlegend Neues schufen und dieses Ziel auch nur durch aktive Leser- und Betrachterbeteiligung auch im Sinne der Ablehnung und Zustimmung erreichen konnten. Zum anderen hat Sartre immer wieder die Interpretation der Werke durch die Biographien der Künstler mit Nachdruck abgelehnt und stattdessen den Vergleich des Projekts der Künstler mit dem Ergebnis ihrer Werke bevorzugt. Und Sartre hat mit L’être et le néant (1943) ein theoretisches Werk vorgelegt, mit dem er seinen Künstlerporträts ein Fundament verleiht, das im 20. Jahrhundert einzigartig ist. Seine theoretischen Ausführungen zum Blick, zur Freiheit des Menschen und sein Situationsbegriff gehören zu den Grundlagen, mit denen er die Verantwortung des Künstlers und vor allem seiner Rezipienten für die Kunst begründet.

Wenn auch manche Ansätze der Literaturwissenschaft der Philosophie und der Kunstgeschichte auseinanderliegen, so sind fundamentale Verbindungslinien aufzuzeigen, die keinesfalls bloß auf eine beliebige Interdisziplinarität hinweisen, sondern gemeinsame Grundlagen in den Blick nehmen.

Heiner Wittmann

Intellektuelle in Frankreich und Deutschland

Der Intellektuelle und der Mandarin Für Hans Manfred Bock. Hrsg. v. F. Beilecke, K. Marmetschke, Intervalle 8. Schriften zur Kulturforschung, Kassel University Press, Kassel 2005, 809 Seiten.

Im ersten Satz dieser Festschrift, deren Titel an Fritz. K. Ringers Untersuchung Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933 1 erinnert, steht: “Das Konzept des Intellektuellen als Sozialfigur hat in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre verstärkt Eingang gefunden in sozial- und geisteswissenschaftliche Forschungen.” Ein Blick in einschlägige Bibliographien genügt , um einer solchen Feststellung zu widersprechen. Die Arbeiten aus den 90er Jahren von G. Hübinger, W. Mommsen, M. Gangl, G. Raulet, W. Bialas u.a., die in einer Fußnote angegeben werden, rechtfertigen allenfalls die von den beiden Herausgebern beabsichtigte Fokussierung des Themas auf die Frage “ob und in welcher Weise Intellektuelle zur Konstituierung kollektiver Verhaltensdispositionen und Deutungsmuster beigetragen haben.” Die Autoren des Vorworts geben sich alle Mühe, den Blick unnötigerweise einzuengen und den Leser auf eine Geschichte der Intellektuellen anhand vieler individueller Exempla (“akteurszentrierte Arbeiten zu Persönlichkeiten”) einzustimmen. Die Vielfalt der folgenden Artikel verlangt eine Einordnung, in “1. die sozialstrukturellen Entwicklungsbedingungen”, dann “2. die politische Generationszugehörigkeit” und schließlich “3. die informellen Gruppenbildungen”, dadurch wird deutlich, welche Mühen die Herausgeber hatten, die heterogene Sammlung der ihnen vorliegenden Aufsätze in eine gewisse Ordnung zu zwängen, die im Ergebnis keineswegs überzeugt. Immerhin wird im Vorwort auch eine historische Dimension mit der Figur des “Mandarin im Wilhelminischen Kaiserreich” gestreift oder des “kulturellen Mittlers zwischen zwei Nationen (z.B. Diestelbarth und Bertaux)”, womit der erste Satz dieses Vorworts noch einmal in Frage gestellt wird.

Im ersten Teil wird mit einem Aufsatz von Michel Trebitsch über die Geschichte der Intellektuellenforschung in Frankreich eine Perspektive aber nur im Rahmen eines Literaturberichts vorgegeben. Er referiert die Arbeiten von Jean-François Sirinelli, dessen Arbeiten von Pierre Bourdieu einer Analyse intellektueller Milieus ergänzt wurden. Seine Schüler wie Christophe Charle konzentrieren sich auf Untersuchungen hinsichtlich des Grads an Autonomie der Intellektuellen, die von anderen wie Jean-Louis Fabiani auf die Untersuchung von Institutionen ausgeweitet werden. Trebitsch erinnert ausdrücklich an Sartre, der den Intellektuellen vor allem aufgrund seiner kritischen Funktion definierte und ihn als “Anderen” gegenüber dem Staat, der Macht und überhaupt jeder Orthodoxie beschrieb. Mit seiner Bemerkung über Sartre hat Trebitsch wohltuend und ausdrücklich zu Protokoll gegeben, daß für die Theorie ein kaum mehr als 100 Seiten langes Buch wie das Plaidoyer pour les intellectuels 2 von Sartre genügt, und damit hat er den Unterschied zwischen einer biographischen Annäherung aufgrund von Einzelschicksalen und einer Theorie des Intellektuellen hinreichend deutlich gemacht.

Die folgenden Aufsätze des ersten Teils dieses Bandes referieren einzelne Positionen, die für sich genommen meist interessante Ausblicke bieten. Lothar Peter bezeichnet Pierre Bourdieu als “weder ‚totaler’ noch ‚spezifischer’ Intellektueller. Johannes Thomas berichtet unter dem Titel “Jacques Derrida – oder von der Undenkbarkeit eines notwendigen intellektuellen Engagements” über Derridas Amerikakritik und dessen Europakonzeption und begründet seine Einschätzungen mit einer Darstellung der Zeichentheorie Derridas und dessen Auseinandersetzung mit Husserl. Der Beitrag von Christoph Scheerer über die französische Wirtschaftstheorie hinsichtlich der Regulierung der Wirtschaft paßt nicht in den ersten Teil dieses Bandes, in dem noch Eike Henning eine Theorie politischer Kontingenz bei Max Weber und Carl Schmitt andeutet. Er beginnt bei Machiavellis Fürst und entwickelt eine historische Perspektive als Bestandteil einer Handlungstheorie. Machiavellis Trennung von Tugend und Moral ist später durch ideologische Orientierungen ersetzt worden: Mit einer Bemerkung deutet Henning die Überlegenheit Machiavellis an: “Il Principe ist ein Buch, das empirisch dem Verhalten politischer Akteure nachspürt.” Wieso empirisch? Machiavelli untersuchte historische Fakten, zog seine Schlüsse, beschrieb die Auswirkungen der politischen Fehler seiner Zeit und begründete die politischen Wissenschaften. 3 Max Weber gilt bei Henning als Antipode zu Schmitt. Der Beitrag über Pop-Stars und “Vor-Ort-Intellektuelle” von Dietmar Hüser erscheint im ersten Teil etwas unvermittelt, zeigt aber einen interessanten Ausblick auf die Texte der Rapper: “Die meisten Texter sind bestrebt, mit Wörtern als Waffen authentische Straßenliteratur vorzulegen.” Robert Picht berichtet, wie er zusammen mit Hans Manfred Bock als DAAD Lektoren Anfang der siebziger Jahre aktiv an der Veränderung der französischen Deutschland-Studien beteiligt war und wie sie diese Erfahrungen nach ihrer Rückkehr auf Deutschland übertrugen, um die Frankreich-Studien in Deutschland durch Kooperation und interdisziplinäre Ansätze neu zu gestalten. Picht, der lange Jahre Leiter der Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg war, zeigt, wie die verstärkte Interaktion zwischen beiden Ländern notwendigerweise in ein “Stück europäische Öffentlichkeit” mündete.

Der 2. Teil “Der Intellektuelle und der Mandarin seiner Zeit” enthält Aufsätze wie der von Niels Beckenbach über die 1968er Bewegung, über Institutionen, wie der von Nicole Racine über Anne-Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy 4, und von Detlev Sack über Renate Mayntz, Fritz Scharpf (Max-Planck-Institut für Sozialforschung in Köln) sowie viele biographische Artikel über u.a. über Botho Strauß, Lucien Lévy-Bruhl, Arnold Zweig, Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung, Benedetto Croce, Jorge Semprún. Kaum einer der hier vorgestellten Autoren paßt nicht in diesen Teil des Buches; dennoch ist es ein rechtes Durcheinander in zeitlicher und thematischer Hinsicht, das hier dem Leser zugemutet wird. Eine Auswahl der genannten Personen, die stellvertretend für andere eine bestimmten Typus des Engagements repräsentieren, hätte dem Thema und dem Anliegen dieses Buches viel mehr genutzt.

Der 3. Teil ändert die Perspektive und rückt “Intellektuelle und Mittler im deutsch-französischen Spannungsfeld” in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und verrät so auch das Anliegen, des Bandes, der sich im wesentlichen auf die deutsch-französische Geschichte beschränkt. Hansgerd Schulte erinnert an Joseph Rovan (1914-2004) und dessen außerordentliche Verdienste für die deutsch-französische Kooperation in Europa. Weitere Aufsätze untersuchen das Engagement u.a. von Gilbert Ziebura, Edmond Vermeil, Eugen Ewig, Theodor Heuss, Klaus Mann, Heinrich Mann, Felix Bertaux und und Hermann Hesse. Auch hier die gleiche Vielfalt wie im zweiten Teil, die die Bezüge zwischen den Aufsätzen missen lässt, und den Leser enttäuscht zurücklässt.

Die Wirkung intellektuellen Engagements wurde keinesfalls erst zu Beginn der 90er Jahre entdeckt. Wenn Ulrich Pfeil in seinem Beitrag über Eugen Ewig an Ernst Robert Curtius und dessen Band “Deutscher Geist Gefahr” (Berlin 1932) erinnert, so müsste an dieser Stelle auch Karl Mannheim erwähnt werden, wodurch die Bedeutung intellektueller Auseinandersetzungen erst so recht verdeutlicht wird. Dirk Hoeges hat in seiner Untersuchung Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim 5 schon auf Intellektuelle und ‚freischwebende Intelligenz’ in der Weimarer Republik hingewiesen und mehr als deutlich gemacht, dass Intellektuelle, zu denen auch Curtius gehörte, sich sehr wohl einzumischen wussten. Er und Mannheim haben keinesfalls Gelegenheitsschriften verfaßt. Ihrem Engagement und auch ihrer Gegnerschaft zur beginnenden Diktatur in Deutschland lag eine Theorie des Intellektuellen zugrunde (Cf. Hoeges, op. cit., S. 187 ff.), die die hier zu besprechende Festschrift nicht einmal zwischen den Zeilen auch nur erahnen lässt. Es wird die These aufgestellt, dass diese Theorie erst in den 90er Jahren allmählich formuliert wird, und weil dem keinesfalls so ist, fühlt sich der Leser hier zu Recht mehr als irritiert. Die Rolle der Intellektuellen nahm aber auch andere Züge an, die mit dem Aufsatz Die wahre Leidenschaft des 20. Jahrhunderts ist die Knechtschaft (Camus). Die Nationalintellektuellen contra Menschen- und Bürgerrechte. Ernst Jünger, Martin Heidegger, Carl Schmitt 6 verdeutlicht wird. Manche Intellektuelle begaben sich in Abhängigkeiten oder gar Komplizenschaften, wenn auch nur temporär, in jedem Fall ist die Geschichte der Intellektuellen nicht in bloßen Lebensläufen abzuhandeln. Auch Sartre schien solchen Versuchungen nachgeben zu wollen, bis er sich dann aber doch wieder auf die Unabhängigkeit des Intellektuellen besann.

Solche Ansätze, die eine gründliche Analyse der Geschichte der Intellektuellen in diesem Jahrhundert bieten würden, blendet dieser Band aus. Zwar läßt der Titel und der Umfang des vorliegenden Buches eine umfassende Theorie des Intellektuellen vermuten; er enhält aber nicht mehr als eine Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen in Lebensläufen. Das Ergebnis ist enttäuschend, da wichtige Arbeiten zu diesem Thema nicht genannt werden. 7 Und außerdem: Intellektuelle gibt es nicht erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die Weltgeschichte weist genügend Namen von Rang auf, die eine solche Verengung des Blicks keineswegs rechtfertigen, wie dies erst kürzlich beispielsweise in der Festschrift für Dirk Hoeges 8 demonstriert worden ist. Das Bewusstsein der Unabhängigkeit durch die eigene Literatur und das intellektuelle Engagement, das sich als ein roter Faden durch die Literaturgeschichte zieht, war den Autoren von Bernardo Machiavelli, über Luigi Alamanni, Condorcet, Achille Murat, Jacques Maritain bis Camus und Sartre bewußt und selbstverständlich. In diesem Sinne kann es nicht angehen, daß auf einmal ein neuer Begriff erfunden wird, der die Entdeckung des Intellektuellen als Ereignis feiert. Der “zivilgeschichtliche Akteur” (F. Beilecke) ist als Bezeichnung neu, aber die Schriftsteller, die das Ancien Régime zu Fall gebracht haben, hat es schon früher gegeben. Und es ist nicht sicher, dass heutige Intellektuelle es verdienen, ein “fait social” genannt zu werden, wie Beilecke die “Sozialfigur bezeichnet, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in allen Gesellschaften westlicher Prägung in Erscheinung getreten ist.” Davor nannte man sie Schriftsteller und Philosophen, die sich in die Politik einmischten oder durch ihre Werke gesellschaftliche Entwicklungslinien vorzeichneten, und die heutigen “Sozialfiguren” in ihrem Anspruch als Intellektuelle nicht nachstanden, sondern eher überlegen waren.

Die bloße Mitwirkung bei der Gründung binationaler Einrichtungen, wie Beilecke dies vorträgt, genügt indes noch nicht, um der Erkundung der “politischen Handlungsspielräume” ein besonders wissenschaftliches Interesses an einem Ausbau der Netzwerkforschung zuzugestehen. Alle Definitionsversuche, die die Intellektuellen in erster Linie in ein Netzwerk einbinden möchten, entdecken früher oder später, daß die historischen Bezügen ihr wesentliches Netzwerk sind, um sich in der Literatur und in der Politik ihrer Zeit Gehör und Stimme zu verschaffen. Dabei geht es um die Verantwortung des Intellektuellen, die Jean-Paul Sartre 1946 in dem Aufsatz “Ecrire pour son époque9 eindeutig gekennzeichnet hat: Der Künstler und damit ist auch der Intellektuelle gemeint, muß darauf achten, daß sein Werk ausdrücklich als eine Waffe im Kampf, den die Menschen gegen das Übel führen verstanden werde (S. 671). Was von ihm bleibt, ist die Art und Weise, wie er welche Wahl in seiner Zeit getroffen hat, um diese zu überschreiten. Sartre hat das Maß für das Wirken des Schriftstellers und damit der Intellektuellen sehr deutlich formuliert: “…solange seine Bücher Wut, Unbehaglichkeit, Hass, Liebe provozieren, wird er leben, auch wenn er nur noch ein Schatten ist.” 10 Der Abschnitt wird hier zitiert, um eine Dimension aufzuzeigen, die der vorliegende Band nur am Rande streift, ja eigentlich unterschlägt. Es geht nicht um die Taten, es geht um die moralischen und ethischen Implikationen, die das Handeln der Intellektuellen bestimmen, und die dem theoretischen Teil dieser Festschrift einen roten Faden hätten geben können, den die Herausgeber nicht ausrollen.

Für eine solche Theorie gibt es heute wahrlich genug Gründe, zu denen ein ganzer Themenbogen gehört von Europa, über das Thema Krieg und Literatur, die Intellektuellen und der Zustand der Universitäten in Deutschland, die Folgen der Globalisierung, wobei hier nicht die Kritik am üblichen Gerede über dieses Thema gemeint ist, sondern das was Geisteswissenschaftler und Intellektuelle dazu sagen könnten.

Reinhart Meyer-Kalkus erinnert im dritten Teil unter dem Titel an “Die Gärten Epikurs in Sanssouci – Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II. von Preußen” und damit an die deutsch-französischen Kulturbeziehungen im 18. Jahr-hundert. Sein Aufsatz hätte im ersten Teil dieses Buches dazu beigetragen, die notwendige historische Perspektive für alle Autoren dieses Bandes weit zu öffnen. Eva Sabine Kuntz berichtet schließlich über “Deutsche und französische Jugendliche” und deren Begegnungsmöglichkeiten von heute. Joachim Umlauf stellt das Lektorenprogramm des DAAD vor. Damit wird ein nützlicher Ausblick auf die Vermittlertätigkeit gegeben, als Fazit dieses Bandes reicht das aber nicht aus.

Heiner Wittmann
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1. Ringer, F. K., Die Gelehrten, Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart 1987.
2. Sartre, J.-P.,Plaidoyer pour les intellectuels. Première conférence. Qu’est-ce qu’un intellectuel? [Trois conférences données à Tokyo et Kyoto en septembre et octobre 1965], in: ders. Situations, VIII, autour de 68, Paris 1972,., S. 375-400; Deuxième conférence. Fonction de l’intellectuel, S. 400-430; Troisième conférence. L’écrivain est-il un intellectuel? S. 430-455. – Weitere, z.T. schwer zugängliche Texte Sartres zum Thema des Intellektuellen sind zusammen in der deutschen Ausgabe erschienen: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Ar-tikel und Reden 1950 – 1973 (Übs. H. v. Born-Pilsach,  E. Groepler, T. König, I. Reblitz, V. v. Wroblewsky), in: ders. Gesammelte Werke in Einzelausgaben  (Hrsg. V. v. Wroblewsky), Politische Schriften, Band 6, Reinbek bei Hamburg 1995.
3. D. Hoeges, Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein, München 2000.
4. Cf. “Sartre. Littérature et engagement”, Décade in Cerisy-la-Salle unter der Leitung von M. Rybalka  und M. Sicard, 20.-30. Juli 2005 :
5. Cf. Hoeges, D., Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und “freischwebende Intelligenz” in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1994.
6. Hoeges, D., Die wahre Leidenschaft des 20. Jahrhunderts ist die Knechtschaft (Camus). Die Nationalintellektuellen contra Menschen- und Bürgerrechte. Ernst Jünger, Martin Heidegger, Carl  Schmitt, in: W. Bialas, G. I. Iggers, (Hrsg.), Intellektuelle in der Weimarer Republik [Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Band 1], Frankfurt/M. u.a. 1996, (91-104).
7. Cf. Gipper, A., Der Intellektuelle. Konzeption und Selbstverständnis schriftstellerischer Intelligenz in Frankreich und Italien 1918-1930, Stuttgart 1992. Cf. jetzt auch: Buß, M., Intellektuelles  Selbstverständnis und Totalitarismus Denis de Rougemont und Max Rychner – zwei Europäer der Zwischenkriegszeit, Reihe: Dialoghi / Dialogues Band 8, Frankfurt/M. 2005.
8. Rohwetter, C., Slavuljica, M., Wittmann, H., (Hrsg.), Literarische Autonomie und intellektuelles Engagement, Der Beitrag der französischen und italienischen Literatur zur europäischen Geschichte (15.-20. Jh.) Festschrift für Dirk Hoeges zum 60. Geburtstag, Peter Lang, Frankfurt/ M. 2004, darin auch: Buß. M., Intellektuelle und Politik. Deutsch-französische Lernprozesse im 20. Jahrhundert, S. 327-346.
9. J.-P. Sartre, Ecrire pour son époque, in : M. Contat, M. Rybalka, Les écrits de Sartre. Chronologie. Bibliographie commentée, Paris 1970, p. 670-676. Cf. H. Wittmann, L’intellectuel est un suspect, [Vortrag bei der Tagung der Deutschen Sartre-Gesellschaft 1989 im Kloster Walberberg] in: R. E.Zimmermann, Hrsg., Sartre. Jahrbuch Eins, Münster 1991, S. 66-84, wieder abgedruckt in: ders.,  Sartre und die Kunst. Die Porträtstudien von Tintoretto bis Flaubert, Tübingen 1996, S. 165-180.
10. Sartre, loc. cit., S. 676, übers. v. Vf.

Sartre und Foucault


Thomas R. Flynn, Sartre, Foucaul, and Historical Reason. Volume Two. A Poststructuralist Mapping of History, The University of Chicago Press, Chicago, London 2005. ISBN (paper) 0-226-25471-2

Sartre, Foucault und die Geschichte

Dieser kürzlich erschienene Band folgt dem ersten Band “Toward an Exististentialist Theory of History”. Der Autor beabsichtigt eine Rekonstruktion des philosophischen Geschichtsansatzes von Foucault zu unternehmen. In dieser zweibändigen Studie sollen die Geschichtstheorien zweier führender französischer Intellektuellen untersucht werden. Flynn verspricht sich durch diesen Vergleich weiterführende Erkenntnisse vor allem, weil beide sich kannten, aber die Methoden und Konzepten des jeweils anderen rundherum ablehnten. In diesem zweiten Band werden zuerst die Grundlagen des Foucaultschen Ansatzes untersucht, der er in einem zweiten Schritt mit Sartre verglichen wird. In der Einleitung erklärt Flynn detailliert den Aufbau seiner Untersuchung. Das 1.Kapitel führt den Leser in das Denken Foucaults ein und legt drei Abschnitte seines Denkens dar: der archäologische, der genealogische und der problematische Ansatz. Im 2. und 3. Kapitel wird sein Bezug auf die Ereignisgeschichte und sein Nominalismus untersucht, der ihn dazu führt “Macht” an sich in Frage zu stellen und sich auf individuelle Aktionen zu konzentrieren. Es folgen zwei Kapitel, in denen er Autor einzelne Schriften Foucaults analysiert. Im 2. Teil des Buches wird das Werk Foucaults der Dialektik Sartres gegenübergestellt. Auf diese Wei-se wird z.B. das Konzept des “vécu” von Sartre mit dem Foucaultschen Ausdruck der Erfahrung verglichen.

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Lexikon: Frankreich erklären

Bernhard Schmidt, Jürgen Doll, Walther Fekl, Siegfried Loewe
und Fritz Taubert
Frankreich-Lexikon
Jetzt auch in einer broschierten Ausgabe
Schlüsselbegriffe zu Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Geschichte, Kultur, Presse- und Bildungswesen, Erich Schmidt Verlag
2., überarbeitete Auflage 2005, 1224 Seiten, 15,8 x 23,5 cm,
fester Einband, ISBN: 3-503-06184-3

Das Frankreich-Lexikon von Bernhard Schmidt (u.a.) ist in einer zweiten Auflage erschienen. Auf rund 1200 Seiten werden mit rund 600 Artikeln alle bedeutenden Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als Schwerpunkte dieses Bandes behandelt. Der Aufbau dieses Lexikons, sein möglicher Adressatenkreis und seine inhaltliche Vielfalt bestimmen die Konzeption dieses Bandes.

Der Aufbau
Ein Sachregister mit französischen Begriffen und ein Register mit deutsch- und anderssprachigen Begriffen erläutern die Grundidee des Lexikons. Der Schwerpunkt liegt auf der Erklärung Frankreich-spezifischer Besonderheiten (von Abolition des privilèges über Cohabitation, Décentralisation, Grandes écoles, Réformes de l’enseignement bis ZEP), das zweite Register erschließt Begriffe, die im Vergleich zu ihrem Verständnis in Deutschland mit ihren französischen Besonderheiten erläutert werden. Auf diese Weise leistet der vorliegende Band einen sehr nützlichen Beitrag zum Verständnis der beiderseitigen Beziehungen. (s. auch die Auswahlbibliographie, die einen eigenen Abschnitt mit Veröffentlichungen zu den deutsch-französischen Beziehungen enthält: S. 1078-1082) Viele Organisationen, die im beiderseitigen Verhältnis als Akteure auftreten, werden genannt: Deutsch-französischer Kulturrat, Deutsch-französische Hochschule, CIRAC – Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine, Deutsch-französische Brigade, Deutsch-französisches Jugendwerk (DFJW) – Office franco-allemand de la jeunesse: “Es hat sich – neben dem Konsultations-Abkommen – auch als stabilstes Element des Vertrags von 1963 erwiesen.”, S. 948. Dem deutsch-französischen Vertrag von 1963 werden fünf Seiten gewidmet. In seiner Würdigung dieses Vertrages heißt es trotz eines positiven Gesamtergebnisses dieses Vertrages, ” … klaffen gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik, Deklarationen und Realitäten weit auseinander.” (Walther Fekl, S. 950) Die “wechselseitige(…) Einschätzung der beiden Völker” hat sich seit 1963 sehr positiv entwickelt. “Die vom Elysée-Vertrag geschaffenen Institutionen, insbesondere das OFAJ, haben dazu beigetragen.” (ib.) Ein Artikel über den Sprachunterricht in Frankreich (im Vergleich mit Deutschland) hätte den Autoren dieses Bandes die Möglichkeit eröffnet, auf die lange Jahre andauernden eklatanten Mängel (Vgl. dazu: Ingo Kolboom: Was wird aus der Sonderbeziehung? (*.pdf), in: Dokumente, Heft 3, Juni 2000, S. 207-214) gerade in den beiderseitigen kulturellen und bildungspolitischen Beziehungen hinzuweisen, die erst jüngst ganz allmählich, eher halbherzig in den Blick der Regierungen rücken.

Inhaltliche Vielfalt
Interessenten können sich mit diesem Band sachgerecht in kurzer Zeit z.B. einen ausgewogenen Überblick über die Entwicklung der französischen Parteien (Partis politiques, und die Artikel über die einzelnen Parteien, und Gesetz über die Parteienfinanzieung: Loi sur le financement des partis) verschaffen, die historischen Grundlagen der Fünften Republik, wie über viele spezifische Themen der französischen Politik (u.a. ein Artikel Centralisation fehlt > Décentralisation, CSA, Intercommunalité, Laïcité, PAC, SMIC) die zum Verständnis diese Landes unverzichtbar sind. Im Artikel Documents- Revue des questions allemandes hätte die Schwesterzeitschrift Dokumente – Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog unbedingt genannt werden müssen. Sie wird aber in der Auswahlbibliographie unter “Laufende Publikationen” (S. 1069) und im Artikel BILD – Bureau international de liaison et de documentation genannt. Leider wird das Deutsch-französische Institut in Ludwigsburg nicht genannt, das als Anlaufstelle für Frankreich-Interessierte eine wichtige Rolle im beiderseitigen Verhältnis hat.

Lexikonartikel müssen immer auf die Einhaltung bestimmter editorischer Regeln und auf einen Umfang achten, der dem Leser die versprochene schnelle Information gemäß des anvisierten Konzepts auch wirklich vermittelt. Die Autoren müssen oft ihr jeweiliges Spezialthema in aller Kürze darstellen. Es wird daher ihren Lesern leichtfallen, immer mal wieder auf Lücken hinzuweisen. Allerdings schleichen sich oft Bewertungen ein, die durch die Knappheit der Artikel verständlicherweise gefördert werden, aber eigentlich vermieden werden sollten: Camus’ Werk im Artikel Existentialisme als “eher pessimistisch” (S. 375) zu charakterisieren ist eine Auffassung, die als Summe des Werks von Camus nicht unwidersprochen bleiben darf.

Eine Zeittafel mit der sinnvollen Verknüpfung in Form der Hinweise auf die dazugehörigen Artikel, eine Liste mit Internet-Adressen, bei denen ebenfalls die Hinweise auf entsprechende Artikel erscheinen, eine von Siegfried Loewe erstellte Auswahlbibliographie (30 S.) und ein Personenregister ergänzen den Band, erschließen ihn und geben nützliche Anregungen und Ausblicke. Das Fehlen eines Hinweises auf die Website Romanistik im Internet ist nicht unbedingt ein Manko angesichts der Vielfalt der Angebote, mit denen sich Interessierte im Internet über Frankreich informieren können. Die im Frankreich Lexikon versprochenen weiteren Informationen (S. 4) unter esv.info/3 503 06184 3 enthalten künftig vielleicht die notwendigen Ergänzungen zu diesem Band.

Besonders interessant sind die zahlreichen Artikel über alle Medien und Verlage in Frankreich, die neben ihrem heutigen Einfluß und deren geschichtliche Entwicklung knapp aber einprägsam umreißen. Das ist ein Vorteil der zweiten Auflage, die sich auf ein solides Fundament beziehen kann. Zusammen mit vielen Artikeln zu Wirtschaftsthemen und französischen Unternehmen ist dieses Lexikon auch für alle sehr gut geeignet, die sich auf einen Dialog mit französischen Geschäftspartnern vorbereiten wollen. Die Themenbreite wird in diesem Band durch viele Artikel mit kulturellen und historischen Inhalten ergänzt: Chanson française, S: 166-172), Festivals, – im Artikel Intellectuels hätte ein Hinweis auf Sartres Plaidoyer pour les intellectuels (1965) erscheinen müssen -, Nouveaux philosophes, Nouvelle vague, Prix littéraires, RAP, Structuralisme, zur Geschichte u.a. zur Révolution française (S. 839-854) Viele Artikel zum französischen Bildungswesen, einschließlich der Darstellung zahlreicher Institute, Universitäten und Grandes écoles bestimmen die Vielfalt dieses Bandes.

Der mögliche Adressatenkreis
Der Band vermittelt Frankreich-Neulingen interessante Kenntnisse und zeigt auch denjenigen, die schon mit Fankreich vertraut sind, wichtige Zusammenhänge auf. Ein historisches Gerüst, ein Faktenwissen, ein Verständnis politischer Entscheidungen und somit eine Phantasie hinsichtlich möglicher Entwicklungen der deutsch-französischen Beziehungen, für die sich ein Engagement lohnt, ist unverzichtbar. Viele politische Verantwortliche wohl auf beiden Seiten vernachlässigen oft zugunsten kurzsichtiger tagespolitischer oder parteipolitischer Interessen, bestimmte Chancen, um den beiderseitigen Beziehungen das Gewicht wiederzuverleihen, das die Zivilgesellschaft ihnen täglich gewährt, ohne dafür stets die notwendige politische Unterstützung zu erhalten. Viele wichtige Initiativen in der EU hatten ihren Ursprung im deutsch-französischen Dialog, der auf einer immer besseren Kenntnis voneinander beruhte. Wenn dieses Gespann sich immer häufiger verspricht, künftig immer enger zusammenarbeiten zu wollen, ohne entsprechende Taten auch wirklich folgen zu lassen, ist dies ein Hinweis auf solch kurzfristige tagespolitische Interessen, die oft einer sachgerechten Überprüfung nicht standhalten. Genauso wie ein öffentlicher Dialog in Deutschland (noch nicht) oder mit Frankreich über die EU-Verfassung nicht zu erkennen ist, sind effektive deutsch-französische Initiativen zugunsten Europas nicht in Sichtweite. Ein eigener Eintrag Frankreich und die Europäische Union hätte Interessierten zu diesem Thema die Haltung Frankreichs aufzeigen können. In dem vorliegenden Band werden Informationen zu diesem Thema in über 20 verschiedenen Artikeln angeboten, in denen die EU meist nur beiläufig erwähnt wird. Ebenso fehlt laut Register auch ein Hinweis auf den europäischen Verfassungsentwurf. Die historische Entwicklung wird in den Artikeln Cinquième République (EWG, S. 184), PAC – Politique agricole commune, Traité de Mastricht, u.a. dargestellt. Die Gestaltung der deutsch-französischen Zusammenarbeit ist Grundlagenarbeit, wie die jüngst begonnene Entwicklung des deutsch-französischen Geschichtsbuches zeigt. Für diese beharrliche und notwendige Arbeit der Aufklärung und Einsicht in die von vielen ungeahnten Möglichkeiten, die die Beschäftigung mit Frankreich eröffnet, liefert das Frankreich-Lexikon eine gute Basis.

Heiner Wittmann

Dominique Berthet, L’audace en art


Dominique Berthet, (Hrsg.), L’audace en art, Ed. L’Harmattan, Paris, Budapest, Turin 2005. 183 Seiten. EUR 16.50 ISBN 2-7475 -8890-4

Die Aufsätze in diesem Band enthalten die Vorträge einer Tagung, die im Dezember 2002 im Centre d’Études et de Recherches en Esthétique et Arts Plastiques (CEREP) auf Guadeloupe stattfand. Mit den Konferenzen dieser Art setzt Berthet die Themen fort, die in seiner Zeitschrift Recherches en Esthétiques untersucht werden. Die Tagung Audace bezog sich auf die N° 8 dieser Zeitschrift mit dem gleichnamigen Untertitel vom Oktober 2002.

Die Überlegungen zur Kunst, die von den Autoren in diesem Band vorgetragen werden, bezieihen sich auf alle Gebiete der Künste: Plastik, Architektur, Musik, Literatur, Ästhetik und Philosophie. Außerdem soll der Wagemut in der Kunst in verschiedenen Epochen untersucht werden. Außer der Begriffsbestimmung des Wagemuts geht es auch um das Neue in der Kunst, nämlich die Art und Weise in welchem Ausdrucksrahmen, etwas gewagt, kritisiert, ja gestört werden kann. Es geht auch darum, wie eine Unordnung als “Überlebensstrategie” (Guy Scarpetta) provoziert wird. Der Wagemut bezieht sich aber immer auf seine eigene Epoche, in der Kunst als ein besonderes Wagnis erscheint, in einer anderen Epoche ist sie möglicherweise bloß Banalität. Aber auch als Wagnis in, dem sie die Konformisten herausfordert zieht sie Kritik und Verurteilungen auf sich. Diese Überlegungen bilden den Rahmen für diesen Band. Die unterschiedlichen Positionen der Beiträge untersuchen gemeinsam das Potential, das der Wagmut in seinen unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen bieten kann.

Dominique Berthet beschreibt den Wagmut als eine Geisteshaltung, die sich einerseits im Kunstwerk als eine Gefahr auch für den Künstler darstellen kann und die andererseits auch das Verhältnis von Werk und Rezipienten beeinflussen kann. Im Grunde genommen geht es hier auch um die Frage, wie kommt das Neue in die Welt, welchen Anteil kommt dabei den Künstlern und ihren Werken zu? Wie gelingt es Künstlern, sich von herrschenden Normen zu distanzieren und durch die Darstellung auch bekannter Formen auf dem Weg ihrer künstlerischen Umgestaltung ihren Rezipienten neue Betrachtungsweisen zu suggerieren? Jean-Paul Sartre hat in seinen Künstlerporträts vor allem die Werke von Künstlern untersucht, die für Ihre Zeit etwas Neues gemacht haben und gegen viele Widerstände Erfolg hatten. Berthets Überlegungen zu Wagemut und Skandal zeigen ihre Zeitgebundenheit aber zugleich auch, wie beide die Weiterentwicklung der Kunst beeinflussen. Christian Bracy ist Künstler und lehrt am CEREAP. Er berichtet über die Kunstszene auf Guadeloupe mit ihren privaten Galerien, Kulturinstitutionen und dem Engagement der Künstler. Lise Brossard lehrt ebenfalls als Kunsthistorikerin am CEREAP. Sie konzentriert ihren Beitrag auf den Wagemut und die citation, also hier zunächst im Sinne einer Vorladung, die sie anhand zweier Werke von Errós La concubine de Lénine ( 1977) Und Komar & Melamid, The Origigin of Social Realism (1982-1983) untersucht. In beiden Werken geht es aber auch um Anspielungen, mit denen es diesen Künstlern gelingt, den Ort des Wagemuts genau zu verankern. Aline Dallier-Popper lehrte bis 1993 an der Universität Paris VIII. Sie zeigt in ihrem Beitrag anhand ganz unterschiedlicher Werke bis zu Happenings mit welchen Verfahren Grenzen in der Kunst und auch in der musealen Darstellung überschritten werden. Hugues Henri lehrt auch am CEREAP und fragt in seinem Aufsatz ob Paul Chemetov, ein rebellischer Architekt sei? Chemetov versteht seine Architektur als soziale Kunst. Dazu gehört auch die Galérie de l’èvolution des Naturkundemuseums in Paris. Sein Wagemut drückt sich in der Überzeugung aus, daß die Architektur der Moderne ein unabschließbarer Prozeß sei.

Jean-Louis Joachim ist Literaturwissenschaftler und unterrichtet auf den Antillen. Er berichtet über Pedro Juan Gutiérrez und dessen Beschreibungen Havannas. Giovanni Joppolo ist Kunsthistoriker und lehrte von 1981 in Paris und Lyon. Unter dem Titel L’audace, l’effort untersucht er untersucht er den Wagemut Tommaso Marinettis, Georgio De Chirico und Gino Severinis. Alain Joséphine ist Professor am CEREAP und fragt, ob die Musik James Carter eine Poetik des Wagemuts sei? Für Carter gilt die Situationsgebundenheit seiner Musik in besonderer Weise. Allein für sich genommen sei der Wagemut kein Wert, er beschreibt aber Haltungen, die aber auch ein permanenter Bestandteil des Kunstform als Form des Rätselhaften werden können. Hervé Pierre Lambert ist Literaturwissenschaftler und berichtet über La Ruptura, einer Bewegung in Mexiko von 1952-1965, die ihren Namen erst durch eine Ausstellung mit diesem Namen 1988 Kunstmuseum Musée Carillo Gil erhielt. Es ging um Künstler, die sich in diesen Jahren gegen die herrschende Staatsideologie gewandt hatten. Die Bezeichnung wird durch Künstler, die zu dieser Bewegung gezählt werden, in Frage gestellt. Lambert analysiert auf diese Weise, wie eine Kunstform in ihren unterschiedlichen Ausprägungen in einem bestimmten Zeitraum auch von offizieller Seite verstanden wird und wie der Versuch unternommen wird, dies Künstler durch die Präsentation im Museum einen Ort in der Kunstgeschichte zu geben. Frank Popper hat Kunst, Literatur und Geschichte studiert. Er leitete das Kunsthistorische Seminar der Universität ParisVIII von 1970-1983. Er hat zahlreiche Ausstellungen organisiert. Popper stellt u.a. die Arbeiten mit Laser von Dani Karavan, die Holographie von Dieter Jung (Berlin) und des Japaners Katsuhiro Yamagushi vor. Fabienne Pourtein (Universität Lyon II) wie das Créole die Politik und die Kultur geprägt hat. Der Begriff der créolisations (Eduard Glissant) kann dazu beitragen, die gesellschaftliche Entwicklungen auf den Antillen näher zu beschreiben, deren Fähigkeit, kreative Kapazitäten eben auch im Bereich der Kunst unterschätzt wird. Claudine Roméo lehrt Ästhetik an der Universität Paris I. Sie erinnert an die Arbeiten Pierre Bourdieus zur Kunstsoziologie. Jocelyn Valton berichtet über den Streit, den eine Ausstellung anläßlich des 150. Jahrestages der Abschaffung der Sklaverei im Kulturzentrum Rémy Nainsouta in Pointe-à-Pitre ausgelöst hat.

Die Vielfalt der hier vorgestellten Kunstwerke vermittelt einen interessanten Einblick in die Kunstszene auf Guadeloupe und zeigt so an konkreten Beispielen ein theoretisches Problem der Kunst auf, nämlich wie in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen neue Kunstströmungen entstehen und wirken. Dabei werden aber auch Ansätze erkennbar, wie der Wagemut in der Kunst permanente Aspekte erhalten kann. Es ist das Verdienst von Dominique Berthet, die Themenhefte seiner Zeitschrift geschickt durch Kolloquien und Tagungen zu vertiefen. Auf diese Weise werden einzelne Kunstwerke mit anderen Werke in Verbindung gebracht und Berthets vielfältige Ansätze dienen auch der Theoriebildung in ausgesuchten Themenbereichen, wodurch es ihm immer wieder gelingt, die unterschiedlichsten Ansätze zu kanalisieren und auf den Punkt zu bringen.

Heiner Wittmann

Links zum Buch Sartre und die Kunst
Sartre-Gesellschaft
Bibliographie

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