Wir sollen die Herrschaft über die Computer zurückgewinnen.
Frank Schirrmacher,
Payback .Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen
Blessing, München 2009.
240 Seiten. ISBN: 978-3-89667-336-7
Zwei Teile hat das Buch. Zuerst erklärt Frank Schirrmacher, warum wir hinsichtlich unserer digitalen Welt tun, was wir nicht tun wollen, und im zweiten Teil stellt er Überlegungen an, dass wir und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen müssen. Damit sind auch die Hauptthesen dieses Buches knapp und präzise umschrieben. Die Computerwelt hat uns zu Verhaltensweisen verleitet, die wir eigentlich gar nicht mögen, schon gar nicht wahrhaben wollen. Und so lautet die Botschaft des Autors, es ist für eine Rückbesinnung noch nicht zu spät, allerdings muß die Neujustierung der digitalen Welt, womit er aber im wesentlichen unseren Umgang mit ihr meint, unbedingt bald und ohne Zögern erfolgen. Der Befund ist eindeutig und nach der Lektüre sind die Urteile im ersten Teil des Buches (über 160 Seiten) zwar nicht überall wirklich überzeugend, aber der Autor hat sein Anliegen verständlich formuliert. Leider ist der zweite Teil nur knapp halb so lang und bietet folglich auch nur einige Einsichten und Handlungsanweisungen.
Ohne Zweifel kennt sich der Autor in soziologischen Fragen rund um das Internet vorzüglich aus, wie die zahlreichen Belege dies ausführlich dokumentieren. Seine Berufung auf wissenschaftliche Untersuchungen an vielen Universitäten und die Hinweise auf renommierte Experten bergen aber auch Gefahren der Einseitigkeit, weil eine andere Auswahl möglicherweise andere Ergebnisse stützen könnte. Zum Beispiel warnt er in dem Kapitel „Warum Menschen nicht denken“ vor der Verschiebung der Aufmerksamkeit in „Skripte“ (S. 118 f.), eine Art Drehbücher, die unseren Umgang mit digitalen Informationen bestimmen und die es uns erschweren, zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen zu unterscheiden. Schauen wir uns die Argumentation auf diesen beiden Seiten genauer an: Schirrmacher fragt, was geschehe, wenn unsere Aufmerksamkeit aufgefressen werde, und warum es geschehe? Dann folgt eine rhetorische Frage mit einer eindeutigen Antwort: „Ist es dieser Zustand, den der Computer nutzt und verstärkt, ohne dass wir es merken? Kurz gesagt: Ja, er ist es.“ Das ist aber keineswegs so sicher, klingt aber hier nur so. Dann kommt noch eine kurze Erklärung dieser Bestätigung, bevor der Autor den „britische(n) Mathematiker – und einer der Väter der Informatik – Alfred North Whitehead“ als Illustrierung dieses Gedankens zu Wort kommen lässt, der „die dazugehörige Ideologie stellvertretend für viele formuliert: „,Zivilisation entwickelt sich in dem Ausmaß, in dem wir die Anzahl der Operationen ausdehnen können, die wir ausüben, ohne über sie nachzudenken…‘.“ Man könnte diese Passage auch als eine Art Skript oder Modell für das ganze Buch bezeichnen, weil immer wieder Hinweise auf wissenschaftliche Studien oder Aussagen renommierter Wissenschaftler als Belege von Gedankengängen des Autors erscheinen. Dadurch wird aus dem ersten Teil dieses Buches viel mehr eine Art Wissenschaftgeschichte als eine fundierte Kritik an der Art und Weise, wie wir die digitale Welt nutzen oder diese uns benutzt. Dabei gibt es eine Reihe von Überlegungen oder Analysen, die auch ohne wissenschaftliche Untersuchungen, die im übrigen meistens nur bedingt zu den Thesen oder dem Anliegen Schirrmachers passen, unseren Umgang mit der digitalen Welt und die Missstände und die Gefahren, die daraus erwachsen, viel besser illustrieren könnten.
Schirrmachers Anmerkungen zu den Suchergebnissen von Google sind unvollständig. Es sind nicht alleine die Links, die auf eine Website zeigen, die über deren Platzierung im Suchergebnis entscheiden. Wenigsten 8-10 weitere Kriterien von über 100 wären auch zu nennen. Aber das völlige Ungenügen des Google-Algorithmus, die Websites auf der eigenen Ergebnisseite in eine wie auch immer geartetete sinnvollere Reihenfolge zu bringen, die der Bedeutung der Websites auch nur annähernd gerecht werden könnte, fehlt in den Überlegungen des Autors. Dieses elementare Defizit wird Google kaum je in den Griff bekommen. Schirrmacher benennt ganz richtig – aber aufgrund eines anderen Zusammenhangs – den „Kontrollverlust über Informationen“ (S. 58). Die willkürliche Anordnung von Suchergebnissen hat für Studenten und Schüler fatale Folgen. Sie vertrauen nur allzu gerne aus Bequemlichkeit den oberen Suchergebnissen, nutzen vielleicht auch nicht so häufig die vielen Funktionen, mit denen die Suchabfrage präzisiert werden kann. Die vielen Meinungen über Informationsgewinn aus dem Netz, die Schirrmacher zitiert, verstellen den Blick auf das Wesentliche. Welche Gefahren treten bei der Nutzung von Google auf? Welche Websites werden von Google wohl nicht angezeigt werden, welche alternativen Suchformen gibt es? Hätte der Autor diese Fragen wenigstens gestreift, dann würde man seine Feststellung, sein Buch wäre ohne Google nicht geschrieben worden, die richtige Einschätzung verleihen können. Hat er Google in Kenntnis seiner Defizite benutzt oder so wie alle Google nutzen?
Das Wort Wikipedia kommt nur zwei oder dreimal in seinem Buch vor. Leider fehlt im vorliegenden Band eine eingehende Analyse dieses Mitmachlexikons, mit deren Ergebnis er seine These „Mein Kopf kommt nicht mehr mit“ bestens hätte belegen können. Früher gab es in Enzyklopädien präzise Darstellungen eines Sachverhaltes vielleicht mit einigen gezielten Querverweisen. Heute sind manche Einträge in Wikipedia Pro- oder Hauptseminarbeiten geworden, die bisweilen von seitenlangen Diskussionsseiten ergänzt werden, zu denen bei vielen Beiträgee ein nutzloses Versionsgerangel hinzukommt, die die Thesen und die Klagen Schirrmachers wunderbar illustrieren und seiner Untersuchung eine weitere und besondere Schärfe hätten verleihen können, so dass sie manchen der zitierten Untersuchungen wirklich überlegen gewesen wäre.
Die wenigen Bemerkungen über soziale Netzwerke zeugen nicht von einer profunden Kenntnis von deren Konzeption, Möglichkeiten und Gefahren. (Cf. H. Wittmann, Web 2.0 und soziale Netzwerke,- hier: www.stuttgart-fotos.de/web-2-0-und-soziale-netzwerke – Eine Analyse des ungebremsten Drangs so vieler, in diesen Netzwerken vertreten sein zu wollen, verlangt eine eingehendere Untersuchung. Überhaupt fehlen in diesem Buch Anmerkungen zu Web 2.0, dem Mitmachnetz, um die Frage zu analysieren, ob das mit vielen Web 2.0-Seiten einhergehendes oder vorgegaukelte Mehr an Demokratisierung stimmt, und ob der Begriff der Demokratie sich überhaupt eignet, um die Qualität der Partizipationsangebote zu testen oder zu belegen. Mitmachen und Partizipation, Beeinflussung und Manipulation, die Grenzen sind eben nicht mehr eindeutig zu bestimmen. In diesem Zusammenhang müssten Beispiele und Geschäftsmodelle analysiert und diskutiert werden, um den Partizipationsgedanken von allzu platter Werbung trennen zu können.
Der Autor übernimmt aber lieber Ergebnisse von Studien, so wie das 2007 in den USA durchgeührte „National Enowment of Arts“, mit der das Lesen untersucht wurde. (S. 35) Ihr Ergebnis war die Einsicht, das der Verlust von Lesekonzentration Folgen für den sozialen Aufstieg hat und immer mehr Kinder und Erwachsene nicht mehr systematisch lesen können. Schirrmacher schreibt „Die Studie erbrachte den Beweis für die Veränderung aller Gehirne. Und für die bemerkenswerte Geschwindigkeit, in der die digital entwickelste Gesellschaft der Welt verlernt, komplexe Texte zu erfassen.“ Diese Interpretation der Untersuchungsergebnisse mag zutreffend sein, es stört hier nur, wie diese Studie hier genutzt wird, um in den folgenden Absätzen zu der Einsicht zu kommen: „Unser gesamtes Bildungswesen ist instabil geworden“ (S. 36). Nebenbei bemerkt, der Kritik an den „Zertifizierungen“ „Normen“, mit denen man diesen Missständen abhelfen will, ist voll und ganz zu teilen. Statt sich immer wieder auf Wissenschaftler zu berufen, und die eigene Argumentation an deren Ergebnissen entlangzustricken, gäbe es Beobachtungen in Hülle und Fülle, mit denen die Vermutung „Unser Denkapparat wandelt sich“ vom Autor genausogut hätte belegt werden können. Seminararbeiten, Examensarbeiten und Doktorarbeiten werden durch die Computertechnik immer länger und unlesbarer. Kaum ein Student käme heute noch auf die Idee, seine Arbeit mit Füller auf weißes Papier zu schreiben, wobei er selbst eine wunderbare Entdeckung machen könnte, nämlich die seiner zusammenhängenden Gedanken, die vom Korrekturfunktion der Schreibprogramme ausgelöscht wurden. Der unreflektierte Umgang mit der PC-Technik spiegelt sich auch im oben genannten Informationschaos in Wikipedia wider. Man benötigt keine Studien, in der Art wie Schirrmacher sie immer wieder zitiert, um das Unvermögen vieler mit Schreibprogrammen umgehen zu können, zu analysieren. Ein kürzlich erschienener Band zum
E-Learning 2009 zeigt welche Hoffnungen Pädagogen und Medienwissenschaftler in die PC-Technik setzen. Die Berücksichtigung dieser und ähnlicher Stellungnahmen hätte für Schirrmachers Untersuchung sicherlich weitere interessante Aspekte geliefert.
Die Einsicht Schirrmachers, er hätte sein Buch ohne Google nicht schreiben können, deutet möglicherweise auch auf eine unzureichende Beobachtung und Auswertung unserer Gewohnheiten im Umgang mit der digitalen Welt hin. Ich kenne Studenten, die ganz enttäuscht waren, weil sie keine Sekundärliteratur zu ihrem Thema fanden. Das Werk, das ihnen als Lektüre des Seminars bekannt war, hatten sie noch nicht gelesen und das Googeln hatte Ihnen auch keine Ergebnisse gebracht. Seitdem habe ich Bedenken, wenn Studenten oder auch Autoren sich bei der Informationsbeschaffung auf Google beschränken und ihren Text um die Suchergebnisse herum verfassen.
Aufmerksamkeitsdefizit, Chaos im Kurzzeitgedächtnis, die Vermutung oder Einsicht, „dass die Maschinen uns bereits überwältigt haben“, die Veränderung des Denkens, die Kritik am „Mulitasking“, der Möglichkeit, die zum Zwang mutiert, mehrere Tätigkeiten gleichzeitig auszuführen haben, so der Autor, gravierende Folgen: „Menschen verlieren buchstäblich all das, was sie von Computern unterscheidet – Kreativität, Flexibilität und Spontaneität…“ (S. 69 f.). Ist das wirklich so? Wie immer, da ist ein bisschen was dran und auch wieder nicht. Genauso könnte man mit der Digitaltechnik ein Plus für die Kreativität konstruieren – wie der Autor dies auch im zweiten Teil seines Buches macht.
„In unserer Gesellschaft überlebt nicht mehr, wie es – früher ebenso falsch – hieß, der ‚Tüchtigste‘; sondern der Bestinformierte.“ (S. 121) Mit einem solchen Satz muss man nicht unbedingt einverstanden sein und dies erst recht dann nicht, wenn er am Anfang eines Kapitels steht, also die folgende Argumentation auf dieser Aussage aufbauen. Der Bestinformierte? Gemeint sind wohl diejenigen, die mit den Informationen richtig umgehen können? Auch in diesem Kapitel „Der digitale Darwinismus“ (S. 121-142) zitiert der Autor viele Aussagen von Wissenschaftlern und illustriert damit seine Argumentation. Wenn Studenten die Hnweise auf die Sekundärliteratur n die Fußnoten verbannen und in ihrem Text ihre Argumentation vortragen, können ihre Arbeiten richtig gut werden. Die Arbeitsergebnisse des Soziologen Robert Merton, des Psychologen Geoge Miller, des Philosophen Daniel Dennett, der Informatiker und Kognitionspsychologen Peter Pirolli und Steve Card verleihen der Argumentation Schirrmachers durchaus interessante Aspekte, aber sie machen aus seinem Buch und besonders aus seinem ersten Teil ein Referat über deren Forschungsergebnisse und lenken den Autor und damit auch den Leser vom eigentlichen Thema, wie wir unsere werden Informationen nutzen ab. Das Ergebnis sind dann solche Sätze wie: „Die Auswertung und Analyse unserer Assoziationen, die unsere Aufmerksamkeit im Netz und in allen anderen Informationssystemen lenken und erleichtern soll, halte ich für einen der gravierendsten Vorgänge der aktuellen Entwicklung.“ (S. 142) Man spürt was der Autor hier meint, es geht um die Art und Weise, wie Informationen aufgenommen und von uns, den Nutzern des Internets – und nicht nur durch Hyperlinks – mit anderen Informationen verknüpft wird.
Der Autor betont ausdrücklich, dass sein Buch kein Pamphlet gegen Computer sein soll. (S. 157). Sein erstes Kapitel „Mein Kopf kommt nicht mehr mit“ (S. 13-21) klingt aber ganz anders, bis auf den letzten Absatz, dessen erster Satz „Aber im Internet und den digitalen Technologien steckt auch ein gewaltige Chance…“ den Ton des zweiten Teil seines Buches angibt. Wiederum nennt Schirrmacher viele andere Wissenschaftler und ihre Arbeiten. Aber er kommt auch zu wesentlichen Einsichten, die „Konsequenzen der Informationsrevolution“ in den Schulen und Hochschulen fordern. Recht hat er. Und in diesem Zusammenhang nennt er auch den „Zertifizierungswahn“ und die „groteske Verschulung heutiger Hochschulausbildung“. Und jetzt folgen entscheidende Sätze: „Die Informationsgesellschaften sind gezwungen, ein neues Verhältnis zwischen Wissensgedächtnis und Denken zu etablieren. Tun Sie es nicht, sprengen sie buchstäblich das geistige Auffassungsvermögen ihrer Bewohner.“ Schirrmacher meint wohl, dass die digitale Technik Möglichkeiten bietet, die die Hochschulen bisher nicht wahrgenommen haben. Nebenbei bemerkt, das Wort Informationsgesellschaft ist ein unnützes Kunstwort, Gesellschaften mit mehr oder weniger Information gab es immer. Er meint wohl, dass es auch neue Formen des Umgangs mit Informationen geben wird, aus denen Wissen erzeugt werden kann. Im Grunde genommen öffnet er hier ein weites Feld, nämlich das der Erkenntnistheorien und die werden zunächst einmal nicht grundlegend durch die digitale Technik verändert. Sie gewinnen möglicherweise einige neue Perspektiven hinzu. Es gibt zusätzliche Formen der Wissenserarbeitung, wie die vom Autor zitierte Form der Fragestellung vor einer Vorlesung: „Sie lernen nicht mehr, was sie wissen möchten, sondern was sie nicht verstanden haben.“ Diese Auffassung von einer interaktiv unterstützten Vorlesung teile ich nicht. So etwas entspricht eher der krampfhaften Suche nach einem Anwendungsfeld bestimmter vorhandener Techniken als einer sinnvollen Modifikation des Vorlesungsbetriebs. Aber der Autor ist sich sicher, dass der „Perspektivwechsel in Zeiten des digitalen Lebens“ (S. 221) wichtig ist und kommen wird. Die Gefahren glaubt er bewußt gemacht zu haben: „Aber die Chancen, dass daraus etwas Gutes wird, sind ebenso groß.“ (S. 222) Und: „In den Schulen, Universitäten und an den Arbeitsplätzen muss das Verhältnis zwischen Herr und Knecht, zwischen Mensch und Maschine neu bestimmt werden.“ Die vielen interessanten Ansätze des zweiten Teils wären in ausführlicherer Form noch einleuchtender geworden. Vielleicht haben die vielen interessanten Suchergebnisse zu den Themen des ersten Teils zum Ungleichgewicht dieses Buches mit beigetragen.
Ein Website mit den anklickbaren Links in der Bibliogaphie wäre eine gute Ergänzung für dieses Buch.
Heiner Wittmann
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