Martin Strickmann über Französische Intellektuelle in Deutschland nach 1945

Martin Strickmann,. L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950. Diskurs, Initiativen, Biografien, Peter Lang, Frankfurt/M. 2004. 512 Seiten. 59.00 EUR / 86.00 sFr.

Mit diesem Band ist es M. Strickmann gelungen, ein faszinierendes Panorama der deutsch-französischen Beziehungen in den fünf Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorzuführen. Viele französische Intellektuelle (u.a. Pater de Rivau, Emmanuel Mounier, Alfred Grosser, Joseph Rovan, Claude Bourdet, Jean Schlumberger) haben bei zahlreichen Begegnungen mit Deutschen, Reisen nach und Vorträgen in Deutschland die Aussöhnung mit den Nachbarland vorbereitet, die 1963 durch den Elysée-Vertrag bekräftigt wurde. Strickmann zeigt, wie die Kulturpolitik in der französischen Zone unter dem Einfluß von Raymond Schmittlein und Jean Morau gestaltet wurde. Er läßt die privaten Initiativen und die verschiedenen Foren Revue passieren, in denen sich französische Intellektuelle zu den beiderseitigen Beziehungen geäußert haben. Die präzisen Analysen der unterschiedlichen Institutionen und Vereinigungen beeindrucken durch ihre Materialfülle, das diesen Band beinahe zu einem biographischen Nachschlagewerk werden lässt. U. a. werden die Reisen Alfred Grossers 1947 nach Deutschland, ebenso wie die Jean-Paul Sartres und Simone de Beauvoirs 1948 nach Berlin detailliert dargestellt. (S. 161-174.) Die zahlreichen biographischen Skizzen, die allerdings durch die ausgeprägte Feingliederung der Arbeit zum Teil etwas unverbunden nebeneinander erscheinen, vermitteln präzise und aufschlußreiche Einblicke und lassen auch die Auswertung bisher nicht bekannter Quellen erkennen. Auf diese Weise erläutert er die Herkunft vieler Intellektueller und ihre Beweggründe, sich für die Annäherung mit Deutschland einzusetzen. So wird der Zeitraum der Untersuchung weiter gefaßt, als dies der Untertitel erahnen lässt. Diese Beobachtung gilt auch für die Protagonisten dieses Bandes. Strickmann erwähnt immer wieder die deutschen Gesprächspartner und geht so über die selbst gesetzte Einschränkung auf die französischen Intellektuellen hinaus. In bezug auf Curtius und Gide, die Strickmann beide nennt, darf allerdings die Untersuchung von Dirk Hoeges Kontroverse am Abgrund. Intellektuelle und “freischwebende Intelligenz” in der Weimarer Republik (Frankfurt/M. 1994) in der Bibliographie nicht fehlen.

Strickmann unternimmt in seiner Einleitung eine lange Rechtfertigung, mit der er den Ort seiner Arbeit beschreibt. Sein Thema ist “interdisziplinär an den Schnittstellen zwischen Geschichtswissenschaft, Romanistik, Germanistik, Philosophie, Soziologie du Politologie angesiedelt.” Seine Begründung zielt als Kritik ins Mark der gegenwärtigen Romanistik: “Da sich die deutsche Romanistik hauptsächlich als Textwissenschaft versteht, erklärt sie sich für diese Themen häufig für nicht zuständig.” (S. 19 (Als Ausnahmen nennt er in einer Fußnote “u.a. Joseph Jurt, Frank Rutger Hausmann und Michael Nerlich”.) Aber auch bloße Textwissenschaft im Rahmen der Romanistik kann sich auf die Dauer historischen, philosophischen und soziologischen Zusammenhängen und Beziehungen nicht entziehen. Es ist doch gerade die Vielfalt der Romanistik auch als eine Kulturwissenschaft, die die Nachbardisziplinen und auch die Vertreter des eigenen Faches immer wieder herausfordert. Nein, M. Strickmann muß seinen umfassenden Ansatz keinesfalls rechtfertigen; es stimmt aber dennoch nachdenklich, daß er auf den Gedanken kommt, den Ansatz seiner Untersuchung in dieser Ausführlichkeit zu rechtfertigen.

Ein weiterer Ansatz seiner Arbeit muß in Frage gestellt werden. Der Intellektuelle ist als Begriff und als Bezeichnung mit der Dreyfus-Affäre entstanden. Zolas J’accuse ist aber keinesfalls die Geburtsstunde des Intellektuellen. Kritische Publizisten, Literaten, Schriftsteller, die mehr oder weniger ausgeprägt eine Autonomie für sich und folglich auch eine Unabhängigkeit für ihre Werke reklamierten, hat es auch in den vorangegangenen Jahrhunderten immer schon gegeben. Machiavelli mit seinen in bezug auf seine eigene Tätigkeit distanzierten Analysen schrieb als Intellektueller, wobei er wie selbstverständlich auf allen Gebieten der Kultur vom Theater über die Literatur, die Geschichtsschreibung, mit seiner Korrespondenz und seinen politischen Analysen überall gleichermaßen brillierte, ganz so wie Sartre die Orientierung des Intellektuellen am Universalen forderte. Die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, die dazubeigetragen haben, das Ancien Régime zum Einsturz zu bringen, gehören auch in die Reihe der Autoren und Schriftsteller, die am Ende des 18. Jahrhunderts Intellektuelle genannt wurden. Die Wortgeschichte des Begriffs des Intellektuellen ist für sich genommen interessant, sie darf aber keinesfalls dazu dienen, den Typus, den dieser Begriff in den Blick nimmt, auf eine bestimmte Epoche zu reduzieren.

Die Länge des vorliegenden Bandes ist kritisch zu bewerten. 512 Seiten und 2038 Fußnoten lassen vermuten, daß hier die Vielfalt protokolliert wurde. Eine Dissertation darf keine Materialsammlung sein, sondern der Autor sollte nachweisen, daß er ein Thema in einem bestimmten Umfang darstellen kann. Hier fehlte die ordnende Hand des Doktorvaters, der zumindest im Hintergrund eine Beschränkung auf die Herleitung der entscheidenden Erkenntnisse, auf die Darstellung eines synthetischen Blicks und der wesentlichen Aussagen drängt. Eine solche Gewichtung fehlt in dieser Arbeit, alle Initiativen erscheinen als gleich wichtig und von den gleichen Erfolgen gekrönt. Eine Schlussbetrachtung von 38 Seiten stimmt auch skeptisch, zumal diese biographische Elemente noch einmal aufnimmt und mit den Vergleichen von Lebensläufen weitere Erkenntnisse zu gewinnen versucht.

Es ist zweifelsohne ein sinnvoller Ansatz, die Nachkriegszeit mit einer Konzentrierung auf die Biographien darzustellen, da der Prozess der Verständigung tatsächlich von einigen Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer persönlichen Geschichte für diese Aufgabe besonders prädestiniert waren, entscheidend beeinflusst und vorangetrieben wurden. Allerdings sind biographische Skizzen dann doch auch wieder häufig Beiwerk, die den Leser irritieren, weil sie den eigentlichen Gang der Darstellung verwirren. Die Wirkung vieler Autoren beruht nicht unbedingt auf ihrer Biographie, sondern entsteht aufgrund der Rezeption ihrer Werke in bestimmten Umständen, die ihre Biographie nicht erläutert. Die geraffte Darstellung der Philosophie Sartres (S. 65) ist dafür ein Beispiel. Solche Verkürzungen führen dann zu Begriffen wie die Kennzeichnung seiner Philosophie als “nihilistisch” und “pessimistisch” “mit dem Grundtenor von Entfremdung, Ekel, Absurdität und Verzweiflung” (ib.) Derlei Verkürzungen sind kein guter Ausweis für die andern biographischen Skizzen und folglich für die Gewichtung anderer Intellektueller in diesem Band. Genauso wird Camus’ “Philosophie des Absurden” in unangemessener Form als pessimistisch apostrophiert. Die resümeehafte Darstellung seiner Lettres à un ami allemand wird ihrer Bedeutung nicht gerecht, wenn ihre Wirkung nicht zumindest ansatzweise untersucht und hier skizziert wird.

Von M. Strickmann darf mit Recht nun eine Darstellung erwartet werden, die die Strategien die französischen Intellektuellen zur Beförderung der Verständigung analysiert. Die Einordnung der Intellektuellen in verschiedene Gruppen und Zirkel könnte zugunsten einer themenzentrierten Darstellung weichen. Vergleicht man dann diese Aufbruchszeit mit dem aktuellen intellektuellen Klima der deutsch-französischen Beziehungen, muß der Bogen einer solchen Darstellung naturgemäß viel weiter gespannt werden. Dann müßte allerdings der Untersuchungszeitraum zumindest bis 1963 ausgedehnt und auch deutsche Intellektuelle miteinbezogen werden. Das Enddatum der Untersuchung ist hier noch willkürlich gewählt, wohl um den Seitenumfang zu beschränken. Einzeluntersuchungen zu den deutsch-französischen Beziehungen in bestimmten Zeiträumen haben wie diese Arbeit von Martin Strickmann im Sinne der Grundlagenforschung sicher ihrer Existenzberechtigung, sie sind aber immer nur ein Ausschnitt der gemeinsamen Geschichte mit Frankreich, deren wirkliches Potential nur mit Studien, die längere Zeiträume umfassen, aufgezeigt werden kann.

Heiner Wittmann

Jean-Paul Sartre, eine Einführung

Martin Suhr,
Jean-Paul Sartre zur Einführung,

2. vollständig überarbeitete Auflage,
Hamburg:
Junius,2004.
ISBN 3-88506-394-8

Die Feststellung in der Einleitung, Sartres Einfluss, der sich u.a. “auf seine Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Kommunismus” bezieht , sei nach dem Zusammenbruch des Ostblock “zu einer lediglich historisch interessierenden Epoche geworden” (S. 12) – auch wenn Suhr, dies hier nur als mögliches on-dit anführt – enthält eine Bewertung, die ihm die Unabhängigkeit, die Sartre für sich in Anspruch nehmen wollte, nicht zugesteht. – Seine Wegbegleitung der PCF in den fünfziger Jahre, er spricht im Interview mit M. Contat von einer “voisinage”, (Sartre, Autoportrait à 70 ans, in : Situations, X, S. 181) war kein bloßes Mitlaufen, sondern auch von dem Versuch geprägt, auf die Partei einzuwirken. Das Scheitern dieses Versuchs ist ein anderes Thema. Es ist genauso erstaunlich, daß Sartre als Zielscheibe heftigster Kritik der PCF um 1947 beinahe nie genannt wird. – Seine Dramen werden, so Suhr, wenig gespielt, seine Romane werden wenig gelesen (cf. I. Grell, Les chemins de la liberté), aber er vermutet, daß seine Biographien und seine philosophischen Schriften seinen Nachruhm begründen. Das Thema seines Gesamtwerkes resümiert Suhr mit einem Zitat aus Saint Genet. Comédien et martyr (1951): “Es geht um die Leidenschaft, die Menschen zu verstehen.” (Saint Genet, S. 219). Wie aber kommt es dazu, daß Sartre versucht, “den Existentialismus dem Marxismus einzuordnen”, fragt Suhr, mit der er seine Position grundsätzlich verändert. Die Antwort auf diese Fragen will Suhr in den philosophischen Schriften Sartres finden. Es ist richtig, daß Suhr ausdrücklich auf die Bedeutung seiner literarischen Schriften für jede Einführung in sein Werk hinweist.

Es folgen sechs Kapitel, in denen Suhr Les Mots (1960), das Dasein als ästhetisches Phänomen (La nausée, 1938, L’existentialisme est un humanisme, 1947), den Geist der Ernsthaftigkeit (L’enfance d’un chef, Réflexions de la question juive), den Menschen als ein nutzlose Passion (L’être et le néant) und die Questions de méthode vorstellt.

Suhr unterstreicht die Ironie und den Witz in Les mots, wo eine Resignation des Autors erkennbar wird, und folgt der Kapiteleinteilung “Lesen”, Schreiben”. Beinahe beiläufig aber dennoch eindeutig erklärt Suhr die Einführung grundlegender Konzepte wie das Nichts, die Unaufrichtigkeit, die Wahl und die Existenz, mit denen Sartre seine Autobiographie strukturiert, die auch als Porträt eines sich entwickelnden jungen Schriftstellers, der von seiner Mission überzeugt ist, gelesen werden könnte. In Les mots werden diese Konzepte so genutzt, als ob der kleine Poulou damals mit ihnen zielstrebig seine Karriere vorbereitet habe. Die Ironie in bezug auf die eigenen Arbeiten kann eigentlich nur erkannt werden, wenn seine philosophischen Grundgedanken dem Leser vertraut sind.

Das Porträt des Roqentin in La nausée (1938) könnte, würde man der Anordnung in Suhrs Einführung folgen, eine Fortsetzung von Les mots sein. Sartre erklärt am Ende von Les mots, er sei Roquentin, an dem er “das Muster seines Lebens” zeige. Wieder geht es um die Konzepte wie Kontingenz, Wahl, die Angst, und es folgt die Einsicht Roquentins, daß sein Denken die Existenz rechtfertigt, woraus seine Verantwortung entsteht. Der Autodidakt hilft ihm bei seinem Erkenntnisprozeß. Roquentin erkennt schließlich die Bedeutung der Kunst: “Die Welt der Kunst ist eine andere Welt, in ihr gib es ein Sein, das nicht Existieren ist; ein Sein der Ordnung und Vollkommenheit.” (Suhr, S. 64.) Diese Einführung in La nausée ist sehr lesenswert, da es Suhr gelingt, den Zusammenhang der Konzepte untereinander zu verdeutlichen, wodurch der Leser geradezu aufgefordert wird, in L’être et le néant (1943) weiterzulesen.

Im genannten Interview mit M. Contat wird Sartre 1975 danach gefragt, was er vom Begriff des Existentialismus halte, und antwortet, der Begriff sei “idiotisch”. (Sartre, Autoportrait à 70 ans, in : Situations, X, S. 192.) Er gibt dann aber doch zu, daß er ihm der Bezeichnung “Existentialist” in Bezug auf seine eigene Philosophie vorziehe. Er selber war mit dem Druck seines so erfolgreichen Vortrags L’existialisme est un humanisme (1947) eher unzufrieden, wohl weil er die darin enthaltenen Ausführungen als eine Verkürzung seiner Philosophie betrachtete. Suhr stellt diesen Vortrag vor der Analyse von L’être et le néant (1943) vor und ergänzt auf diese Weise die bereits in seinen literarischen Werken dargestellten Konzepte seiner Philosophie. Mit längeren Zitaten erläutert Suhr die Struktur dieses Vortrags, der, so Suhr, die existentialistische Philosophie als optimistisch kennzeichnet und sie als eine “Lehre der Tat” (S. 74) beschreibt. In diesem Sinn sei der Mensch “ständig außerhalb seiner selbst”. Damit will Suhr die Perspektive auf L’être et le néant öffnen.

Die Kindheit eines Chefs (1938) und die Réflexions sur la question juive (geschrieben 1944, veröffentlicht 1947) gehören nach Suhr eng zusammen. Die Réflexions sind die theoretische Version der Erzählung von 1938. Andere Autoren (H. Ahrendt, M. Loewenstein, S. 85) haben diese Fragen auch behandelt, aber Sartre war der erste in Frankreich, der diese Überlegungnen in dieser Systematik vorgetragen hat. Für Sartre gilt “Mit einem Wort, der Antisemitismus, ist die Furcht vor dem Menschen.” (in: Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, übers. v. V. v. Wroblewsky, Reinbek b. Hamburg, 1994, S. 36), und damit wird die Frage nach der “Urangst vor dem Ich” (S. 85) gestellt, die Suhr anhand der Lektüre von L’être et le néant untersuchen will.

Eine “Grundlegung der existentialistischen Hermeneutik” wird mit L’être et le néant angeboten. Mit den Mitteln, mit denen der Mensch sich selbst begreifen kann, so Suhr, kann der Mensch auch andere begreifen. (S. 86). Auf den folgenden 80 Seiten, also der Hälfte seiner Untersuchung erklärt Suhr die Struktur von L’être et le néant und Sartres Argumentation. “An-sich-Sein” und “Für-sich-Sein”, das zentrale Begriffspaar wird zuerst erläutert, dann folgen Erklärungen zur Ontologie und zur Phänomenologie, lautet der Untertitel doch Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Den zentralen Begriffen ‘Angst” und “Freiheit’, dem hegelschen Begriff des Selbstbewußtseins, dem Begriff “Für andere’ und schließlich der Freiheit werden eigene Kapitel gewidmet. Suhrs Darstellung profitiert von dem Aufbau seiner Einführung, in der er zuerst die Anwendung der Konzepte vorstellt, deren theoretische Zusammenhänge er im Kapitel über L’être et le néant eingehend erläutert. Mit mehreren graphischen Darstellungen (S. 93, 102. 130 f.) erläutert er den Gang der Argumentation Sartres. Die Wahl, die wir sind, ist ein Ausdruck der Freiheit des Menschen. Die Methode, mit der versucht werden kann, diese Wahl zu begreifen, nennt Sartre die existentielle Psychoanalyse. (S. 159) Suhrs Einführung in L’être et le néant erleichtert den Zugang zu diesem Werk. Mit Recht weist er darauf hin, daß in diesem Werk die Antworten auf die Fragen gegeben werden, die in den Werken vor und nach L’être et le néant von Sartre gestellt werden. In diesem Sinne enthält dieser Band eine Begründung der menschlichen Freiheit, deren Aktualität ungebrochen ist.

Questions de méthode veröffentlichte er 1956 zuerst in einer polnischen Zeitschrift und dann stellte diesen Artikel 1960 vor die Einleitung in der Critique de la raison dialectique. Suhr betont, daß dieser Artikel zeigt, wie, Sartre Grundsätze des “historischen Materialismus” (S. 164) aufgreife, um mit ihnen seine existentielle Psychoanalyse zu ergänzen, da er die Mängel dieser Methode bei der Abfassung der Porträts über Baudelaire (1947) und Jean Genet (Saint Genet. Comédien et martyr, 1951) erkannt habe. Die Kritik, die Sartre aber in den Questions an der Entwicklung des Marxismus vorträgt, zeigt mit welcher Eindringlichkeit er die Verbindung von Marxismus und Existentialismus geprüft hat, ohne seine Grundsätze der Freiheit des Menschen auch nur im geringsten in Frage zu stellen. Sartre entwickelt hier die regressiv-progressive Methode, die bis zum Idiot de la famille seine Künstlerporträts bestimmen wird. Es geht um eine Darstellung der Kindheit. Dann werden die Mittel der jeweiligen Epoche mittels der regressiven Methode erkundet, mit denen die historische Einzigartigkeit der Objekte begreifbar gemacht werden soll, ohne daß die Biographie eine alleinige Rolle bekommt. “Werk, Mensch und Epoche” bilden eine Einheit, die es in einem “ständigen Hin und Her” (S. 170) zu erhellen gilt. Auf diese Weise wird eine progressive Methode der Integration dieser Elemente eingeführt. Mit diesen Erkenntnissen soll dann der Entwurf und sein Ziel formuliert werden. Von der Einführung des Marxismus in seine existentielle Psychoanalyse bleibt im wesentlichen seine Kritik am Marxismus. “…il [i.e.] a entièrement perdu le sens de ce que c’est un homme.” Questions de méthode, in: Critique de la raison dialectique, Paris 1960, S. 58) und “…le marxisme concret doit approfondir les hommes réels et non les dissoudre dans un bain d’acide sulfurique.” (ib. S. 37).

In der Préface (1960), die vor den Questions de méthode steht, erscheint der oft zitierte Satz “…je considère le marxisme comme l’indépassable philosophie de notre temps.” (S. 9), der immer wieder Interpreten dazu dient, aus Sartre einen Marxisten zu machen. Man würde seinem Werk und seinen Auffassungen, besonders der harschen Kritik an der Entwicklung des Marxismus, so wie er sie in den Questions de méthode vorträgt, besser gerecht werden, wenn man aus ihr nicht eine Wende in seinem Denken ableitet. Eine Entwicklung seines Denkens gab es ohne jeden Zweifel (cf. Sartre, Autoportrait à 70 ans, in: Situations, X, S. 180) aber ihre Folgen müssen differenzierter gesehen und bewertet werden. Tat-sächlich analysiert Suhr diese Wende nur auf einigen wenigen Seiten, ohne ihrer Analyse den wirklich notwendigen Raum zu geben. Es ist bedauerlich, daß Suhr nur in einigen kurzen Sätzen auf Sartres Porträt Flauberts in L’Idiot de la famille hinweist, aber dennoch hat er das eigentliche Ziel seiner Einführung erreicht. Der Leser erkennt die Zusammenhänge zwischen seinen literarischen und seinen philosophischen Werken. Zugleich öffnet Suhr die Perspektive auf die Künstlerporträts, vor allem auf die Studie über Flaubert. Und er erinnert daran, dass Sartre 1972 und 1974 in den Streitgesprächen mit Philippe Gavi und Pierre Victor trotz deren Drängen von seinem Flaubert-Buch keinerlei Abstand neh-men will, sondern ihnen die Notwendigkeit, diese Untersuchung weiterzuführen, verdeutlicht.

Kurze Einführungen in ein so komplexes Werk wie das von Jean-Paul Sartre sind nicht einfach auszuführen, aber Suhr ist es durch die geschickte Anordnung seiner Kapitel gelungen, eine Kontinuität im Werk von Sartre aufzuzeigen, die im wesentlichen von “der Leidenschaft, den Menschen zu verstehen” bestimmt wird. Damit beantwortet er auch die eingangs gestellte Frage nach dem, was von Sartre bleibt. Es ist die ungebrochene Aktualität seines Werks, das die Freiheit des Menschen immer wieder hervorhebt.

Heiner Wittmann

Frankreich und Europa

Frankreichs EuropapolitikGisela Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, Frankreich-Studien, Band 9, hrsg. v. H. M. Bock, A. Kimmel, H. Uterwedde, GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004.

Wenn man bedenkt, wie lautlos die deutsch-französischen Beziehungen heute auf der Arbeitsebene zwischen den Ministerien in Berlin und Paris funktionieren, ist es erstaunlich, dass Paris und Bonn in der erweiterten EU anscheinend an Einfluss verloren haben, was möglicherweise auf zuviel Reibungsverluste zwischen Paris und Bonn zurückzuführen ist, oder auch schlicht mit einer ungenügenden Kenntnis voneinander auf vielen Ebenen zu begründen ist. Ein zusätzliches Symptom, wie der stete Rückgang der Schülerzahlen, die in den beiden Ländern die Sprache des Nachbarn lernen, nimmt immer erschreckendere Ausmaße an und trotz mancher erfolgreichen Initiativen, wie beim France-Mobil, ist kein Durchbruch in Sicht. Die Zeit nach den Bundestagswahlen wird einer Berliner Regierung wieder Raum zu neuen Initiativen bieten, mit denen sie an frühere im wahrsten Sinne des Wortes grundlegende europäische Erfolge der deutsch-französischen Europapolitik anknüpfen könnte.

In diesem Rahmen kommt der Band von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet über die französische Europapolitik zum richtigen Zeitpunkt. Im Kern zeigt auch die französische Politik wie manche anderen Staaten ein Zaudern zwischen der Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte und dem europäischen Einigungsprozeß, wie dies erst jüngst die Ablehnung der europäischen Verfassung durch die Franzosen unterstrichen worden ist. Aber der Wahlkampf für das Referendum wurde von innerpolitischen Themen überlagert, die Regierung verstand es nicht, weder daraus ein europäisches Thema zu machen, noch es irgendeiner Form in besonderer Weise mit den deutsch-französischen Beziehungen zu verknüpfen. Der Vertrag wurde als Benachteiligung der nationalen Wirtschaft empfunden und daher abgelehnt.

Dieses Buch zeigt nach einem kurzen Überblick über die IV. Republik die Entscheidungssysteme der V. Republik. Dazu zählt vor allem die starke Stellung des Präsidenten, die de Gaulle mit der Verfassung der V. Republik begründete. Seine Außenpolitik verfolgte mit den Fouchet-Plänen und schließlich auch mit dem Elysée-Vertrag von 1963 eine europäische Einigung unter französischer Führung. Die Fouchet-Pläne scheiterten, und der Elysée-Vertrag erhielt von deutscher Seite eine Präambel, die die französischen Pläne durchkreuzte, aber dennoch eine solide deutsch-französische Zusammenarbeit mit Ihren Hoch und Tiefs begründete. Unter Georges Pompidou änderte sich die französische Europapolitik mit der Hinwendung zu Großbritannien. das mit Irland im Januar 1973 in die EU aufgenommen wurde. Giscard d’Estaing baute die Außenpolitik des Präsidenten als “domaine réservé” weiter aus. Seine Zusammenarbeit mit Helmut Schmidt führte zur Schaffung des Europäischen Währungssystems (EWS) und zur Einführung der Direktwahl zum Europäischen Parlament. Es ist interessant, wie Müller-Brandeck-Bocquet de Unterschiede hinsichtlich der europäischen Initiativen der französischen Staatspräsidenten schildert und dabei zu verstehen gibt, wie außenpolitische Faktoren und innerpolitische Umstände und Mehrheitsverhältnisse und natürlich die Person des Präsidenten die europapolitischen Entscheidungen in Frankreich prägen.
Sie zeigt auch in ihrem Band, wie Frankreich sich anfangs schon immer zögerlich zu Beginn neuer Initiativen der europäischen Einigung verhielt, dann aber immer wieder und zunehmend immer mehr mit Deutschland zusammen die Initiativen zum Wohl der Gemeinschaft vorantrieb. “Vom Saulus zum Paulus…” nennt die Autorin das Kapitel, in dem sie die Mitterrands Hinwendung zu Europa analysiert. Er, der noch 1956 die römischen Verträge abgelehnt hatte, konvertiert erst zwei Jahre nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten zur Europapolitik. Die Autorin nennt für diese anfängliche Zurückhaltung drei Punkte: Zum einen waren dies innenpolitische Gründen, die mit der Rücksicht auf den linken Rand der PS und die Kommunisten erklärt werden, zum anderen schien sich damit auch eine Distanz zur Politik seines Vorgängers anzudeuten und schließlich konzentrierte sich die neue Regierung zuerst auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese Prioritäten erklären auch, wieso das erste Memorandum zu Europa am 13. Oktober 1981 zunächst folgenlos blieb. Der März 1983 brachte die Wende und der Titel dieses Kapitel geht auf eine Überschrift in der FAZ aus jenen Tagen zurück: Nach dem Abschied von einem Sozialismus “à la française”, eine Art Notbremsung, hielt Mitterrand am 24. Mai 1984 vor dem Europäischen Parlament eine Rede und regte die Schaffung eines neuen Vertrags an. Gleichzeitig rückte Mitterrand die deutsch-französischen Beziehungen wieder in Mittelpunkt. Er und Helmut Kohl wurden zum deutsch-französischen Tandem, von dem das Foto in Verdun am 22.9.1984 als beide Hand in Hand der Toten gedachten in aller Erinnerung geblieben ist.

François Mitterrand wurde 1986 mit der Kohabitation konfrontiert und beharrte ausdrücklich auf den Vollmachten seines Amtes, die nach seinen Worten von einer Wahl, die ihn nicht beträfe, in keiner Weise eingeschränkt würden. Nach seiner Wiederwahl im Mai 1988 kam es 1993 zur zweiten Kohabitation mit dem bürgerlichen Lager. Die Zeitenwende von 1989/90 war tatsächlich eine Zäsur, die François Mitterrand ebenfalls nach anfänglichem Zögern entschlossen zu nutzen verstand, indem er seinen Teil zum Gelingen des Maastricht-Vertrages beitrug. Dennoch versteht die Autorin die französische Maastricht-Debatte als das “Ende des goldenen Zeitalters für Europa”. Wiederum waren es vor allem innenpolitische Streitigkeiten zwischen den Anhängern der europäischen Integration und den Skeptikern, die nationale Souveränitätsrechte in Gefahr sahen. Müller-Brandeck-Bocquets Analyse dieser Jahre zeigt in überzeugender Weise die Auswirkungen der parteipolitischen Diskussionen auf die Europapolitik der Regierung und die des Staatspräsidenten. Es lohnt sich, diese Analyse zur Kenntnis zu nehmen, da einige der damaligen Vorbehalte, wenn auch unter leicht veränderten Vorzeichen, kürzlich das Referendum zum EU-Vertrag scheitern ließen.

Mitterands Nachfolger Jacques Chirac, der am 17. Mai 1995 gewählt wird, wurde nach seinem mißglückten Kalkül im April 1997 hinsichtlich der Auflösung des Nationalversammlung mit einer Kohabitation konfrontiert. Die Autorin untersucht eingehend die Gründe, die zu diesem Fehler geführt haben und kommt zu dem Schluß, daß möglicherweise außer innenpolitischen Erwägungen auch Widerstände aus den eigenen Reihen, z.B. die Charles Pasquas gegen die Europapolitik, eine Rolle gespielt haben könnten, und den Präsidenten zu dem Versuch veranlasst haben, die eigene Position mittels Neuwahlen zu stärken. Die Kohabitation mit dem Premierminister Lionel Jospin führte kaum zu institutionellen Veränderungen der Gewichte zwischen dem Staatspräsidenten und der Regierung, die die Autorin eingehend analysiert. Details wurden der Regierung überlassen, aber Chirac steuerte einen “harten Europakurs”, wohl auch um Kritikern aus den eigenen Reihen zuvorzukommen. Auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommt in der Darstellung der Autorin nicht zu kurz. Sie macht auch deutlich, daß dieses Thema in Frankreich einen offenkundig besonderen Stellenwert besitzt. Das Versagen Europas in Ex-Jugoslawen überzeugte die anderen Staats- und Regierungschefs sich wieder den französischen Vorstellungen eines “Europe Puissance” anzunähern.
Die Irritationen nach dem Amtsantritt der rot-grünen Koalition in Berlin, für die der Autorin zufolge beide Seiten verantwortlich waren, führten 1999 dann doch wieder zu der Einsicht, daß die deutsch-französischen Beziehungen reaktiviert werden sollten, wie dies der damalige Außenminister Hubert Védrine wünschte. Auf dem Gipfel von Nizza wurde hart um die Ausgestaltung der künftigen Entscheidungsgrundlagen hinsichtlich von qualifizierten Mehrheits- oder Einstimmungskeitsverfahren gerungen. Das Scheitern des Gipfels wurde zum Fiasko für Chirac, der im Endeffekt seine Vorstellungen nicht durchsetzen konnte. Künftig mußte Frankreich damit rechnen, daß Deutschland mit zwei anderen Mitgliedsstaaten Entscheidungen mittels 38 % der EU-Bevölkerung erreichen kann. (S. 213) Dadurch wurde die Parität zwischen Deutschland und den drei Großen außer Kraft gesetzt, erklärt die Autorin. Die Kompliziertheit dieser Vorgänge enthält sicher auch schon den Keim zum Scheitern, des EU-Vertrags, da diese Feinheiten der Stimmverteilungen kaum zu vermitteln sind. Es ist dennoch interessant, der Analyse der Autorin zu folgen, da es ihr gelingt die Ausgangssituation für das europäische Vertragswerk dazulegen.

Nach seiner Wiederwahl 2002 wurde nach dem im Oktober 2002 erreichten Kompromiß in Sachen Agrarreform der 40. Jahrestag des deutsch-französischen Vertrags von Paris und Berlin zum Anlaß für eine Reihe neuer Initiativen genutzt, die mit der gemeinsamen Erklärung zu diesem Jahrestag unterstrichen wurden, und die weitgehend in den Verfassungsentwurf übernommen wurden. Der Irak-Krieg hatte die EU auf eine Bewährungsprobe gestellt und das Versagen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gezeigt. Die EU war unfähig gewesen, eine gemeinsame Position zu vertreten. Schröder und Chiracs Widerstand gegen den Irak-Krieg mit der Aussicht auf ein französisches Veto wurde von einigen Staaten als der Versuch, Europa zu spalten, verstanden. Die Frage, ob die deutsch-französischen Beziehungen für Europa ein “Spaltpliz” oder ein “Katalysator” seien, beantwortet die Autorin mit dem Hinweis auf dem in der Irak-Krise erneut erfolgten Schulterschluss zwischen Paris und Berlin, den beide Länder nutzen, um “ihre angestammte Motorenrolle” wieder aufzunehmen. Der Erfolg der Zusammenarbeit zeigt sich darin, daß beinahe alle deutsch-französischen Vorschläge im Konvent übernommen wurden.

Frankreich, so lautet das Fazit der Autorin, ist in den Jahrzehnten seit der Gründung der EWG zu Integrationsschritten mit dem Verzicht auf Souveränitätsrechten nur bereit, wenn zentrale nationale Interessen auf dem Spiel stehen. Der Band wurde vor dem Referendum zum Europavertrag veröffentlicht und schließt mit der Hoffnung, das Projekt “Europe Puissance” werde gelingen, wenn Frankreich wieder die Initiative und die Förderung des europäischen Einigungsprozesses übernehmen würde.
Der Verlauf der Jahrzehnte seit Beginn des Europäischen Einigungsprozesses zeigt, wie sehr nationale Europapolitik, also die Einstellung zu Europa von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen in Frankreich geprägt worden ist und welch großen Einfluß Regierungswechsel auf die Gestaltung der Europapolitik haben .

Der Band von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet legt eine gelungene Analyse vor, die das Verständnis der Bedingungen für französische Europa-Politik fördern kann. Gleichzeitig ist der Band auch eine Mahnung an die Adresse der künftigen Bundesregierung, die Chancen, die sich den deutsch-französischen Beziehungen ergeben, künftig besser im Interesse der europäischen Einigung zu nutzen und die gemeinsame Europapolitik mit Frankreich zusammen wieder den Bürgern verständlich macht.

Heiner Wittmann

Sartre. Ohne Literatur und ohne Kunst.

Dorothea Wildenburg,
Jean-Paul Sartre,
Campus Einführungen, .
Frankfurt/M.: Campus Verlag 2004.
ISBN 3-593-37394-7

Die Darstellung, die Dorothea Wildenburg in der Reihe Einführungen bei Campus über Jean-Paul Sartre vorgelegt hat, bietet auf 150 Seiten eine knappe Einführung in sein Werk. Die Konzentration auf seine Hauptwerke, eine für die solche Einführungen verständliche und oft übliche Entscheidung, wirkt sich aber auf das Ergebnis dieses Buches eher nachteilig aus. L’imagination (1936) und L’imaginaire (1938) werden nicht genannt; folglich fehlt auch jeder Hinweis auf die Kunst, mit deren Darstellung Sartre in L’imaginaire seinen Freiheitsbegriff L’être et le néant (Gallimard, idées Nr. 101, S. 343-373) vorbereitet. Überhaupt kommt gemäß dieser Einführung die Kunst im Werk Sartres nicht vor. Spätestens aber mit der Lektüre der Flaubert-Studie wird jedem Leser der Stellenwert der Ästhetik im Werk Sartres auffallen, wenn er in L’idiot de la famille die zahlreichen präzise durchgeführten Analysen der Werke Flauberts entdecken wird. Wildenburg weist mit Recht daraufhin, daß Sartre den Menschen verstehen will, auch wenn sie den von Sartre intendierten totalen, also umfassenden Ansatz nur streift, aber das Verhältnis des Porträtierten zu seinem Werk und damit zur Literatur und zur Kunst als Thema von Sartres Werken nicht nennt. Die Art und Weise, wie sie die Bedeutung der Literatur in der Flaubert-Studie übergeht, ist bedauerlich, aber erklärlich, allein schon weil in dieser Einführung Qu’est-ce que la littérature? (1947) und außer zwei Interviews die Situations-Bände gar nicht genannt werden.

Ein Kapitel berichtet über die existentielle Psychonalyse, über Sartres Freud-Kritik, über seine Suche nach dem konkreten Urentwuf und auf einer Seite über die Flaubert-Studie. Sein Verhältnis zum Marxismus und zu den Maoisten wird im Kapitel “Sartres ‘neue Passion'” abgehandelt, in dem allerdings jeder Hinweis auf die zahlreichen kritischen Äußerungen Sartres zum Marxismus und der PCF fehlen. Der im wesentlichen philosophisch geprägte Ansatz dieser Einführung muß die Verbindung von Philosophie und Literatur, die Sartre durch seine Beschäftigung mit der Kunst geprägt hat, übersehen. Einführungen dieser Art übergehen viele wesentliche Aspekte seines Werkes, sie nehmen wie hier nur einige Werke in den Blick, zeichnen seine vermeintlichen ideologischen Änderungen nach, stellen sein “Sündenregister” (S. 147 ff.) auf und übersehen dabei die erstaunliche Kontinuität, mit der Sartre sein Werk seit der Beschäftigung mit Jaspers (1927) bis zur Flaubert-Studie geprägt hat.

Dennoch hat Wildenburg aber auf ihre Art eine solide Einführung in seine Philosophie vorgelegt. Ihre wichtigsten Begriffe von L’être et le néant, über die demnächst auf deutsch vorliegenden Cahiers pour une morale bis zur Critique de la raison dialectique werden hier in kurzer und prägnanter Form dargelegt und helfen auch beim Verständnis seiner philosophischen Hauptwerke.

Heiner Wittmann

Véronique Taquin, Vous pouvez mentir

Véronique Taquin, Vous pouvez mentir
Editions du Rouergue, Paris 1998, ISBN: 2-84156-128-3

Eines Tages erhält Niels einen anonymen Brief, in dem ihm “A” die Geschichte einer Beziehung mit “B”, die ihn wohl offenkundig verlassen hat, anbietet. Allerdings solle Niels nur Materialien erhalten und die Geschichte selber schreiben. Niels zögert, willigt dann aber während seiner Sendung “Pseudo” mit dem einzigen, kurzen Satz “Ich bin ein öffentlicher Schriftsteller” ein.
Am nächsten Tag erhält er einen weiteren Brief von A und beginnt mit der Niederschrift der Geschichte, die er als Feuilleton in seiner Sendung vorliest. Die einzelnen Episoden, die er aufgrund der Angaben in den folgenden Briefen erfindet, beginnen Niels eigenes Leben zu verändern. Je mehr Hinweise, er in den Briefen von A erhält, umso mehr beginnen Realität und Traum ineinander überzugehen. Ein Roman, in dem der oft bemühte Begriff der Identifikation ein neues Gewicht bekommt. Es geht in der Geschichte oder in den aufeinander folgenden Szenen des Romans um Erwartungen, Lügen aber auch um den Satz, den A in seinem Brief schrieb, “Auf diese Weise ist jeder perfekt frei,” und der eine Grundlage für sein Geschäftsverhältnis mit Niels sein sollte. Ist aber wirklich jeder frei oder nicht doch in ein Geflecht von Verhältnissen eingebunden, aus denen er sich auch durch Lügen nicht befreien kann? In diesem Sinne erforscht die Autorin die Bedeutung der Identifikation und der Leser kann selbst prüfen, ob ihm Niels eher sympathisch ist und ob der Verlauf der Geschichte dieses Urteil beeinflusst. Eine Biographie, die nicht wahr ist, kann schnell zu einem Kriminalroman werden. Und in welchen Momenten droht eine Biographie zu kippen?
Der Autorin ist es gelungen, ein spannendes Buch zu schreiben, in dem die Erzählung und die direkte Rede immer wieder wirkungsvoll ineinander übergehen und die Hauptperson Niels sich zunächst vom Lauf der Ereignisse fortreißen läßt, dann aber doch versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Langsam dämmert es ihm, daß die Fiktion wieder in die Realität übergeht, als er sich für den Lebenslauf seiner Freundin Anna eingehender interessiert und ihn genauer erkunden läßt.

H.W.

“Quand Google défie l’Europe”

Plaidoyer pour un sursaut” lautet der Untertitel des Buches “Quand Google défie l’Europe“, mit dem der Direktor der Bibliothèque Nationale, Jean-Noël Jeanneney, in Paris vor den Folgen von Google Print für die europäische Kultur warnt. Am 14. Dezember 2004 wurde bekannt, daß Google Auszüge aus mehreren amerikanischen Bibliotheken rund 15 Millionen Bücher zum Durchsuchen online zur Verfügung stellen will.

Auf unserere Website: Urheberrecht

Links, die J.-N. Jeanneney in seinem Buch nennt.

Jean Noël Jeanneney, Quand Google défie l’Europe. Plaidoyer pour un sursaut, Editions Mille et une nuits, Paris 2005. Dt. Fassung: Jean-Noël Jeanneney, Googles Herausforderung. Für eine europäische Bibliothek, Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger und Sonja Fink. Wagenbach Verlag, Berlin 2006. ISBN 3-8031-2534-0

Wir rezensieren die frz. Ausgabe:

Am 14. Dezember 2004 kündigten die Betreiber der Suchmaschine Google aus Mountain View in Kalifornien ihre Absicht an, innerhalb von zehn Jahren rund 15 Millionen Bücher zu digitalisieren und mittels ihrer Suchmaschine zum Durchsuchen zur Verfügung zu stellen. Mittlerweile ist Google Print print.google.com weltweit erreichbar. Das Projekt stößt auf das Wohlgefallen der Surfer, die das kostenlose Prinzip im Internet gestärkt sehen. Der Direktor der französischen Nationalbibliothek, Jean Noël Jeanneney, ist keineswegs amüsiert, sondern alarmiert. In LE MONDE nannte er am 22. Januar 2005 das Vorhaben von Google eine Herausforderung für Europa.

Mittlerweile ist Jeanneney vom Staatspräsidenten, Jacques Chirac, empfangen wurde, der ihn mit der Erarbeitung einer Strategie beauftragte. Die Streitschrift, die Jeanneney vorgelegt enthält eine deutliche Warnung vor der digitalen Macht von Google, mit der sich die europäischen Staaten beschäftigen müssen. Jeanneney gibt zwar eine gewisse Bewunderung gegenüber den Begründern von Google zu, will aber der Passivität, mit der vor allem in Europa ihrer Herausforderung begegnet wird, nicht hinnehmen. Die Aufgaben der Bibliothekare und Buchhändler werden mit der zunehmenden Digitalisierung in dem Maße nur noch größer, wie die technische Entwicklung den Unterschied von bloßer Information und überprüften Wissen ständig weiter vergrößert. Jeanneney stellt prinzipielle Fragen. Kann dieses System des Suchens, so wie Google Print es präsentiert, den Ansprüchen, die die Kultur fordert, überhaupt gerecht werden?

Das Übergewicht der USA und der anglophonen Welt werden die französische und auch die europäische Geschichte und Literatur zurückdrängen. Jeanneney nimmt zwar zur Kenntnis, daß Google-Print auch nicht anglophone Werke aufnehmen will, aber die Suche nach dem Stichwort French Revolution führt natürlich schon, ohne daß man einseitige Interessen unterstellen muß, per se nur zu anglophonen Werken. Jeanneney ist fest überzeugt, daß angesichts der sich abzeichnenden technischen Herausforderungen der Staat gefordert sein wird, seine Verantwortung zu übernehmen.

Jeanneney widmet der Verifikation der Inhalte, die bei Google naturgemäß keine Rolle spielen kann, seine besondere Aufmerksamkeit. Bibliographien sind ein Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit, und hier zielt Jeanneney auf die Methode, wie Google-Print seine Ergebnislisten präsentiert. Über kurz oder lang könnte Google-Print die Inhalte und damit die Qualität vieler Bibliographien mitbestimmen, da deren Umfang den Suchenden zumindest im anglophonen Bereich eine Vollständigkeit suggeriert, die man augenscheinlich nur mit Mühe vervollständigen kann. Noch bedenklicher wird es, wenn (nicht nur) Studenten sich in ihren Arbeiten auf das Durchsuchen von Google-Print mittels einschlägiger Stichworte beschränken, um eben noch ihre Seminararbeit mit einigen mehr oder weniger treffenden Zitate abzurunden.

Man muß jetzt und nicht morgen in die Digitalisierung der Kultur investieren, so lautet Jeanneneys Forderung. Und er beschreibt zwei Schwachpunkte von Google. Zum einen ist es die Ausschließlichkeit, mit der Google, ein Produkt, nämlich Suchergebnisse vermarktet, das dem Unternehmen als Einseitigkeit und möglicherweise auch eine Schwäche ausgelegt werden kann, und zum anderen ist die Gesetzgebung gegen die Monopole in den USA, aus der Google Probleme entstehen könnten.

Jeanneneys Aufruf zeigte schnell Wirkung. In einer Botschaft haben sich Frankreich, Polen, Italien, Spanien, Ungarn und Deutschland am 28. April 2005 an den Präsidenten den europäischen Rates Jean-Claude Juncker und an den Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Durao Barroso, gewandt. 19 National- und Universitäts-Bibliotheken in Europa haben den Appell der französischen Nationalbibliothek unterzeichnet, um eine drohende geistige und kulturelle Vorherrschaft der USA zu verhindern.

In seiner Antwortenliste auf häufig gestellte Fragen wendet sich Google auch an Verlage und schlägt ihnen die Teilnahme am Google-Print Programm vor. Verlage können ihre Bücher einsenden. Die Bücher werden dann kostenlos eingescannt und in die Suchmaschine eingegliedert. Die damit verbundenen Urheberrechtsprobleme scheinen von Jeanneney nicht oder kaum bedacht worden zu sein. Der von ihm mit angestoßenen Aktivitäten der Regierungen und Bibliotheken kann eigentlich nicht im Interesse der Verlage sein, von denen nicht jeder ohne weiteres bereit sein dürfte, die Inhalte seiner Bücher auch nur auszugsweise in der von Google konzipierten Weise offenzulegen.

In einer Stellungnahme der Bundesregierung vom 3. Mai 2005 heißt es: “Ein digitalisiertes Kulturerbe in europäischen und internationalen Zusammenhängen wird dazu beitragen, die kulturelle Vielfalt, Forschung und Wissenschaft Europas auch bei Internetsuchen sichtbar zu machen” und verweist auf die europäischen Initiative “The European Library”, die dazubeitragen soll, den Zugang zu den digitalisierten Werke der Mitgliedsländer zu verbessern. Tatsächlich existiert dieses Projekt ( TEL – The European Library) schon, und es kommt jetzt auf den Kooperationswillen der beteiligten Staaten an, dieses Projekt weiterauszubauen.

Europa wird nicht allein durch elektronischen Datenbanken gegenüber den USA konkurrenzfähig. Die europäischen Staaten müßten den Kulturaustausch und die Stärkung er europäischen Forschung mit dem gleichen Elan wie bei der Erstellung von computergestützen Rechercheinstrumenten zur Chefsache machen, denn dieser europäischen Vielfalt kann Google nichts entgegensetzen, wird sie aber zur Kenntnis nehmen müssen.

Ein Beispiel: Sucht man in Google-Print nach Kohl und Mitterand” wird an erster Stelle der Band Unequal Partners: French-German Relations, 1989-2000 von Julius Weis Friend (Westport 2001) angezeigt und die Hinweise (“More results from this book”) auf 33 Belege in diesem Buch, die beide Namen enthalten. (Suchergebnis vom 25. Juni 2005)

Die Suche nach Deutschland” wird mit dem Hinweis auf den von Michael G Huelshoff, Simon Reich, Andrei S Markovits herausgegebenen Band From Bundesrepublik to Deutschland: German Politics After Unification (University of Michigan Press 1993) beantwortet, und an dritter Stelle steht das Buch von Norbert Bachleitner Der englische und französische Sozialroman des 19: Jahrhunderts und seine Rezeption in Deutschland (Amsterdam 1993). (Suchergebnis vom 25. Juni 2005)

Heiner Wittmann


Ein Aufsatz zu diesem Thema wird in DOKUMENTE, Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog im August 2005 erscheinen.

Links, die J.-N. Jeanneney in seinem Buch nennt, und zu diesem Thema mit einigen Ergänzungen


Rezensionen zum Buch von J.-N. Jeanneney
Bloogle
Die Google-Bedrohung  Rundfunk Berlin-Brandenburg
Demokratisierung des Weltwissens oder Diktatur eines angloamerikanischen Kanons?
Vortrag von Jean-Noël Jeanneney am 7. März 2006 in der Französischen Botschaft in Berlin


Beiträge zum Thema Urheberrecht auf dem Blog von Klett-Cotta:
Der Google-Welt-Buchladen und das Urheberrecht – 31. Juli 2009
Leser, Autoren, Verleger und Herausgeber – 22. Juli 2009
Das Urheberrecht ist im öffentlichen Raum – 22. Juli 2009
Johann Friedrich Cotta und die Rechte der Autoren – 3. Mai 2009
Digital und kostenlos? Open Access – 2. Mai 2009
26. April 2009: Tag des geistigen Eigentums – 27. April 2009
Urheberrecht: Digital heißt nicht rechtlos – 26. April 2009

Camus und die Künstler

H. R. Schlette, Der Künstler und seine Zeit, in: Orientierung, Nr. 21, Zürich, November 2003 (227-231).

In dieser Zeitschrift, die vierzehntäglich in Zürich erscheint, berichtet Heinz Robert Schlette unter dem Titel Der Künstler und seine Zeit über Camus’ Vorträge in Schweden, die dieser anläßlich der Verleihung des Nobelpreises 1957 gehalten hat. In seinem Aufsatz möchte Schlette die von Camus in seinen Vorträgen erwähnte Verbundenheit des Künstlers mit seiner Zeit untersuchen.

Mit “L’artiste et son temps” hatte Camus seine Nobelpreisrede überschrieben. Eine “theoretische Reflexion über die Kunst im allgemeinen, und keine “philosophisch abgerundete Ästhetik” ist der Gegenstand dieser Rede. Die vier Tage zuvor in Upsala gehaltene Rede dient Schlette mit Recht als Hintergrund und als Hilfe zum verständnis der Festrede. So wird die in Upsala erwähnte “Galeere seiner Zeit” deutlich, wenn, man den längeren Auszug nachliest, den Schlette aus der Festrede zitiert. Es geht um Camus’ Altersgnossen, die erst zwanzig waren, als das Hitler-Regime entstand, die die Greueltaten des Zweiten Weltkriegs miterlebten, sich den Konzentrationslager und schließlich der Zerstörung und den Bedrohungen durch die Atomwaffen gegenübersahen. Diese Erlebnisse waren für Camus eine Verpflichtung das Schreiben dem Nihilismus entgegenzusetzen. Mit diesen Ausführungen hatte Camus das Verhältnis der Künstler zur Geschichte auf den Punkt gebracht und ein Engagement formuliert, denen sie und die Intellektuellen nicht entkommen konnten.

Camus definiert nicht die Kunst an sich; er nennt sie und bringt sie in eine Verbindung mit der “création”, die die Art und Weise, um welche Art von Kunst es sich handelt, eher im unklaren beläßt. Schlette hat durchaus Recht, wenn er dies erwähnt. Seine folgende Beobachtung, die sich auf den Satz “Embarqué me paraît ici plus juste qu’engagé,” bezieht, muß sicherlich zur Präzisierung der Auffassung Camus’ , die er in eine Parallele mit einem “service militaire obligatoire” setzt, also einer Aufgabe, der der Küsntler nicht entkommen kann,so genannt werden. Aber bedenklich ist es, den Sartreschen Begriff des Engagements, so wie dieser ihn in Qu’est-ce que la littérature? (1947) entwickelt hat, in einen Gegensatz zu Camus’ embarqué zu stellen. Der Schriftsteller ist engagiert, wenn er zu schreiben beginnt, er hat dafür seine Verantwortung zu tragen. Es geht eben nicht um ein linkes Engagement, das Sartre in seinem Manifest zur Literatur und auch später in dem Rede vor der UNESCO La responsabilité de l’écrivain wiederaufgreift.

Schlettes Hinweis auf Pascal und dem im Fragement 233 (éd. L. Brunschwicg) genannten embarqué ist durchaus einleuchtend, zumal der Künstler der von ihm gewählten Situation nicht entrinnen kann, sondern sie gehört zur Identität des Künstlers, wie Schlette schreibt, der hier auch das Engagement im Sartreschen Sinne nennt, und damit dieses als ein linkes Engagement relativiert.

Camus lehnt Kunst als Leichtfertigkeit und als Propaganda ab. Für Camus soll die Kunst in erster Linie verstehen und nicht Künftiges beschreiben. Geschickt zeigt Schlette die Verbindungslinien zu L’homme révolté (1951), in dem Camus bereits seine Ideologiekritik mit den Aufgaben des Künstlers begründet hatte. In diesem Sinne kommt vor allem der Freiheit und der Ungebundenheit des Künstlers eine entscheidende Bedeutung zu. Camus erwähnt auch die Schönheit, die nicht in den Dienst einer Sache gestellt wreden darf.

Schlette kommt zu dem Urteil, daß beide Reden auch heute noch ihre Aktualität besitzen, da Camus Überlegungen zur Kunst auf das “embarqué”-Sein des Künstlers” hinweist, dasr auch heute der Annomyität der Menschen, ihrer Einbindung in Systeme und Gesetzmäßigkeiten entgegengesetzt werden kann.

Heiner Wittmann

Albert Camus, Réflexions sur le terrorisme

Albert Camus
Réflexions sur le terrorisme
Textes choisis et introduits par Jacqueline Lévi-Valensi,
commentés par Antoine Garapon et Denis Salas, Paris 2002.

Die bibliographische Angabe für den Titel des hier zu besprechenden Bandes ist nicht einfach zu formulieren. Die Zusammenstellung der Textauszüge stammt nicht vom Autor selbst, sondern sie ist erst unter dem Eindruck der Ereignisse vom 11. September 2001 von Jacqueline Lévi-Valensi, die emeritierte Professorin der Unversité de Picardie Jules Verne und Vorsitzende der Société des Etudes Camusiennes ist, vorgenommen worden.

Die Begründung für die Auswahl der Texte liegt auf der Hand. In der Tat hat sich Camus immer wieder zum Thema Gewalt, in theoretischer Form in L’homme révolté und mit tagesaktuellen Bezügen zu vielerlei Vorgängen in Algerien geäußert. Die Auszüge stammen aus den Lettres à un ami allemand, aus La Peste, aus L’homme révolté, aus den Theaterstücken L’état de siège, Les Justes und aus zahlreichen anderen Artikeln, in denen Camus unmittelbar zu Fragen der Gewalt Stellung nahm. Auch sein Aufruf zum Frieden in Algerien vom Januar 1956 wurde auszugsweise in diesen Band aufgenommen. Lévi-Valensi ist sich über die religiös-fanatische Dimension der jüngsten Anschläge bewußt, die Camus so in dieser Form nicht gekannt hatte.

Der Leser gewinnt mit diesem Band einen unmittelbaren Eindruck von Camus’ Engagement für die Freiheit und für seine eigenen Überzeugungen, die er immer wieder mit Nachdruck verteidigt hat. Der Wunsch der Herausgeberin, diese Auswahl möge die Leser dazu anregen, die vollständigen Kapitel in L’homme révolté nachzulesen, kann nur mit Nachdruck unterstützt werden.

Die Einleitung von Lévi-Valensi “Albert Camus et la question du terrorisme” ist nun allerdings ein erneuter Nachweis dafür, daß die ästhetische Dimension seines Werkes auch heute noch nicht immer erkannt wird. Zwar erwähnt Lévi-Valensi zu Beginn ihrer Einleitung, daß Camus sich als Künstler betrachtete, aber auf jeden anderen Hinweis hinsichtlich der Kunst z.B. in L’homme révolté verzichtet die Herausgeberin. Die Revolte ist nur der erste Teil der Argumentation, mit der Camus seine Haltung gegenüber dem Absurden begründet. Die ästhetische Dimension von L’homme révolté macht den Künstler und die Kunst selbst zum eigentlichen Träger der Revolte im Sinne Camus’. Außerdem definiert er die Revolte nicht als einen einzelnen Akt, sondern als eine Haltung und diese wird am besten durch den Künstler verkörpert: “L’artiste devient alors modèle, il se propose en exemple: l’art est sa morale.” (Camus, L’homme révolté, in: Essais, S. 463) – Es gibt Zweifel, ob die Revolte, so wie Camus sie versteht, für den vorliegenden Band den geeigneten Hintergrund bilden kann.

Camus Freiheitsbegriff und die Aufgaben, die er dem Künstler und dem Schriftsteller zuweist, stehen in engem Zusammenhang mit der Autonomie der Kunst, die er den Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts und damit auch jeder Form des Terrors entgegenstellt. Aber erst mit den Schlussfolgerungen in bezug auf die Kunst gewinnt L’homme révolté seine enorme Aktualität. Wird die ästhetische Dimension unterschlagen, bleibt der Herausgeberin nur ein eher essayistisches Nachdenken über die unterschiedlichen Formen der Revolte. Selbst ihre historische Dimension, ihr Gegensatz zur Revolution und die Kritik am Marxismus kommen in der Einleitung von Lévi-Valensi nicht vor oder zu kurz, die einer zugegebenermaßen interessanten Idee folgt und auf eine Begründung einer Textauswahl zielt, die dem Anliegen Camus insofern nicht gerecht wird, als die Konzentration auf den Terrorismus nur einen und nicht den entscheidenen Aspekt seines Werkes wiedergibt.

Ohne den Stellenwert der Kunst kann die Bedeutung des letzten Kapitels in L’homme révolté “La pensée du midi” kaum erfaßt werden. Die Auszüge, die Lévi-Valensi für ihren Band aus diese Kapitel gewählt hat, vertiefen einige Gedanken, die Camus in seinem Band bereits vorher in seine Überlegungen miteinbezogen hat. Es geht in dem Auszug u.a. um das Maß und die Grenze bestimmter Handlungen. Im Originalkapitel versucht Camus die Verbindung zwischen der künstlerischen Schöpfung und der Revolte noch einmal mit anderen Worten zusammenzufassen. Es darf bezweifelt werden, ob ihm das gelungen ist, denn in diesem Kapitel verlieren seine Argumente die für ihn sonst so übliche Stärke, vgl. Camus, L’homme révolté, in: Essais, S. 203.

Zu erwähnen ist noch Lévi-Valensis Bemerkung über die Geschichte und den Gegensatz zwischen Camus und Sartre. In seiner Nobelpreisrede hatte Camus 1957 betont, daß der Schriftsteller nicht in den Diensten derjenigen stehen dürfe, die die Geschichte machen, sondern daß er denen zu Diensten sein soll, die die Geschichte erleiden. Die Herausgeberin folgert daraus, Camus habe die Geschichte nicht vergöttert: “Contrairement à Sartre, il n’a jamais cherché ‘comment se faire homme dans, par et pour l’histoire’.” (S. 10) Das Zitat ist nicht korrekt wiedergegeben: Im Original handelt es sich um eine Frage: “Comment peut-on se faire homme dans, par et pour l’histoire?” (Sartre, Qu’est-ce que la littérature? Paris 1948, S. 269, Hervorhebung, W.) Der Unterschied ist nicht sehr bedeutend, aber auch Nuancen können einen falschen Eindruck erzeugen. Wenn man im Original weiterliest, so fragt Sartre auch “Quelle est la relation de la morale à la politique?” (ib.) – Diese Frage hätte als Zitat viel besser gepasst, um die Ähnlichkeit der Anliegen beider hervorzuheben. – Im Nachwort dieses Bandes “Le poison du terrorisme” wirft Denis Salas Sartre vor, im Vorwort zu Frantz Fanons Les Damnés de la terre zum Mord im Namen der Freiheit aufgerufen zu haben, und zitiert den inkriminierten Satz: “En le premier temps de la révolte, il faut tuer: abattre un Européen c’est faire d’une pierre deux coups, supprimer en même temps un oppresseur et un oppressé: restent un homme mort et un homme libre […]” (S. 214, vgl. Sartre, Préface, in: F. Fanon, Les damnés de la terre, Paris 1991, S. 52) Im Original beginnt dieser Satz mit einer Konjunktion “Car, en le premier temps de la révolte…” Und Sartre schreibt nicht “oppressé” sondern “opprimé”. “Car…” verweist auf einen Kausalzusammenhang, der diesen Satz mit dem Vorhergesagten in eine enge Beziehung setzt. Es geht um die Gewalt im Zusammenhang mit der Kolonialpolitik. Sartres Text beschreibt die Perspektiven, die sich ergeben, wenn die Gewalt außer Kontrolle gerät und die Bauern zu den Waffen greifen, alle Verbote werden dann beiseite gefegt, die Waffe wird zu einem Instrument ihrer Humanität. Das ist kein Aufruf zur Gewalt sondern kann auch als Warnung vor kommenden Ereignissen verstanden werden, denn zu Beginn der Revolte wird getötet… Auch hier ist die Nuance, der Fehler im Zitat gering, aber die Aussage Sartres wird dennoch verfälscht, um Camus gegenüber Sartre in ein positives Licht zu stellen. Bei beiden Zitaten geht es Lévi-Valensi und Salas darum, den Gegensatz zwischen Sartre und Camus aufrechtzuerhalten.

Ein oder zwei gut ausgewählte Passagen aus L’homme revolté, die die Bedeutung der Kunst belegen, hätten diesen Band sinnvoll ergänzt. So aber bleibt die Auswahl ein Torso und dieser ist für die Camus-Rezeption leider immer noch bezeichnend.

Heiner Wittmann

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