Rezension: Walburga Hülk, Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand

In > Der Rausch der Jahre erzählt die Siegener Professorin für Romanistik Walburga Hülk, wie das Zweite Kaiserreich mit dem lange unterschätzten Kaiser Napoleon III., dem Neffen Napoleons I., und der Hilfe vieler Getreuer Paris in die Moderne führte. Allein der Umbau von Paris, den er Georges-Eugène Baron Haussmann (1809-1891) anvertraute, rechtfertigt den Untertitel des vorliegenden Bandes: > Als Paris die Moderne erfand.

Sicher, das Zweite Kaiserreich von 1852-1870 hatte seinen Ursprung in einem vornehmlich von den Künstlern und Schriftstellern wie Victor Hugo so beklagten 3. Staatsstreich des 1. Präsidenten der französischen II. Republik. Edmond und Jules de Goncourt beginnen ihr Tagebuch im Dezember 1851 und zeigen sich sogleich verschnupft, weil es vom Staatsstreich so wenig zu sehen gab. Rein in die Hosen, runter auf die Straße und die Gaffer haben nichts mehr zu gucken, das ärgert sie maßlos. Ihre Kollegen Gustave Flaubert, Charles Baudelaire als Kunstkritiker (S. 106-117 ***, S. 151-156) wie auch George Sand haben größte Mühe, sich mit dem neuen Regime zu arrangieren. Jeder von ihnen, jeder Künstler entwickelt seine eigene Strategie um zu überleben. Flaubert schreibt den modernen Roman (Sartre): Madame Bovary. Mœurs de Province (1857) (Cf. S. 141 ff). Die Maler wie Gustave Courbet, Manet und Monet wie auch Winterhalter (cf. S. 101-104) kreieren neue Kunststile oder arbeiten direkt für das Regme und bereiten so dem Kaiserreich eine große Bühne. Alle voran setzt Jacques Offenbach (cf. S. 118-120, S. 192-196) das Fest des Zweiten Kaiserreichs in Noten und feiert, neben Niederlagen, immer neue Triumphe und wird sein musikalischer Botschafter in Europa und sogar in Übersee. In allen Kapiteln erinnert Walburga Hülk zu Recht an den Widerstand der Künstler, aber sie zeigt auch, wie das Regime die ungeheuer vielfältige Kunstproduktion zu seinem eigenen Vorteil und Ruhm zu nutzen verstand. Es wird deutlich, dass die Geschichte des Zweiten Kaiserreichs ohne die Kunst und die Literatur nicht erzählt werden kann.

Die Wut von Victor Hugo auf den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 und damit auf  “Napoléon le Petit” war grenzenlos. Er reiste ins Exil ab, dann auf eine Kanalinsel und sollte erst nach dem Sturz Napoleons III. wieder nach Paris kommen. “Napoléon le Petit” ist mit seiner anschwellenden Empörungsrhetorik der erste Aufschrei der modernen Mediengesellschaft.” (S. 41)

Hülk zeigt wie 1853: “Projektemacherei und Fortschritt first”, die Moderne planvoll und zielgerichtet in Szene gesetzt wird. Vielleicht waren die Künstler mit ihrer Kritik und ihrer Schmollerei doch nicht so auf der Höhe der Zeit, da das Regime ihnen zunächst davon zu eilen schien. Aber schnell wird deutlich, dass die Medienlandschaft sich schnell auf die neue Zeit einstellen kann, neue Presseformen kreiert, das Feuilleton erlebt einen ungeheuren Aufstieg. Hülk resümiert das Aufbruchsambiente so wunderbar mit der Überschrift: “Sex in the City. Bohème zwischen Hedonismus und Start-up.” Der Umbau von Paris wird begonnen, einige außenpolitische Abenteuer wie Algerien und der Krimkrieg kommen hinzu: Frankreich steht mitten auf der Weltbühne. 1855 ist Weltausstellung in Paris und alle Welt reist dort hin.

“Mit dem Fortschritt veränderte sich auch die Arbeitswelt,” (S. 95) Hülk hat auch die sozialen Fragen im Blick, die Probleme derjenigen, denen der so rasante Umbau von Paris, Staat und Gesellschaft nicht so gut bekam. Flaubert ärgert sich über stumpfsinnige Arbeiten, die die Menschheit verblöden und ist mit seiner Einschätzung ganz in der Nähe von Friedrich Engels (cf. S. 95 f).

Lolou der Stammhalter des Kaisers wurde am 12. Juni 1856 geboren. Zwei Tage später wird er in Notre-Dame getauft: (Cf. 129-132). Was für ein Fest! Hülka erzählt hier die strahlenden Sonnenseiten des Regimes, denen sogleich mit den Prozessen gegen Schriftsteller einige Schattenseiten folgen. Großer Schaden entsteht für sie nicht, die Steigerung ihrer Bekanntschaft wird dem Absatz ihrer Bücher nur nützen.

“Immer schneller, immer größer, immer mehr” (S. 156). Die Moderne steigert die Intensität des Lebensgefühls, Beschleunigung allerorten. Und der Kaiser hat seine Schriften wie “Les idées napoléoniennes” nicht vergessen und leitet 1859 eine vorsichtige Liberalisierung des Regimes ein (S. 233 f).

“Gala und Bohème” (S. 235-267) wird von den Erfolgen der Schriftsteller und Künstler begleitet, kommentiert, gefördert und inszeniert. Der Salon der Maler ist immer ein Großereignis, das das Verhältnis von Kunst und Politik vorführt. Die Kommission lehnt nicht nur wegen der Menge viele Bilder ab, die Künstler sind erbost und erhalten auf einmal Protektion vom Kaiser, der befiehlt die ausgesonderten Werke extra zu zeigen: Le Salon des Réfusés.

1867 ist wieder Weltausstellung in Paris: Kein Besucher kann sich vorstellen, dass nur vier Jahre später das Fest plötzlich vorbei sein wird. Das Regime geht im Deutsch-Französischen Krieg unter, aber Arthur Rimbaud (1854-1891) büchst noch während des Krieges mit der Eisenbahn nach Paris aus. 1872 lernt er Stéphane Mallarmé (1842-1898) kennen, beide stehen für einen erneuten bemerkenswerten Modernisierungsschub der Literatur, der so ohne das Zweite Kaiserreich vielleicht gar nicht denkbar war.

Walburga Hülk hat mit ihrer Geschichte von Paris im Zweiten Kaiserreich auch eine Literatur- und Kunstgeschichte der besonderen Art vorgelegt. Ihr Buch ist eine Anleitung dafür, die Tagebücher der Brüder Goncourt, die Romane von Flaubert und George Sand und Victor Hugo wiederzulesen und dabei ihre so bemerkenswerte Modernität wiederzuentdecken. Es ist diese Modernität, deren Ursprünge im Verhältnis, ja im Wettbewerb zwischen Kunst und Politik zu suchen sind. Trotz der Zensur entwickelten sich so viele Kunstformen gleichzeitig, gelangten trotz der gerade wegen ihrer Kritik am Regime zu so großer Blüte. Und das Regime? Woher kam sein Erfolg? Welche Rolle spielte dabei der Kaiser selbst? Nach der Lektüre dieses Buches entsteht doch der Eindruck, dass das Regime nicht nur von den Künsten profitierte sondern auch in gewisser Weise den Weg zu weisen wusste.

Walburga Hülk
> Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand
ISBN: 978-3-455-00637-7
416 Seiten
Hamburg Hoffmann und Campe 2019

Das Taschenbuch erscheint am 05.05.2021,
ISBN 978-3-455-01071-8