Intellektuelle in Frankreich und Deutschland

Der Intellektuelle und der Mandarin Für Hans Manfred Bock. Hrsg. v. F. Beilecke, K. Marmetschke, Intervalle 8. Schriften zur Kulturforschung, Kassel University Press, Kassel 2005, 809 Seiten.

Im ersten Satz dieser Festschrift, deren Titel an Fritz. K. Ringers Untersuchung Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933 1 erinnert, steht: “Das Konzept des Intellektuellen als Sozialfigur hat in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre verstärkt Eingang gefunden in sozial- und geisteswissenschaftliche Forschungen.” Ein Blick in einschlägige Bibliographien genügt , um einer solchen Feststellung zu widersprechen. Die Arbeiten aus den 90er Jahren von G. Hübinger, W. Mommsen, M. Gangl, G. Raulet, W. Bialas u.a., die in einer Fußnote angegeben werden, rechtfertigen allenfalls die von den beiden Herausgebern beabsichtigte Fokussierung des Themas auf die Frage “ob und in welcher Weise Intellektuelle zur Konstituierung kollektiver Verhaltensdispositionen und Deutungsmuster beigetragen haben.” Die Autoren des Vorworts geben sich alle Mühe, den Blick unnötigerweise einzuengen und den Leser auf eine Geschichte der Intellektuellen anhand vieler individueller Exempla (“akteurszentrierte Arbeiten zu Persönlichkeiten”) einzustimmen. Die Vielfalt der folgenden Artikel verlangt eine Einordnung, in “1. die sozialstrukturellen Entwicklungsbedingungen”, dann “2. die politische Generationszugehörigkeit” und schließlich “3. die informellen Gruppenbildungen”, dadurch wird deutlich, welche Mühen die Herausgeber hatten, die heterogene Sammlung der ihnen vorliegenden Aufsätze in eine gewisse Ordnung zu zwängen, die im Ergebnis keineswegs überzeugt. Immerhin wird im Vorwort auch eine historische Dimension mit der Figur des “Mandarin im Wilhelminischen Kaiserreich” gestreift oder des “kulturellen Mittlers zwischen zwei Nationen (z.B. Diestelbarth und Bertaux)”, womit der erste Satz dieses Vorworts noch einmal in Frage gestellt wird.

Im ersten Teil wird mit einem Aufsatz von Michel Trebitsch über die Geschichte der Intellektuellenforschung in Frankreich eine Perspektive aber nur im Rahmen eines Literaturberichts vorgegeben. Er referiert die Arbeiten von Jean-François Sirinelli, dessen Arbeiten von Pierre Bourdieu einer Analyse intellektueller Milieus ergänzt wurden. Seine Schüler wie Christophe Charle konzentrieren sich auf Untersuchungen hinsichtlich des Grads an Autonomie der Intellektuellen, die von anderen wie Jean-Louis Fabiani auf die Untersuchung von Institutionen ausgeweitet werden. Trebitsch erinnert ausdrücklich an Sartre, der den Intellektuellen vor allem aufgrund seiner kritischen Funktion definierte und ihn als “Anderen” gegenüber dem Staat, der Macht und überhaupt jeder Orthodoxie beschrieb. Mit seiner Bemerkung über Sartre hat Trebitsch wohltuend und ausdrücklich zu Protokoll gegeben, daß für die Theorie ein kaum mehr als 100 Seiten langes Buch wie das Plaidoyer pour les intellectuels 2 von Sartre genügt, und damit hat er den Unterschied zwischen einer biographischen Annäherung aufgrund von Einzelschicksalen und einer Theorie des Intellektuellen hinreichend deutlich gemacht.

Die folgenden Aufsätze des ersten Teils dieses Bandes referieren einzelne Positionen, die für sich genommen meist interessante Ausblicke bieten. Lothar Peter bezeichnet Pierre Bourdieu als “weder ‚totaler’ noch ‚spezifischer’ Intellektueller. Johannes Thomas berichtet unter dem Titel “Jacques Derrida – oder von der Undenkbarkeit eines notwendigen intellektuellen Engagements” über Derridas Amerikakritik und dessen Europakonzeption und begründet seine Einschätzungen mit einer Darstellung der Zeichentheorie Derridas und dessen Auseinandersetzung mit Husserl. Der Beitrag von Christoph Scheerer über die französische Wirtschaftstheorie hinsichtlich der Regulierung der Wirtschaft paßt nicht in den ersten Teil dieses Bandes, in dem noch Eike Henning eine Theorie politischer Kontingenz bei Max Weber und Carl Schmitt andeutet. Er beginnt bei Machiavellis Fürst und entwickelt eine historische Perspektive als Bestandteil einer Handlungstheorie. Machiavellis Trennung von Tugend und Moral ist später durch ideologische Orientierungen ersetzt worden: Mit einer Bemerkung deutet Henning die Überlegenheit Machiavellis an: “Il Principe ist ein Buch, das empirisch dem Verhalten politischer Akteure nachspürt.” Wieso empirisch? Machiavelli untersuchte historische Fakten, zog seine Schlüsse, beschrieb die Auswirkungen der politischen Fehler seiner Zeit und begründete die politischen Wissenschaften. 3 Max Weber gilt bei Henning als Antipode zu Schmitt. Der Beitrag über Pop-Stars und “Vor-Ort-Intellektuelle” von Dietmar Hüser erscheint im ersten Teil etwas unvermittelt, zeigt aber einen interessanten Ausblick auf die Texte der Rapper: “Die meisten Texter sind bestrebt, mit Wörtern als Waffen authentische Straßenliteratur vorzulegen.” Robert Picht berichtet, wie er zusammen mit Hans Manfred Bock als DAAD Lektoren Anfang der siebziger Jahre aktiv an der Veränderung der französischen Deutschland-Studien beteiligt war und wie sie diese Erfahrungen nach ihrer Rückkehr auf Deutschland übertrugen, um die Frankreich-Studien in Deutschland durch Kooperation und interdisziplinäre Ansätze neu zu gestalten. Picht, der lange Jahre Leiter der Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg war, zeigt, wie die verstärkte Interaktion zwischen beiden Ländern notwendigerweise in ein “Stück europäische Öffentlichkeit” mündete.

Der 2. Teil “Der Intellektuelle und der Mandarin seiner Zeit” enthält Aufsätze wie der von Niels Beckenbach über die 1968er Bewegung, über Institutionen, wie der von Nicole Racine über Anne-Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy 4, und von Detlev Sack über Renate Mayntz, Fritz Scharpf (Max-Planck-Institut für Sozialforschung in Köln) sowie viele biographische Artikel über u.a. über Botho Strauß, Lucien Lévy-Bruhl, Arnold Zweig, Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung, Benedetto Croce, Jorge Semprún. Kaum einer der hier vorgestellten Autoren paßt nicht in diesen Teil des Buches; dennoch ist es ein rechtes Durcheinander in zeitlicher und thematischer Hinsicht, das hier dem Leser zugemutet wird. Eine Auswahl der genannten Personen, die stellvertretend für andere eine bestimmten Typus des Engagements repräsentieren, hätte dem Thema und dem Anliegen dieses Buches viel mehr genutzt.

Der 3. Teil ändert die Perspektive und rückt “Intellektuelle und Mittler im deutsch-französischen Spannungsfeld” in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und verrät so auch das Anliegen, des Bandes, der sich im wesentlichen auf die deutsch-französische Geschichte beschränkt. Hansgerd Schulte erinnert an Joseph Rovan (1914-2004) und dessen außerordentliche Verdienste für die deutsch-französische Kooperation in Europa. Weitere Aufsätze untersuchen das Engagement u.a. von Gilbert Ziebura, Edmond Vermeil, Eugen Ewig, Theodor Heuss, Klaus Mann, Heinrich Mann, Felix Bertaux und und Hermann Hesse. Auch hier die gleiche Vielfalt wie im zweiten Teil, die die Bezüge zwischen den Aufsätzen missen lässt, und den Leser enttäuscht zurücklässt.

Die Wirkung intellektuellen Engagements wurde keinesfalls erst zu Beginn der 90er Jahre entdeckt. Wenn Ulrich Pfeil in seinem Beitrag über Eugen Ewig an Ernst Robert Curtius und dessen Band “Deutscher Geist Gefahr” (Berlin 1932) erinnert, so müsste an dieser Stelle auch Karl Mannheim erwähnt werden, wodurch die Bedeutung intellektueller Auseinandersetzungen erst so recht verdeutlicht wird. Dirk Hoeges hat in seiner Untersuchung Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim 5 schon auf Intellektuelle und ‚freischwebende Intelligenz’ in der Weimarer Republik hingewiesen und mehr als deutlich gemacht, dass Intellektuelle, zu denen auch Curtius gehörte, sich sehr wohl einzumischen wussten. Er und Mannheim haben keinesfalls Gelegenheitsschriften verfaßt. Ihrem Engagement und auch ihrer Gegnerschaft zur beginnenden Diktatur in Deutschland lag eine Theorie des Intellektuellen zugrunde (Cf. Hoeges, op. cit., S. 187 ff.), die die hier zu besprechende Festschrift nicht einmal zwischen den Zeilen auch nur erahnen lässt. Es wird die These aufgestellt, dass diese Theorie erst in den 90er Jahren allmählich formuliert wird, und weil dem keinesfalls so ist, fühlt sich der Leser hier zu Recht mehr als irritiert. Die Rolle der Intellektuellen nahm aber auch andere Züge an, die mit dem Aufsatz Die wahre Leidenschaft des 20. Jahrhunderts ist die Knechtschaft (Camus). Die Nationalintellektuellen contra Menschen- und Bürgerrechte. Ernst Jünger, Martin Heidegger, Carl Schmitt 6 verdeutlicht wird. Manche Intellektuelle begaben sich in Abhängigkeiten oder gar Komplizenschaften, wenn auch nur temporär, in jedem Fall ist die Geschichte der Intellektuellen nicht in bloßen Lebensläufen abzuhandeln. Auch Sartre schien solchen Versuchungen nachgeben zu wollen, bis er sich dann aber doch wieder auf die Unabhängigkeit des Intellektuellen besann.

Solche Ansätze, die eine gründliche Analyse der Geschichte der Intellektuellen in diesem Jahrhundert bieten würden, blendet dieser Band aus. Zwar läßt der Titel und der Umfang des vorliegenden Buches eine umfassende Theorie des Intellektuellen vermuten; er enhält aber nicht mehr als eine Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen in Lebensläufen. Das Ergebnis ist enttäuschend, da wichtige Arbeiten zu diesem Thema nicht genannt werden. 7 Und außerdem: Intellektuelle gibt es nicht erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die Weltgeschichte weist genügend Namen von Rang auf, die eine solche Verengung des Blicks keineswegs rechtfertigen, wie dies erst kürzlich beispielsweise in der Festschrift für Dirk Hoeges 8 demonstriert worden ist. Das Bewusstsein der Unabhängigkeit durch die eigene Literatur und das intellektuelle Engagement, das sich als ein roter Faden durch die Literaturgeschichte zieht, war den Autoren von Bernardo Machiavelli, über Luigi Alamanni, Condorcet, Achille Murat, Jacques Maritain bis Camus und Sartre bewußt und selbstverständlich. In diesem Sinne kann es nicht angehen, daß auf einmal ein neuer Begriff erfunden wird, der die Entdeckung des Intellektuellen als Ereignis feiert. Der “zivilgeschichtliche Akteur” (F. Beilecke) ist als Bezeichnung neu, aber die Schriftsteller, die das Ancien Régime zu Fall gebracht haben, hat es schon früher gegeben. Und es ist nicht sicher, dass heutige Intellektuelle es verdienen, ein “fait social” genannt zu werden, wie Beilecke die “Sozialfigur bezeichnet, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in allen Gesellschaften westlicher Prägung in Erscheinung getreten ist.” Davor nannte man sie Schriftsteller und Philosophen, die sich in die Politik einmischten oder durch ihre Werke gesellschaftliche Entwicklungslinien vorzeichneten, und die heutigen “Sozialfiguren” in ihrem Anspruch als Intellektuelle nicht nachstanden, sondern eher überlegen waren.

Die bloße Mitwirkung bei der Gründung binationaler Einrichtungen, wie Beilecke dies vorträgt, genügt indes noch nicht, um der Erkundung der “politischen Handlungsspielräume” ein besonders wissenschaftliches Interesses an einem Ausbau der Netzwerkforschung zuzugestehen. Alle Definitionsversuche, die die Intellektuellen in erster Linie in ein Netzwerk einbinden möchten, entdecken früher oder später, daß die historischen Bezügen ihr wesentliches Netzwerk sind, um sich in der Literatur und in der Politik ihrer Zeit Gehör und Stimme zu verschaffen. Dabei geht es um die Verantwortung des Intellektuellen, die Jean-Paul Sartre 1946 in dem Aufsatz “Ecrire pour son époque9 eindeutig gekennzeichnet hat: Der Künstler und damit ist auch der Intellektuelle gemeint, muß darauf achten, daß sein Werk ausdrücklich als eine Waffe im Kampf, den die Menschen gegen das Übel führen verstanden werde (S. 671). Was von ihm bleibt, ist die Art und Weise, wie er welche Wahl in seiner Zeit getroffen hat, um diese zu überschreiten. Sartre hat das Maß für das Wirken des Schriftstellers und damit der Intellektuellen sehr deutlich formuliert: “…solange seine Bücher Wut, Unbehaglichkeit, Hass, Liebe provozieren, wird er leben, auch wenn er nur noch ein Schatten ist.” 10 Der Abschnitt wird hier zitiert, um eine Dimension aufzuzeigen, die der vorliegende Band nur am Rande streift, ja eigentlich unterschlägt. Es geht nicht um die Taten, es geht um die moralischen und ethischen Implikationen, die das Handeln der Intellektuellen bestimmen, und die dem theoretischen Teil dieser Festschrift einen roten Faden hätten geben können, den die Herausgeber nicht ausrollen.

Für eine solche Theorie gibt es heute wahrlich genug Gründe, zu denen ein ganzer Themenbogen gehört von Europa, über das Thema Krieg und Literatur, die Intellektuellen und der Zustand der Universitäten in Deutschland, die Folgen der Globalisierung, wobei hier nicht die Kritik am üblichen Gerede über dieses Thema gemeint ist, sondern das was Geisteswissenschaftler und Intellektuelle dazu sagen könnten.

Reinhart Meyer-Kalkus erinnert im dritten Teil unter dem Titel an “Die Gärten Epikurs in Sanssouci – Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II. von Preußen” und damit an die deutsch-französischen Kulturbeziehungen im 18. Jahr-hundert. Sein Aufsatz hätte im ersten Teil dieses Buches dazu beigetragen, die notwendige historische Perspektive für alle Autoren dieses Bandes weit zu öffnen. Eva Sabine Kuntz berichtet schließlich über “Deutsche und französische Jugendliche” und deren Begegnungsmöglichkeiten von heute. Joachim Umlauf stellt das Lektorenprogramm des DAAD vor. Damit wird ein nützlicher Ausblick auf die Vermittlertätigkeit gegeben, als Fazit dieses Bandes reicht das aber nicht aus.

Heiner Wittmann
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1. Ringer, F. K., Die Gelehrten, Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart 1987.
2. Sartre, J.-P.,Plaidoyer pour les intellectuels. Première conférence. Qu’est-ce qu’un intellectuel? [Trois conférences données à Tokyo et Kyoto en septembre et octobre 1965], in: ders. Situations, VIII, autour de 68, Paris 1972,., S. 375-400; Deuxième conférence. Fonction de l’intellectuel, S. 400-430; Troisième conférence. L’écrivain est-il un intellectuel? S. 430-455. – Weitere, z.T. schwer zugängliche Texte Sartres zum Thema des Intellektuellen sind zusammen in der deutschen Ausgabe erschienen: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Ar-tikel und Reden 1950 – 1973 (Übs. H. v. Born-Pilsach,  E. Groepler, T. König, I. Reblitz, V. v. Wroblewsky), in: ders. Gesammelte Werke in Einzelausgaben  (Hrsg. V. v. Wroblewsky), Politische Schriften, Band 6, Reinbek bei Hamburg 1995.
3. D. Hoeges, Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein, München 2000.
4. Cf. “Sartre. Littérature et engagement”, Décade in Cerisy-la-Salle unter der Leitung von M. Rybalka  und M. Sicard, 20.-30. Juli 2005 :
5. Cf. Hoeges, D., Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und “freischwebende Intelligenz” in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1994.
6. Hoeges, D., Die wahre Leidenschaft des 20. Jahrhunderts ist die Knechtschaft (Camus). Die Nationalintellektuellen contra Menschen- und Bürgerrechte. Ernst Jünger, Martin Heidegger, Carl  Schmitt, in: W. Bialas, G. I. Iggers, (Hrsg.), Intellektuelle in der Weimarer Republik [Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Band 1], Frankfurt/M. u.a. 1996, (91-104).
7. Cf. Gipper, A., Der Intellektuelle. Konzeption und Selbstverständnis schriftstellerischer Intelligenz in Frankreich und Italien 1918-1930, Stuttgart 1992. Cf. jetzt auch: Buß, M., Intellektuelles  Selbstverständnis und Totalitarismus Denis de Rougemont und Max Rychner – zwei Europäer der Zwischenkriegszeit, Reihe: Dialoghi / Dialogues Band 8, Frankfurt/M. 2005.
8. Rohwetter, C., Slavuljica, M., Wittmann, H., (Hrsg.), Literarische Autonomie und intellektuelles Engagement, Der Beitrag der französischen und italienischen Literatur zur europäischen Geschichte (15.-20. Jh.) Festschrift für Dirk Hoeges zum 60. Geburtstag, Peter Lang, Frankfurt/ M. 2004, darin auch: Buß. M., Intellektuelle und Politik. Deutsch-französische Lernprozesse im 20. Jahrhundert, S. 327-346.
9. J.-P. Sartre, Ecrire pour son époque, in : M. Contat, M. Rybalka, Les écrits de Sartre. Chronologie. Bibliographie commentée, Paris 1970, p. 670-676. Cf. H. Wittmann, L’intellectuel est un suspect, [Vortrag bei der Tagung der Deutschen Sartre-Gesellschaft 1989 im Kloster Walberberg] in: R. E.Zimmermann, Hrsg., Sartre. Jahrbuch Eins, Münster 1991, S. 66-84, wieder abgedruckt in: ders.,  Sartre und die Kunst. Die Porträtstudien von Tintoretto bis Flaubert, Tübingen 1996, S. 165-180.
10. Sartre, loc. cit., S. 676, übers. v. Vf.

Sartre und Foucault


Thomas R. Flynn, Sartre, Foucaul, and Historical Reason. Volume Two. A Poststructuralist Mapping of History, The University of Chicago Press, Chicago, London 2005. ISBN (paper) 0-226-25471-2

Sartre, Foucault und die Geschichte

Dieser kürzlich erschienene Band folgt dem ersten Band “Toward an Exististentialist Theory of History”. Der Autor beabsichtigt eine Rekonstruktion des philosophischen Geschichtsansatzes von Foucault zu unternehmen. In dieser zweibändigen Studie sollen die Geschichtstheorien zweier führender französischer Intellektuellen untersucht werden. Flynn verspricht sich durch diesen Vergleich weiterführende Erkenntnisse vor allem, weil beide sich kannten, aber die Methoden und Konzepten des jeweils anderen rundherum ablehnten. In diesem zweiten Band werden zuerst die Grundlagen des Foucaultschen Ansatzes untersucht, der er in einem zweiten Schritt mit Sartre verglichen wird. In der Einleitung erklärt Flynn detailliert den Aufbau seiner Untersuchung. Das 1.Kapitel führt den Leser in das Denken Foucaults ein und legt drei Abschnitte seines Denkens dar: der archäologische, der genealogische und der problematische Ansatz. Im 2. und 3. Kapitel wird sein Bezug auf die Ereignisgeschichte und sein Nominalismus untersucht, der ihn dazu führt “Macht” an sich in Frage zu stellen und sich auf individuelle Aktionen zu konzentrieren. Es folgen zwei Kapitel, in denen er Autor einzelne Schriften Foucaults analysiert. Im 2. Teil des Buches wird das Werk Foucaults der Dialektik Sartres gegenübergestellt. Auf diese Wei-se wird z.B. das Konzept des “vécu” von Sartre mit dem Foucaultschen Ausdruck der Erfahrung verglichen.

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Maurice de Gandillac


Cette page est dédiée à la mémoire de Maurice Patronnier de Gandillac qui est mort à Neuilly-sur-Seine, mardi 18 avril. Le 14 février 2006, il a pu fêter ses 100 ans.

En juillet 2005, il a assisté au Colloque à Cerisy-la-Salle: Sartre. Littérature et engagement. Au début du colloque il nous a présénté ses souvenirs de Sartre, comment il l’a connu et comment il a observé sa carrière.   Wikipedia
Maurice de Gandillac, philosophe et historien de la philosophie,
Le Monde, 22 avril 2006.

Le siècle traversé. Souvenirs de neuf décennies, Albin Michel, Paris 1998. ISBN: 2-226-10467-4
” .. A plusieurs d’entre nous, qui hésitent encore, l’idée s’impose que la meilleure filière est cette philosophie qui exige moins de mémoire que de bon sens. C’est bien l’avis de Sartre qui cependant, en classe et à l’étude, couvre page sur page de son écriture un peu molle, ébauches de ce qui deviendra Le Mur et La Nausée. Que de nos camerades il doive devenir le plus célèbre, je ne suis pas, je crois, le seul à le pressentir.” p. 80 s.
  de gauche à droite:
Maya Rybalka,
Dominique Desanti,
Maurice de Gandillac,
Michel Rybalka,
Bernard-Henry Lévy
Maurice de Gandillac

Photos: © Heiner Wittmann, 2005. Tous droits réservés.

Sartres Theaterstücke

Benedict O’Donohoe
Sartre’s Theatre: Acts for Life
Modern French Identities, hrsg. v. P. Collier, Vol. 34
Peter Lang, Bern 2005. 301 Seiten.
ISBN 3-03910-280-X

Rechtzeitig zur Neuausgabe der Theaterstücke Sartres in der Pléiade bei Gallimard hat Benedict O’Donohoe, der Präsident der britischen Society for Sartrean Studies und Herausgeber der Zeitschrift Sartre Studies international eine Studie vorgelegt, in der alle Stücke von Bariona (1940

 

In jeder dieser Analysen wird jeweils die Entstehung des Stücks im Zusammenhang mit Sartres Biographie und seinen Werken sowie hinsichtlich ihrer damaligen Rezeption dargestellt. O’Donohoe wehrt sich gegen oft vorherrschende Urteile, die vor allem einen Pessimismus und Nihilismus in den Sartreschen Stücken erkennen wollen. Sartre geht es nicht einfach um Gewalt oder Chaos, sondern er will Protagonisten auf die Bühne bringen, die den Wert des Lebens bestätigen, indem sie das eigene Leben in Gefahr bringen oder es sogar verlieren. Dieser Ansatz korrespondiert mit Sartres eigener Aussage: “Man stürze Menschen in solche allgemeinen extremen Situationen, die ihnen nur zwei Auswege offen lassen, man sorge dafür, daß sie mit ihrer Wahl des Ausweges sich selber wählen, dann hat man gewonnen, das Stück ist gut.” (Sartre, Für ein Situationstheater [November 1947], in: ders., Mythos und Realität des Theaters, übers. v. K. Völker, Reinbek 1979, S. 46) Die beiden vom Autor hinsichtlich des Todesgedanken angeführten Parallelen zu Baudelaire und Jean Genet sollen einen Zusammenhang zwischen seinen Künstlerstudien und seinem Theater herstellen: In dem einen Fall ist es die Umgehung des Selbstmordes, um im Fall Baudelaires den Dichter als Überlebenden darzustellen, und in dem anderen Fall ist es Genets Reaktion auf die Bestimmung als Dieb, also vor allem für andere etwas anderes werden, als das was man ist. Diese Überlegungen führen den Autor zu dem hier bereits zitierten Text Sartres über das Situationstheater, der tatsächlich seine Theaterästhetik in vorzüglicher Weise auf den Punkt bringt: In Grenzsituationen “…offenbart sich die Freiheit auf ihrer höchsten Stufe, da sie ja bereit ist, sich zugrunde zu richten, um sich behaupten zu können.” (Sartre, ib.) Die folgenden Analysen der Theaterstücke teilt der Autor in Kapitel ein, die Sartres Theaterwerk eine Struktur geben: “Das Schaffen der Mythen” (Bariona, ou le Fils du tonnerre, Les mouches, Huis clos), “Zuviel Realität” (Morts sans sépulture, La putain respectueuse, Les mains sales), “Vom spanisch-deutschen Melodrama” (Le diable et le bon dieu, Kean, Nekrassov) und “Wahnsinn und Armageddon” (Les séquestrés d’Altona, Les troyennes).

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Lexikon: Frankreich erklären

Bernhard Schmidt, Jürgen Doll, Walther Fekl, Siegfried Loewe
und Fritz Taubert
Frankreich-Lexikon
Jetzt auch in einer broschierten Ausgabe
Schlüsselbegriffe zu Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Geschichte, Kultur, Presse- und Bildungswesen, Erich Schmidt Verlag
2., überarbeitete Auflage 2005, 1224 Seiten, 15,8 x 23,5 cm,
fester Einband, ISBN: 3-503-06184-3

Das Frankreich-Lexikon von Bernhard Schmidt (u.a.) ist in einer zweiten Auflage erschienen. Auf rund 1200 Seiten werden mit rund 600 Artikeln alle bedeutenden Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als Schwerpunkte dieses Bandes behandelt. Der Aufbau dieses Lexikons, sein möglicher Adressatenkreis und seine inhaltliche Vielfalt bestimmen die Konzeption dieses Bandes.

Der Aufbau
Ein Sachregister mit französischen Begriffen und ein Register mit deutsch- und anderssprachigen Begriffen erläutern die Grundidee des Lexikons. Der Schwerpunkt liegt auf der Erklärung Frankreich-spezifischer Besonderheiten (von Abolition des privilèges über Cohabitation, Décentralisation, Grandes écoles, Réformes de l’enseignement bis ZEP), das zweite Register erschließt Begriffe, die im Vergleich zu ihrem Verständnis in Deutschland mit ihren französischen Besonderheiten erläutert werden. Auf diese Weise leistet der vorliegende Band einen sehr nützlichen Beitrag zum Verständnis der beiderseitigen Beziehungen. (s. auch die Auswahlbibliographie, die einen eigenen Abschnitt mit Veröffentlichungen zu den deutsch-französischen Beziehungen enthält: S. 1078-1082) Viele Organisationen, die im beiderseitigen Verhältnis als Akteure auftreten, werden genannt: Deutsch-französischer Kulturrat, Deutsch-französische Hochschule, CIRAC – Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine, Deutsch-französische Brigade, Deutsch-französisches Jugendwerk (DFJW) – Office franco-allemand de la jeunesse: “Es hat sich – neben dem Konsultations-Abkommen – auch als stabilstes Element des Vertrags von 1963 erwiesen.”, S. 948. Dem deutsch-französischen Vertrag von 1963 werden fünf Seiten gewidmet. In seiner Würdigung dieses Vertrages heißt es trotz eines positiven Gesamtergebnisses dieses Vertrages, ” … klaffen gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik, Deklarationen und Realitäten weit auseinander.” (Walther Fekl, S. 950) Die “wechselseitige(…) Einschätzung der beiden Völker” hat sich seit 1963 sehr positiv entwickelt. “Die vom Elysée-Vertrag geschaffenen Institutionen, insbesondere das OFAJ, haben dazu beigetragen.” (ib.) Ein Artikel über den Sprachunterricht in Frankreich (im Vergleich mit Deutschland) hätte den Autoren dieses Bandes die Möglichkeit eröffnet, auf die lange Jahre andauernden eklatanten Mängel (Vgl. dazu: Ingo Kolboom: Was wird aus der Sonderbeziehung? (*.pdf), in: Dokumente, Heft 3, Juni 2000, S. 207-214) gerade in den beiderseitigen kulturellen und bildungspolitischen Beziehungen hinzuweisen, die erst jüngst ganz allmählich, eher halbherzig in den Blick der Regierungen rücken.

Inhaltliche Vielfalt
Interessenten können sich mit diesem Band sachgerecht in kurzer Zeit z.B. einen ausgewogenen Überblick über die Entwicklung der französischen Parteien (Partis politiques, und die Artikel über die einzelnen Parteien, und Gesetz über die Parteienfinanzieung: Loi sur le financement des partis) verschaffen, die historischen Grundlagen der Fünften Republik, wie über viele spezifische Themen der französischen Politik (u.a. ein Artikel Centralisation fehlt > Décentralisation, CSA, Intercommunalité, Laïcité, PAC, SMIC) die zum Verständnis diese Landes unverzichtbar sind. Im Artikel Documents- Revue des questions allemandes hätte die Schwesterzeitschrift Dokumente – Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog unbedingt genannt werden müssen. Sie wird aber in der Auswahlbibliographie unter “Laufende Publikationen” (S. 1069) und im Artikel BILD – Bureau international de liaison et de documentation genannt. Leider wird das Deutsch-französische Institut in Ludwigsburg nicht genannt, das als Anlaufstelle für Frankreich-Interessierte eine wichtige Rolle im beiderseitigen Verhältnis hat.

Lexikonartikel müssen immer auf die Einhaltung bestimmter editorischer Regeln und auf einen Umfang achten, der dem Leser die versprochene schnelle Information gemäß des anvisierten Konzepts auch wirklich vermittelt. Die Autoren müssen oft ihr jeweiliges Spezialthema in aller Kürze darstellen. Es wird daher ihren Lesern leichtfallen, immer mal wieder auf Lücken hinzuweisen. Allerdings schleichen sich oft Bewertungen ein, die durch die Knappheit der Artikel verständlicherweise gefördert werden, aber eigentlich vermieden werden sollten: Camus’ Werk im Artikel Existentialisme als “eher pessimistisch” (S. 375) zu charakterisieren ist eine Auffassung, die als Summe des Werks von Camus nicht unwidersprochen bleiben darf.

Eine Zeittafel mit der sinnvollen Verknüpfung in Form der Hinweise auf die dazugehörigen Artikel, eine Liste mit Internet-Adressen, bei denen ebenfalls die Hinweise auf entsprechende Artikel erscheinen, eine von Siegfried Loewe erstellte Auswahlbibliographie (30 S.) und ein Personenregister ergänzen den Band, erschließen ihn und geben nützliche Anregungen und Ausblicke. Das Fehlen eines Hinweises auf die Website Romanistik im Internet ist nicht unbedingt ein Manko angesichts der Vielfalt der Angebote, mit denen sich Interessierte im Internet über Frankreich informieren können. Die im Frankreich Lexikon versprochenen weiteren Informationen (S. 4) unter esv.info/3 503 06184 3 enthalten künftig vielleicht die notwendigen Ergänzungen zu diesem Band.

Besonders interessant sind die zahlreichen Artikel über alle Medien und Verlage in Frankreich, die neben ihrem heutigen Einfluß und deren geschichtliche Entwicklung knapp aber einprägsam umreißen. Das ist ein Vorteil der zweiten Auflage, die sich auf ein solides Fundament beziehen kann. Zusammen mit vielen Artikeln zu Wirtschaftsthemen und französischen Unternehmen ist dieses Lexikon auch für alle sehr gut geeignet, die sich auf einen Dialog mit französischen Geschäftspartnern vorbereiten wollen. Die Themenbreite wird in diesem Band durch viele Artikel mit kulturellen und historischen Inhalten ergänzt: Chanson française, S: 166-172), Festivals, – im Artikel Intellectuels hätte ein Hinweis auf Sartres Plaidoyer pour les intellectuels (1965) erscheinen müssen -, Nouveaux philosophes, Nouvelle vague, Prix littéraires, RAP, Structuralisme, zur Geschichte u.a. zur Révolution française (S. 839-854) Viele Artikel zum französischen Bildungswesen, einschließlich der Darstellung zahlreicher Institute, Universitäten und Grandes écoles bestimmen die Vielfalt dieses Bandes.

Der mögliche Adressatenkreis
Der Band vermittelt Frankreich-Neulingen interessante Kenntnisse und zeigt auch denjenigen, die schon mit Fankreich vertraut sind, wichtige Zusammenhänge auf. Ein historisches Gerüst, ein Faktenwissen, ein Verständnis politischer Entscheidungen und somit eine Phantasie hinsichtlich möglicher Entwicklungen der deutsch-französischen Beziehungen, für die sich ein Engagement lohnt, ist unverzichtbar. Viele politische Verantwortliche wohl auf beiden Seiten vernachlässigen oft zugunsten kurzsichtiger tagespolitischer oder parteipolitischer Interessen, bestimmte Chancen, um den beiderseitigen Beziehungen das Gewicht wiederzuverleihen, das die Zivilgesellschaft ihnen täglich gewährt, ohne dafür stets die notwendige politische Unterstützung zu erhalten. Viele wichtige Initiativen in der EU hatten ihren Ursprung im deutsch-französischen Dialog, der auf einer immer besseren Kenntnis voneinander beruhte. Wenn dieses Gespann sich immer häufiger verspricht, künftig immer enger zusammenarbeiten zu wollen, ohne entsprechende Taten auch wirklich folgen zu lassen, ist dies ein Hinweis auf solch kurzfristige tagespolitische Interessen, die oft einer sachgerechten Überprüfung nicht standhalten. Genauso wie ein öffentlicher Dialog in Deutschland (noch nicht) oder mit Frankreich über die EU-Verfassung nicht zu erkennen ist, sind effektive deutsch-französische Initiativen zugunsten Europas nicht in Sichtweite. Ein eigener Eintrag Frankreich und die Europäische Union hätte Interessierten zu diesem Thema die Haltung Frankreichs aufzeigen können. In dem vorliegenden Band werden Informationen zu diesem Thema in über 20 verschiedenen Artikeln angeboten, in denen die EU meist nur beiläufig erwähnt wird. Ebenso fehlt laut Register auch ein Hinweis auf den europäischen Verfassungsentwurf. Die historische Entwicklung wird in den Artikeln Cinquième République (EWG, S. 184), PAC – Politique agricole commune, Traité de Mastricht, u.a. dargestellt. Die Gestaltung der deutsch-französischen Zusammenarbeit ist Grundlagenarbeit, wie die jüngst begonnene Entwicklung des deutsch-französischen Geschichtsbuches zeigt. Für diese beharrliche und notwendige Arbeit der Aufklärung und Einsicht in die von vielen ungeahnten Möglichkeiten, die die Beschäftigung mit Frankreich eröffnet, liefert das Frankreich-Lexikon eine gute Basis.

Heiner Wittmann

Dominique Berthet, L’audace en art


Dominique Berthet, (Hrsg.), L’audace en art, Ed. L’Harmattan, Paris, Budapest, Turin 2005. 183 Seiten. EUR 16.50 ISBN 2-7475 -8890-4

Die Aufsätze in diesem Band enthalten die Vorträge einer Tagung, die im Dezember 2002 im Centre d’Études et de Recherches en Esthétique et Arts Plastiques (CEREP) auf Guadeloupe stattfand. Mit den Konferenzen dieser Art setzt Berthet die Themen fort, die in seiner Zeitschrift Recherches en Esthétiques untersucht werden. Die Tagung Audace bezog sich auf die N° 8 dieser Zeitschrift mit dem gleichnamigen Untertitel vom Oktober 2002.

Die Überlegungen zur Kunst, die von den Autoren in diesem Band vorgetragen werden, bezieihen sich auf alle Gebiete der Künste: Plastik, Architektur, Musik, Literatur, Ästhetik und Philosophie. Außerdem soll der Wagemut in der Kunst in verschiedenen Epochen untersucht werden. Außer der Begriffsbestimmung des Wagemuts geht es auch um das Neue in der Kunst, nämlich die Art und Weise in welchem Ausdrucksrahmen, etwas gewagt, kritisiert, ja gestört werden kann. Es geht auch darum, wie eine Unordnung als “Überlebensstrategie” (Guy Scarpetta) provoziert wird. Der Wagemut bezieht sich aber immer auf seine eigene Epoche, in der Kunst als ein besonderes Wagnis erscheint, in einer anderen Epoche ist sie möglicherweise bloß Banalität. Aber auch als Wagnis in, dem sie die Konformisten herausfordert zieht sie Kritik und Verurteilungen auf sich. Diese Überlegungen bilden den Rahmen für diesen Band. Die unterschiedlichen Positionen der Beiträge untersuchen gemeinsam das Potential, das der Wagmut in seinen unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen bieten kann.

Dominique Berthet beschreibt den Wagmut als eine Geisteshaltung, die sich einerseits im Kunstwerk als eine Gefahr auch für den Künstler darstellen kann und die andererseits auch das Verhältnis von Werk und Rezipienten beeinflussen kann. Im Grunde genommen geht es hier auch um die Frage, wie kommt das Neue in die Welt, welchen Anteil kommt dabei den Künstlern und ihren Werken zu? Wie gelingt es Künstlern, sich von herrschenden Normen zu distanzieren und durch die Darstellung auch bekannter Formen auf dem Weg ihrer künstlerischen Umgestaltung ihren Rezipienten neue Betrachtungsweisen zu suggerieren? Jean-Paul Sartre hat in seinen Künstlerporträts vor allem die Werke von Künstlern untersucht, die für Ihre Zeit etwas Neues gemacht haben und gegen viele Widerstände Erfolg hatten. Berthets Überlegungen zu Wagemut und Skandal zeigen ihre Zeitgebundenheit aber zugleich auch, wie beide die Weiterentwicklung der Kunst beeinflussen. Christian Bracy ist Künstler und lehrt am CEREAP. Er berichtet über die Kunstszene auf Guadeloupe mit ihren privaten Galerien, Kulturinstitutionen und dem Engagement der Künstler. Lise Brossard lehrt ebenfalls als Kunsthistorikerin am CEREAP. Sie konzentriert ihren Beitrag auf den Wagemut und die citation, also hier zunächst im Sinne einer Vorladung, die sie anhand zweier Werke von Errós La concubine de Lénine ( 1977) Und Komar & Melamid, The Origigin of Social Realism (1982-1983) untersucht. In beiden Werken geht es aber auch um Anspielungen, mit denen es diesen Künstlern gelingt, den Ort des Wagemuts genau zu verankern. Aline Dallier-Popper lehrte bis 1993 an der Universität Paris VIII. Sie zeigt in ihrem Beitrag anhand ganz unterschiedlicher Werke bis zu Happenings mit welchen Verfahren Grenzen in der Kunst und auch in der musealen Darstellung überschritten werden. Hugues Henri lehrt auch am CEREAP und fragt in seinem Aufsatz ob Paul Chemetov, ein rebellischer Architekt sei? Chemetov versteht seine Architektur als soziale Kunst. Dazu gehört auch die Galérie de l’èvolution des Naturkundemuseums in Paris. Sein Wagemut drückt sich in der Überzeugung aus, daß die Architektur der Moderne ein unabschließbarer Prozeß sei.

Jean-Louis Joachim ist Literaturwissenschaftler und unterrichtet auf den Antillen. Er berichtet über Pedro Juan Gutiérrez und dessen Beschreibungen Havannas. Giovanni Joppolo ist Kunsthistoriker und lehrte von 1981 in Paris und Lyon. Unter dem Titel L’audace, l’effort untersucht er untersucht er den Wagemut Tommaso Marinettis, Georgio De Chirico und Gino Severinis. Alain Joséphine ist Professor am CEREAP und fragt, ob die Musik James Carter eine Poetik des Wagemuts sei? Für Carter gilt die Situationsgebundenheit seiner Musik in besonderer Weise. Allein für sich genommen sei der Wagemut kein Wert, er beschreibt aber Haltungen, die aber auch ein permanenter Bestandteil des Kunstform als Form des Rätselhaften werden können. Hervé Pierre Lambert ist Literaturwissenschaftler und berichtet über La Ruptura, einer Bewegung in Mexiko von 1952-1965, die ihren Namen erst durch eine Ausstellung mit diesem Namen 1988 Kunstmuseum Musée Carillo Gil erhielt. Es ging um Künstler, die sich in diesen Jahren gegen die herrschende Staatsideologie gewandt hatten. Die Bezeichnung wird durch Künstler, die zu dieser Bewegung gezählt werden, in Frage gestellt. Lambert analysiert auf diese Weise, wie eine Kunstform in ihren unterschiedlichen Ausprägungen in einem bestimmten Zeitraum auch von offizieller Seite verstanden wird und wie der Versuch unternommen wird, dies Künstler durch die Präsentation im Museum einen Ort in der Kunstgeschichte zu geben. Frank Popper hat Kunst, Literatur und Geschichte studiert. Er leitete das Kunsthistorische Seminar der Universität ParisVIII von 1970-1983. Er hat zahlreiche Ausstellungen organisiert. Popper stellt u.a. die Arbeiten mit Laser von Dani Karavan, die Holographie von Dieter Jung (Berlin) und des Japaners Katsuhiro Yamagushi vor. Fabienne Pourtein (Universität Lyon II) wie das Créole die Politik und die Kultur geprägt hat. Der Begriff der créolisations (Eduard Glissant) kann dazu beitragen, die gesellschaftliche Entwicklungen auf den Antillen näher zu beschreiben, deren Fähigkeit, kreative Kapazitäten eben auch im Bereich der Kunst unterschätzt wird. Claudine Roméo lehrt Ästhetik an der Universität Paris I. Sie erinnert an die Arbeiten Pierre Bourdieus zur Kunstsoziologie. Jocelyn Valton berichtet über den Streit, den eine Ausstellung anläßlich des 150. Jahrestages der Abschaffung der Sklaverei im Kulturzentrum Rémy Nainsouta in Pointe-à-Pitre ausgelöst hat.

Die Vielfalt der hier vorgestellten Kunstwerke vermittelt einen interessanten Einblick in die Kunstszene auf Guadeloupe und zeigt so an konkreten Beispielen ein theoretisches Problem der Kunst auf, nämlich wie in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen neue Kunstströmungen entstehen und wirken. Dabei werden aber auch Ansätze erkennbar, wie der Wagemut in der Kunst permanente Aspekte erhalten kann. Es ist das Verdienst von Dominique Berthet, die Themenhefte seiner Zeitschrift geschickt durch Kolloquien und Tagungen zu vertiefen. Auf diese Weise werden einzelne Kunstwerke mit anderen Werke in Verbindung gebracht und Berthets vielfältige Ansätze dienen auch der Theoriebildung in ausgesuchten Themenbereichen, wodurch es ihm immer wieder gelingt, die unterschiedlichsten Ansätze zu kanalisieren und auf den Punkt zu bringen.

Heiner Wittmann

Links zum Buch Sartre und die Kunst
Sartre-Gesellschaft
Bibliographie

Utopie

Recherches en esthétiqueLinks zum Artikel:
Heiner Wittmann, “L’utopie, critique et progrès sociaux”,
in: Recherches en esthétique: L’Utopie,n° 11 – 2005, S. 35-49:

Recherches en esthétique La photographie de l’ailleurs Une esthétique de la vue in: Recherches en esthétique N° 10 /2004

Utopie – Les sources de l’Utopie
Bibliothèque Nationale de France      > Charles Fourier

Utopie – Gallica : ” Dans le langage courant actuel, “utopique” veut dire impossible ; une utopie est une chimère, une construction purement imaginaire dont la réalisation est, a priori, hors de notre portée…” Mit einer Online-Bibliothek!

L’Encyclopédie de L’Agora: Utopie


Jules Verne

Dirk Hoeges, Grün ist der Franzose und eisern der Deutsche – Jules Vernes „Les cinq cents Millions de la Bégum“ und die Technisierung nationaler Stereotypen, in: G. Großklaus u. E. Lämmert (Hg.): Literatur in einer industriellen Kultur, Stuttgart 1989 (185-203)


Karl Mannheim

Dirk Hoeges,  Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und „freischwebende Intelligenz“ in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1994.
—, Karl Mannheim. Ideologie und Utopie, in: Hgg. H. Schauer/M.Lepper, Titelpaare. Ein philosophisches und literarisches Wörterbuch, Stuttgart/Weimar 2018, S. 99-103.


Charles Fourier

Charles Fourier BN
Charles Fourier – Wikipedia
Le nouveau monde industriel, 1829 von Charles Fourier, (1772-1837),

Naufrage des Isles flottantes (1753) de Morelly – Gallica

L’Architecture considérée sous le rapport de l’art, des moeurs et de la législation, 1804
Claude Nicolas Ledoux – Gallica


Condorcet:

Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain

Jean-Antoine-Nicolas de CARITAT, marquis de CONDORCET (1743-1794)

Heiner Wittmann, Condorcet und die Französische Revolution  in: Christina Rohwetter, Marita Slavuljica, Heiner Wittmann (Hrsg.), Literarische Autonomie und intellektuelles Engagement. Der Beitrag der französischen und  italienischen Literatur zur europäischen Geschichte (15.-20. Jh.). Festschrift für Dirk Hoeges zum   60. Geburtstag. Peter Lang, Frankfurt/ M. 2004.


Jules Verne:
Analyses littéraires des romans de Jules Verne
Jules Verne – ABU
Jules Verne, site du Centenaire

Aldous Huxley – Wikipedia

Karl Mannheim, Idéologie et utopie *.pdf


Jean-Paul Sartre:

Martin Suhr, Jean-Paul Sartre zur Einführung, Junius, 2. überarb. Auflage, Hamburg 2004.
ISBN 3-88506-394-8
Braun, Eberhard, Anthropologische oder epochale Dialektik? Differenzen zwischen Sartre und Marx, in: Heinz Eidam und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (hrsg.), Natur – Ökonomie – Dialektik. Weitere Studien zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft, Kasseler philosophische Schriften Bd. 26, Kassel 1989,
S. 61 – 74.

Literatur und Engagement – Décade de Cerisy

Martin Strickmann über Französische Intellektuelle in Deutschland nach 1945

Martin Strickmann,. L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950. Diskurs, Initiativen, Biografien, Peter Lang, Frankfurt/M. 2004. 512 Seiten. 59.00 EUR / 86.00 sFr.

Mit diesem Band ist es M. Strickmann gelungen, ein faszinierendes Panorama der deutsch-französischen Beziehungen in den fünf Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorzuführen. Viele französische Intellektuelle (u.a. Pater de Rivau, Emmanuel Mounier, Alfred Grosser, Joseph Rovan, Claude Bourdet, Jean Schlumberger) haben bei zahlreichen Begegnungen mit Deutschen, Reisen nach und Vorträgen in Deutschland die Aussöhnung mit den Nachbarland vorbereitet, die 1963 durch den Elysée-Vertrag bekräftigt wurde. Strickmann zeigt, wie die Kulturpolitik in der französischen Zone unter dem Einfluß von Raymond Schmittlein und Jean Morau gestaltet wurde. Er läßt die privaten Initiativen und die verschiedenen Foren Revue passieren, in denen sich französische Intellektuelle zu den beiderseitigen Beziehungen geäußert haben. Die präzisen Analysen der unterschiedlichen Institutionen und Vereinigungen beeindrucken durch ihre Materialfülle, das diesen Band beinahe zu einem biographischen Nachschlagewerk werden lässt. U. a. werden die Reisen Alfred Grossers 1947 nach Deutschland, ebenso wie die Jean-Paul Sartres und Simone de Beauvoirs 1948 nach Berlin detailliert dargestellt. (S. 161-174.) Die zahlreichen biographischen Skizzen, die allerdings durch die ausgeprägte Feingliederung der Arbeit zum Teil etwas unverbunden nebeneinander erscheinen, vermitteln präzise und aufschlußreiche Einblicke und lassen auch die Auswertung bisher nicht bekannter Quellen erkennen. Auf diese Weise erläutert er die Herkunft vieler Intellektueller und ihre Beweggründe, sich für die Annäherung mit Deutschland einzusetzen. So wird der Zeitraum der Untersuchung weiter gefaßt, als dies der Untertitel erahnen lässt. Diese Beobachtung gilt auch für die Protagonisten dieses Bandes. Strickmann erwähnt immer wieder die deutschen Gesprächspartner und geht so über die selbst gesetzte Einschränkung auf die französischen Intellektuellen hinaus. In bezug auf Curtius und Gide, die Strickmann beide nennt, darf allerdings die Untersuchung von Dirk Hoeges Kontroverse am Abgrund. Intellektuelle und “freischwebende Intelligenz” in der Weimarer Republik (Frankfurt/M. 1994) in der Bibliographie nicht fehlen.

Strickmann unternimmt in seiner Einleitung eine lange Rechtfertigung, mit der er den Ort seiner Arbeit beschreibt. Sein Thema ist “interdisziplinär an den Schnittstellen zwischen Geschichtswissenschaft, Romanistik, Germanistik, Philosophie, Soziologie du Politologie angesiedelt.” Seine Begründung zielt als Kritik ins Mark der gegenwärtigen Romanistik: “Da sich die deutsche Romanistik hauptsächlich als Textwissenschaft versteht, erklärt sie sich für diese Themen häufig für nicht zuständig.” (S. 19 (Als Ausnahmen nennt er in einer Fußnote “u.a. Joseph Jurt, Frank Rutger Hausmann und Michael Nerlich”.) Aber auch bloße Textwissenschaft im Rahmen der Romanistik kann sich auf die Dauer historischen, philosophischen und soziologischen Zusammenhängen und Beziehungen nicht entziehen. Es ist doch gerade die Vielfalt der Romanistik auch als eine Kulturwissenschaft, die die Nachbardisziplinen und auch die Vertreter des eigenen Faches immer wieder herausfordert. Nein, M. Strickmann muß seinen umfassenden Ansatz keinesfalls rechtfertigen; es stimmt aber dennoch nachdenklich, daß er auf den Gedanken kommt, den Ansatz seiner Untersuchung in dieser Ausführlichkeit zu rechtfertigen.

Ein weiterer Ansatz seiner Arbeit muß in Frage gestellt werden. Der Intellektuelle ist als Begriff und als Bezeichnung mit der Dreyfus-Affäre entstanden. Zolas J’accuse ist aber keinesfalls die Geburtsstunde des Intellektuellen. Kritische Publizisten, Literaten, Schriftsteller, die mehr oder weniger ausgeprägt eine Autonomie für sich und folglich auch eine Unabhängigkeit für ihre Werke reklamierten, hat es auch in den vorangegangenen Jahrhunderten immer schon gegeben. Machiavelli mit seinen in bezug auf seine eigene Tätigkeit distanzierten Analysen schrieb als Intellektueller, wobei er wie selbstverständlich auf allen Gebieten der Kultur vom Theater über die Literatur, die Geschichtsschreibung, mit seiner Korrespondenz und seinen politischen Analysen überall gleichermaßen brillierte, ganz so wie Sartre die Orientierung des Intellektuellen am Universalen forderte. Die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, die dazubeigetragen haben, das Ancien Régime zum Einsturz zu bringen, gehören auch in die Reihe der Autoren und Schriftsteller, die am Ende des 18. Jahrhunderts Intellektuelle genannt wurden. Die Wortgeschichte des Begriffs des Intellektuellen ist für sich genommen interessant, sie darf aber keinesfalls dazu dienen, den Typus, den dieser Begriff in den Blick nimmt, auf eine bestimmte Epoche zu reduzieren.

Die Länge des vorliegenden Bandes ist kritisch zu bewerten. 512 Seiten und 2038 Fußnoten lassen vermuten, daß hier die Vielfalt protokolliert wurde. Eine Dissertation darf keine Materialsammlung sein, sondern der Autor sollte nachweisen, daß er ein Thema in einem bestimmten Umfang darstellen kann. Hier fehlte die ordnende Hand des Doktorvaters, der zumindest im Hintergrund eine Beschränkung auf die Herleitung der entscheidenden Erkenntnisse, auf die Darstellung eines synthetischen Blicks und der wesentlichen Aussagen drängt. Eine solche Gewichtung fehlt in dieser Arbeit, alle Initiativen erscheinen als gleich wichtig und von den gleichen Erfolgen gekrönt. Eine Schlussbetrachtung von 38 Seiten stimmt auch skeptisch, zumal diese biographische Elemente noch einmal aufnimmt und mit den Vergleichen von Lebensläufen weitere Erkenntnisse zu gewinnen versucht.

Es ist zweifelsohne ein sinnvoller Ansatz, die Nachkriegszeit mit einer Konzentrierung auf die Biographien darzustellen, da der Prozess der Verständigung tatsächlich von einigen Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer persönlichen Geschichte für diese Aufgabe besonders prädestiniert waren, entscheidend beeinflusst und vorangetrieben wurden. Allerdings sind biographische Skizzen dann doch auch wieder häufig Beiwerk, die den Leser irritieren, weil sie den eigentlichen Gang der Darstellung verwirren. Die Wirkung vieler Autoren beruht nicht unbedingt auf ihrer Biographie, sondern entsteht aufgrund der Rezeption ihrer Werke in bestimmten Umständen, die ihre Biographie nicht erläutert. Die geraffte Darstellung der Philosophie Sartres (S. 65) ist dafür ein Beispiel. Solche Verkürzungen führen dann zu Begriffen wie die Kennzeichnung seiner Philosophie als “nihilistisch” und “pessimistisch” “mit dem Grundtenor von Entfremdung, Ekel, Absurdität und Verzweiflung” (ib.) Derlei Verkürzungen sind kein guter Ausweis für die andern biographischen Skizzen und folglich für die Gewichtung anderer Intellektueller in diesem Band. Genauso wird Camus’ “Philosophie des Absurden” in unangemessener Form als pessimistisch apostrophiert. Die resümeehafte Darstellung seiner Lettres à un ami allemand wird ihrer Bedeutung nicht gerecht, wenn ihre Wirkung nicht zumindest ansatzweise untersucht und hier skizziert wird.

Von M. Strickmann darf mit Recht nun eine Darstellung erwartet werden, die die Strategien die französischen Intellektuellen zur Beförderung der Verständigung analysiert. Die Einordnung der Intellektuellen in verschiedene Gruppen und Zirkel könnte zugunsten einer themenzentrierten Darstellung weichen. Vergleicht man dann diese Aufbruchszeit mit dem aktuellen intellektuellen Klima der deutsch-französischen Beziehungen, muß der Bogen einer solchen Darstellung naturgemäß viel weiter gespannt werden. Dann müßte allerdings der Untersuchungszeitraum zumindest bis 1963 ausgedehnt und auch deutsche Intellektuelle miteinbezogen werden. Das Enddatum der Untersuchung ist hier noch willkürlich gewählt, wohl um den Seitenumfang zu beschränken. Einzeluntersuchungen zu den deutsch-französischen Beziehungen in bestimmten Zeiträumen haben wie diese Arbeit von Martin Strickmann im Sinne der Grundlagenforschung sicher ihrer Existenzberechtigung, sie sind aber immer nur ein Ausschnitt der gemeinsamen Geschichte mit Frankreich, deren wirkliches Potential nur mit Studien, die längere Zeiträume umfassen, aufgezeigt werden kann.

Heiner Wittmann

Jean-Paul Sartre, eine Einführung

Martin Suhr,
Jean-Paul Sartre zur Einführung,

2. vollständig überarbeitete Auflage,
Hamburg:
Junius,2004.
ISBN 3-88506-394-8

Die Feststellung in der Einleitung, Sartres Einfluss, der sich u.a. “auf seine Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Kommunismus” bezieht , sei nach dem Zusammenbruch des Ostblock “zu einer lediglich historisch interessierenden Epoche geworden” (S. 12) – auch wenn Suhr, dies hier nur als mögliches on-dit anführt – enthält eine Bewertung, die ihm die Unabhängigkeit, die Sartre für sich in Anspruch nehmen wollte, nicht zugesteht. – Seine Wegbegleitung der PCF in den fünfziger Jahre, er spricht im Interview mit M. Contat von einer “voisinage”, (Sartre, Autoportrait à 70 ans, in : Situations, X, S. 181) war kein bloßes Mitlaufen, sondern auch von dem Versuch geprägt, auf die Partei einzuwirken. Das Scheitern dieses Versuchs ist ein anderes Thema. Es ist genauso erstaunlich, daß Sartre als Zielscheibe heftigster Kritik der PCF um 1947 beinahe nie genannt wird. – Seine Dramen werden, so Suhr, wenig gespielt, seine Romane werden wenig gelesen (cf. I. Grell, Les chemins de la liberté), aber er vermutet, daß seine Biographien und seine philosophischen Schriften seinen Nachruhm begründen. Das Thema seines Gesamtwerkes resümiert Suhr mit einem Zitat aus Saint Genet. Comédien et martyr (1951): “Es geht um die Leidenschaft, die Menschen zu verstehen.” (Saint Genet, S. 219). Wie aber kommt es dazu, daß Sartre versucht, “den Existentialismus dem Marxismus einzuordnen”, fragt Suhr, mit der er seine Position grundsätzlich verändert. Die Antwort auf diese Fragen will Suhr in den philosophischen Schriften Sartres finden. Es ist richtig, daß Suhr ausdrücklich auf die Bedeutung seiner literarischen Schriften für jede Einführung in sein Werk hinweist.

Es folgen sechs Kapitel, in denen Suhr Les Mots (1960), das Dasein als ästhetisches Phänomen (La nausée, 1938, L’existentialisme est un humanisme, 1947), den Geist der Ernsthaftigkeit (L’enfance d’un chef, Réflexions de la question juive), den Menschen als ein nutzlose Passion (L’être et le néant) und die Questions de méthode vorstellt.

Suhr unterstreicht die Ironie und den Witz in Les mots, wo eine Resignation des Autors erkennbar wird, und folgt der Kapiteleinteilung “Lesen”, Schreiben”. Beinahe beiläufig aber dennoch eindeutig erklärt Suhr die Einführung grundlegender Konzepte wie das Nichts, die Unaufrichtigkeit, die Wahl und die Existenz, mit denen Sartre seine Autobiographie strukturiert, die auch als Porträt eines sich entwickelnden jungen Schriftstellers, der von seiner Mission überzeugt ist, gelesen werden könnte. In Les mots werden diese Konzepte so genutzt, als ob der kleine Poulou damals mit ihnen zielstrebig seine Karriere vorbereitet habe. Die Ironie in bezug auf die eigenen Arbeiten kann eigentlich nur erkannt werden, wenn seine philosophischen Grundgedanken dem Leser vertraut sind.

Das Porträt des Roqentin in La nausée (1938) könnte, würde man der Anordnung in Suhrs Einführung folgen, eine Fortsetzung von Les mots sein. Sartre erklärt am Ende von Les mots, er sei Roquentin, an dem er “das Muster seines Lebens” zeige. Wieder geht es um die Konzepte wie Kontingenz, Wahl, die Angst, und es folgt die Einsicht Roquentins, daß sein Denken die Existenz rechtfertigt, woraus seine Verantwortung entsteht. Der Autodidakt hilft ihm bei seinem Erkenntnisprozeß. Roquentin erkennt schließlich die Bedeutung der Kunst: “Die Welt der Kunst ist eine andere Welt, in ihr gib es ein Sein, das nicht Existieren ist; ein Sein der Ordnung und Vollkommenheit.” (Suhr, S. 64.) Diese Einführung in La nausée ist sehr lesenswert, da es Suhr gelingt, den Zusammenhang der Konzepte untereinander zu verdeutlichen, wodurch der Leser geradezu aufgefordert wird, in L’être et le néant (1943) weiterzulesen.

Im genannten Interview mit M. Contat wird Sartre 1975 danach gefragt, was er vom Begriff des Existentialismus halte, und antwortet, der Begriff sei “idiotisch”. (Sartre, Autoportrait à 70 ans, in : Situations, X, S. 192.) Er gibt dann aber doch zu, daß er ihm der Bezeichnung “Existentialist” in Bezug auf seine eigene Philosophie vorziehe. Er selber war mit dem Druck seines so erfolgreichen Vortrags L’existialisme est un humanisme (1947) eher unzufrieden, wohl weil er die darin enthaltenen Ausführungen als eine Verkürzung seiner Philosophie betrachtete. Suhr stellt diesen Vortrag vor der Analyse von L’être et le néant (1943) vor und ergänzt auf diese Weise die bereits in seinen literarischen Werken dargestellten Konzepte seiner Philosophie. Mit längeren Zitaten erläutert Suhr die Struktur dieses Vortrags, der, so Suhr, die existentialistische Philosophie als optimistisch kennzeichnet und sie als eine “Lehre der Tat” (S. 74) beschreibt. In diesem Sinn sei der Mensch “ständig außerhalb seiner selbst”. Damit will Suhr die Perspektive auf L’être et le néant öffnen.

Die Kindheit eines Chefs (1938) und die Réflexions sur la question juive (geschrieben 1944, veröffentlicht 1947) gehören nach Suhr eng zusammen. Die Réflexions sind die theoretische Version der Erzählung von 1938. Andere Autoren (H. Ahrendt, M. Loewenstein, S. 85) haben diese Fragen auch behandelt, aber Sartre war der erste in Frankreich, der diese Überlegungnen in dieser Systematik vorgetragen hat. Für Sartre gilt “Mit einem Wort, der Antisemitismus, ist die Furcht vor dem Menschen.” (in: Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, übers. v. V. v. Wroblewsky, Reinbek b. Hamburg, 1994, S. 36), und damit wird die Frage nach der “Urangst vor dem Ich” (S. 85) gestellt, die Suhr anhand der Lektüre von L’être et le néant untersuchen will.

Eine “Grundlegung der existentialistischen Hermeneutik” wird mit L’être et le néant angeboten. Mit den Mitteln, mit denen der Mensch sich selbst begreifen kann, so Suhr, kann der Mensch auch andere begreifen. (S. 86). Auf den folgenden 80 Seiten, also der Hälfte seiner Untersuchung erklärt Suhr die Struktur von L’être et le néant und Sartres Argumentation. “An-sich-Sein” und “Für-sich-Sein”, das zentrale Begriffspaar wird zuerst erläutert, dann folgen Erklärungen zur Ontologie und zur Phänomenologie, lautet der Untertitel doch Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Den zentralen Begriffen ‘Angst” und “Freiheit’, dem hegelschen Begriff des Selbstbewußtseins, dem Begriff “Für andere’ und schließlich der Freiheit werden eigene Kapitel gewidmet. Suhrs Darstellung profitiert von dem Aufbau seiner Einführung, in der er zuerst die Anwendung der Konzepte vorstellt, deren theoretische Zusammenhänge er im Kapitel über L’être et le néant eingehend erläutert. Mit mehreren graphischen Darstellungen (S. 93, 102. 130 f.) erläutert er den Gang der Argumentation Sartres. Die Wahl, die wir sind, ist ein Ausdruck der Freiheit des Menschen. Die Methode, mit der versucht werden kann, diese Wahl zu begreifen, nennt Sartre die existentielle Psychoanalyse. (S. 159) Suhrs Einführung in L’être et le néant erleichtert den Zugang zu diesem Werk. Mit Recht weist er darauf hin, daß in diesem Werk die Antworten auf die Fragen gegeben werden, die in den Werken vor und nach L’être et le néant von Sartre gestellt werden. In diesem Sinne enthält dieser Band eine Begründung der menschlichen Freiheit, deren Aktualität ungebrochen ist.

Questions de méthode veröffentlichte er 1956 zuerst in einer polnischen Zeitschrift und dann stellte diesen Artikel 1960 vor die Einleitung in der Critique de la raison dialectique. Suhr betont, daß dieser Artikel zeigt, wie, Sartre Grundsätze des “historischen Materialismus” (S. 164) aufgreife, um mit ihnen seine existentielle Psychoanalyse zu ergänzen, da er die Mängel dieser Methode bei der Abfassung der Porträts über Baudelaire (1947) und Jean Genet (Saint Genet. Comédien et martyr, 1951) erkannt habe. Die Kritik, die Sartre aber in den Questions an der Entwicklung des Marxismus vorträgt, zeigt mit welcher Eindringlichkeit er die Verbindung von Marxismus und Existentialismus geprüft hat, ohne seine Grundsätze der Freiheit des Menschen auch nur im geringsten in Frage zu stellen. Sartre entwickelt hier die regressiv-progressive Methode, die bis zum Idiot de la famille seine Künstlerporträts bestimmen wird. Es geht um eine Darstellung der Kindheit. Dann werden die Mittel der jeweiligen Epoche mittels der regressiven Methode erkundet, mit denen die historische Einzigartigkeit der Objekte begreifbar gemacht werden soll, ohne daß die Biographie eine alleinige Rolle bekommt. “Werk, Mensch und Epoche” bilden eine Einheit, die es in einem “ständigen Hin und Her” (S. 170) zu erhellen gilt. Auf diese Weise wird eine progressive Methode der Integration dieser Elemente eingeführt. Mit diesen Erkenntnissen soll dann der Entwurf und sein Ziel formuliert werden. Von der Einführung des Marxismus in seine existentielle Psychoanalyse bleibt im wesentlichen seine Kritik am Marxismus. “…il [i.e.] a entièrement perdu le sens de ce que c’est un homme.” Questions de méthode, in: Critique de la raison dialectique, Paris 1960, S. 58) und “…le marxisme concret doit approfondir les hommes réels et non les dissoudre dans un bain d’acide sulfurique.” (ib. S. 37).

In der Préface (1960), die vor den Questions de méthode steht, erscheint der oft zitierte Satz “…je considère le marxisme comme l’indépassable philosophie de notre temps.” (S. 9), der immer wieder Interpreten dazu dient, aus Sartre einen Marxisten zu machen. Man würde seinem Werk und seinen Auffassungen, besonders der harschen Kritik an der Entwicklung des Marxismus, so wie er sie in den Questions de méthode vorträgt, besser gerecht werden, wenn man aus ihr nicht eine Wende in seinem Denken ableitet. Eine Entwicklung seines Denkens gab es ohne jeden Zweifel (cf. Sartre, Autoportrait à 70 ans, in: Situations, X, S. 180) aber ihre Folgen müssen differenzierter gesehen und bewertet werden. Tat-sächlich analysiert Suhr diese Wende nur auf einigen wenigen Seiten, ohne ihrer Analyse den wirklich notwendigen Raum zu geben. Es ist bedauerlich, daß Suhr nur in einigen kurzen Sätzen auf Sartres Porträt Flauberts in L’Idiot de la famille hinweist, aber dennoch hat er das eigentliche Ziel seiner Einführung erreicht. Der Leser erkennt die Zusammenhänge zwischen seinen literarischen und seinen philosophischen Werken. Zugleich öffnet Suhr die Perspektive auf die Künstlerporträts, vor allem auf die Studie über Flaubert. Und er erinnert daran, dass Sartre 1972 und 1974 in den Streitgesprächen mit Philippe Gavi und Pierre Victor trotz deren Drängen von seinem Flaubert-Buch keinerlei Abstand neh-men will, sondern ihnen die Notwendigkeit, diese Untersuchung weiterzuführen, verdeutlicht.

Kurze Einführungen in ein so komplexes Werk wie das von Jean-Paul Sartre sind nicht einfach auszuführen, aber Suhr ist es durch die geschickte Anordnung seiner Kapitel gelungen, eine Kontinuität im Werk von Sartre aufzuzeigen, die im wesentlichen von “der Leidenschaft, den Menschen zu verstehen” bestimmt wird. Damit beantwortet er auch die eingangs gestellte Frage nach dem, was von Sartre bleibt. Es ist die ungebrochene Aktualität seines Werks, das die Freiheit des Menschen immer wieder hervorhebt.

Heiner Wittmann

Frankreich und Europa

Frankreichs EuropapolitikGisela Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, Frankreich-Studien, Band 9, hrsg. v. H. M. Bock, A. Kimmel, H. Uterwedde, GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004.

Wenn man bedenkt, wie lautlos die deutsch-französischen Beziehungen heute auf der Arbeitsebene zwischen den Ministerien in Berlin und Paris funktionieren, ist es erstaunlich, dass Paris und Bonn in der erweiterten EU anscheinend an Einfluss verloren haben, was möglicherweise auf zuviel Reibungsverluste zwischen Paris und Bonn zurückzuführen ist, oder auch schlicht mit einer ungenügenden Kenntnis voneinander auf vielen Ebenen zu begründen ist. Ein zusätzliches Symptom, wie der stete Rückgang der Schülerzahlen, die in den beiden Ländern die Sprache des Nachbarn lernen, nimmt immer erschreckendere Ausmaße an und trotz mancher erfolgreichen Initiativen, wie beim France-Mobil, ist kein Durchbruch in Sicht. Die Zeit nach den Bundestagswahlen wird einer Berliner Regierung wieder Raum zu neuen Initiativen bieten, mit denen sie an frühere im wahrsten Sinne des Wortes grundlegende europäische Erfolge der deutsch-französischen Europapolitik anknüpfen könnte.

In diesem Rahmen kommt der Band von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet über die französische Europapolitik zum richtigen Zeitpunkt. Im Kern zeigt auch die französische Politik wie manche anderen Staaten ein Zaudern zwischen der Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte und dem europäischen Einigungsprozeß, wie dies erst jüngst die Ablehnung der europäischen Verfassung durch die Franzosen unterstrichen worden ist. Aber der Wahlkampf für das Referendum wurde von innerpolitischen Themen überlagert, die Regierung verstand es nicht, weder daraus ein europäisches Thema zu machen, noch es irgendeiner Form in besonderer Weise mit den deutsch-französischen Beziehungen zu verknüpfen. Der Vertrag wurde als Benachteiligung der nationalen Wirtschaft empfunden und daher abgelehnt.

Dieses Buch zeigt nach einem kurzen Überblick über die IV. Republik die Entscheidungssysteme der V. Republik. Dazu zählt vor allem die starke Stellung des Präsidenten, die de Gaulle mit der Verfassung der V. Republik begründete. Seine Außenpolitik verfolgte mit den Fouchet-Plänen und schließlich auch mit dem Elysée-Vertrag von 1963 eine europäische Einigung unter französischer Führung. Die Fouchet-Pläne scheiterten, und der Elysée-Vertrag erhielt von deutscher Seite eine Präambel, die die französischen Pläne durchkreuzte, aber dennoch eine solide deutsch-französische Zusammenarbeit mit Ihren Hoch und Tiefs begründete. Unter Georges Pompidou änderte sich die französische Europapolitik mit der Hinwendung zu Großbritannien. das mit Irland im Januar 1973 in die EU aufgenommen wurde. Giscard d’Estaing baute die Außenpolitik des Präsidenten als “domaine réservé” weiter aus. Seine Zusammenarbeit mit Helmut Schmidt führte zur Schaffung des Europäischen Währungssystems (EWS) und zur Einführung der Direktwahl zum Europäischen Parlament. Es ist interessant, wie Müller-Brandeck-Bocquet de Unterschiede hinsichtlich der europäischen Initiativen der französischen Staatspräsidenten schildert und dabei zu verstehen gibt, wie außenpolitische Faktoren und innerpolitische Umstände und Mehrheitsverhältnisse und natürlich die Person des Präsidenten die europapolitischen Entscheidungen in Frankreich prägen.
Sie zeigt auch in ihrem Band, wie Frankreich sich anfangs schon immer zögerlich zu Beginn neuer Initiativen der europäischen Einigung verhielt, dann aber immer wieder und zunehmend immer mehr mit Deutschland zusammen die Initiativen zum Wohl der Gemeinschaft vorantrieb. “Vom Saulus zum Paulus…” nennt die Autorin das Kapitel, in dem sie die Mitterrands Hinwendung zu Europa analysiert. Er, der noch 1956 die römischen Verträge abgelehnt hatte, konvertiert erst zwei Jahre nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten zur Europapolitik. Die Autorin nennt für diese anfängliche Zurückhaltung drei Punkte: Zum einen waren dies innenpolitische Gründen, die mit der Rücksicht auf den linken Rand der PS und die Kommunisten erklärt werden, zum anderen schien sich damit auch eine Distanz zur Politik seines Vorgängers anzudeuten und schließlich konzentrierte sich die neue Regierung zuerst auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese Prioritäten erklären auch, wieso das erste Memorandum zu Europa am 13. Oktober 1981 zunächst folgenlos blieb. Der März 1983 brachte die Wende und der Titel dieses Kapitel geht auf eine Überschrift in der FAZ aus jenen Tagen zurück: Nach dem Abschied von einem Sozialismus “à la française”, eine Art Notbremsung, hielt Mitterrand am 24. Mai 1984 vor dem Europäischen Parlament eine Rede und regte die Schaffung eines neuen Vertrags an. Gleichzeitig rückte Mitterrand die deutsch-französischen Beziehungen wieder in Mittelpunkt. Er und Helmut Kohl wurden zum deutsch-französischen Tandem, von dem das Foto in Verdun am 22.9.1984 als beide Hand in Hand der Toten gedachten in aller Erinnerung geblieben ist.

François Mitterrand wurde 1986 mit der Kohabitation konfrontiert und beharrte ausdrücklich auf den Vollmachten seines Amtes, die nach seinen Worten von einer Wahl, die ihn nicht beträfe, in keiner Weise eingeschränkt würden. Nach seiner Wiederwahl im Mai 1988 kam es 1993 zur zweiten Kohabitation mit dem bürgerlichen Lager. Die Zeitenwende von 1989/90 war tatsächlich eine Zäsur, die François Mitterrand ebenfalls nach anfänglichem Zögern entschlossen zu nutzen verstand, indem er seinen Teil zum Gelingen des Maastricht-Vertrages beitrug. Dennoch versteht die Autorin die französische Maastricht-Debatte als das “Ende des goldenen Zeitalters für Europa”. Wiederum waren es vor allem innenpolitische Streitigkeiten zwischen den Anhängern der europäischen Integration und den Skeptikern, die nationale Souveränitätsrechte in Gefahr sahen. Müller-Brandeck-Bocquets Analyse dieser Jahre zeigt in überzeugender Weise die Auswirkungen der parteipolitischen Diskussionen auf die Europapolitik der Regierung und die des Staatspräsidenten. Es lohnt sich, diese Analyse zur Kenntnis zu nehmen, da einige der damaligen Vorbehalte, wenn auch unter leicht veränderten Vorzeichen, kürzlich das Referendum zum EU-Vertrag scheitern ließen.

Mitterands Nachfolger Jacques Chirac, der am 17. Mai 1995 gewählt wird, wurde nach seinem mißglückten Kalkül im April 1997 hinsichtlich der Auflösung des Nationalversammlung mit einer Kohabitation konfrontiert. Die Autorin untersucht eingehend die Gründe, die zu diesem Fehler geführt haben und kommt zu dem Schluß, daß möglicherweise außer innenpolitischen Erwägungen auch Widerstände aus den eigenen Reihen, z.B. die Charles Pasquas gegen die Europapolitik, eine Rolle gespielt haben könnten, und den Präsidenten zu dem Versuch veranlasst haben, die eigene Position mittels Neuwahlen zu stärken. Die Kohabitation mit dem Premierminister Lionel Jospin führte kaum zu institutionellen Veränderungen der Gewichte zwischen dem Staatspräsidenten und der Regierung, die die Autorin eingehend analysiert. Details wurden der Regierung überlassen, aber Chirac steuerte einen “harten Europakurs”, wohl auch um Kritikern aus den eigenen Reihen zuvorzukommen. Auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommt in der Darstellung der Autorin nicht zu kurz. Sie macht auch deutlich, daß dieses Thema in Frankreich einen offenkundig besonderen Stellenwert besitzt. Das Versagen Europas in Ex-Jugoslawen überzeugte die anderen Staats- und Regierungschefs sich wieder den französischen Vorstellungen eines “Europe Puissance” anzunähern.
Die Irritationen nach dem Amtsantritt der rot-grünen Koalition in Berlin, für die der Autorin zufolge beide Seiten verantwortlich waren, führten 1999 dann doch wieder zu der Einsicht, daß die deutsch-französischen Beziehungen reaktiviert werden sollten, wie dies der damalige Außenminister Hubert Védrine wünschte. Auf dem Gipfel von Nizza wurde hart um die Ausgestaltung der künftigen Entscheidungsgrundlagen hinsichtlich von qualifizierten Mehrheits- oder Einstimmungskeitsverfahren gerungen. Das Scheitern des Gipfels wurde zum Fiasko für Chirac, der im Endeffekt seine Vorstellungen nicht durchsetzen konnte. Künftig mußte Frankreich damit rechnen, daß Deutschland mit zwei anderen Mitgliedsstaaten Entscheidungen mittels 38 % der EU-Bevölkerung erreichen kann. (S. 213) Dadurch wurde die Parität zwischen Deutschland und den drei Großen außer Kraft gesetzt, erklärt die Autorin. Die Kompliziertheit dieser Vorgänge enthält sicher auch schon den Keim zum Scheitern, des EU-Vertrags, da diese Feinheiten der Stimmverteilungen kaum zu vermitteln sind. Es ist dennoch interessant, der Analyse der Autorin zu folgen, da es ihr gelingt die Ausgangssituation für das europäische Vertragswerk dazulegen.

Nach seiner Wiederwahl 2002 wurde nach dem im Oktober 2002 erreichten Kompromiß in Sachen Agrarreform der 40. Jahrestag des deutsch-französischen Vertrags von Paris und Berlin zum Anlaß für eine Reihe neuer Initiativen genutzt, die mit der gemeinsamen Erklärung zu diesem Jahrestag unterstrichen wurden, und die weitgehend in den Verfassungsentwurf übernommen wurden. Der Irak-Krieg hatte die EU auf eine Bewährungsprobe gestellt und das Versagen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gezeigt. Die EU war unfähig gewesen, eine gemeinsame Position zu vertreten. Schröder und Chiracs Widerstand gegen den Irak-Krieg mit der Aussicht auf ein französisches Veto wurde von einigen Staaten als der Versuch, Europa zu spalten, verstanden. Die Frage, ob die deutsch-französischen Beziehungen für Europa ein “Spaltpliz” oder ein “Katalysator” seien, beantwortet die Autorin mit dem Hinweis auf dem in der Irak-Krise erneut erfolgten Schulterschluss zwischen Paris und Berlin, den beide Länder nutzen, um “ihre angestammte Motorenrolle” wieder aufzunehmen. Der Erfolg der Zusammenarbeit zeigt sich darin, daß beinahe alle deutsch-französischen Vorschläge im Konvent übernommen wurden.

Frankreich, so lautet das Fazit der Autorin, ist in den Jahrzehnten seit der Gründung der EWG zu Integrationsschritten mit dem Verzicht auf Souveränitätsrechten nur bereit, wenn zentrale nationale Interessen auf dem Spiel stehen. Der Band wurde vor dem Referendum zum Europavertrag veröffentlicht und schließt mit der Hoffnung, das Projekt “Europe Puissance” werde gelingen, wenn Frankreich wieder die Initiative und die Förderung des europäischen Einigungsprozesses übernehmen würde.
Der Verlauf der Jahrzehnte seit Beginn des Europäischen Einigungsprozesses zeigt, wie sehr nationale Europapolitik, also die Einstellung zu Europa von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen in Frankreich geprägt worden ist und welch großen Einfluß Regierungswechsel auf die Gestaltung der Europapolitik haben .

Der Band von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet legt eine gelungene Analyse vor, die das Verständnis der Bedingungen für französische Europa-Politik fördern kann. Gleichzeitig ist der Band auch eine Mahnung an die Adresse der künftigen Bundesregierung, die Chancen, die sich den deutsch-französischen Beziehungen ergeben, künftig besser im Interesse der europäischen Einigung zu nutzen und die gemeinsame Europapolitik mit Frankreich zusammen wieder den Bürgern verständlich macht.

Heiner Wittmann

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