Martin Strickmann über Französische Intellektuelle in Deutschland nach 1945

Martin Strickmann,. L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950. Diskurs, Initiativen, Biografien, Peter Lang, Frankfurt/M. 2004. 512 Seiten. 59.00 EUR / 86.00 sFr.

Mit diesem Band ist es M. Strickmann gelungen, ein faszinierendes Panorama der deutsch-französischen Beziehungen in den fünf Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorzuführen. Viele französische Intellektuelle (u.a. Pater de Rivau, Emmanuel Mounier, Alfred Grosser, Joseph Rovan, Claude Bourdet, Jean Schlumberger) haben bei zahlreichen Begegnungen mit Deutschen, Reisen nach und Vorträgen in Deutschland die Aussöhnung mit den Nachbarland vorbereitet, die 1963 durch den Elysée-Vertrag bekräftigt wurde. Strickmann zeigt, wie die Kulturpolitik in der französischen Zone unter dem Einfluß von Raymond Schmittlein und Jean Morau gestaltet wurde. Er läßt die privaten Initiativen und die verschiedenen Foren Revue passieren, in denen sich französische Intellektuelle zu den beiderseitigen Beziehungen geäußert haben. Die präzisen Analysen der unterschiedlichen Institutionen und Vereinigungen beeindrucken durch ihre Materialfülle, das diesen Band beinahe zu einem biographischen Nachschlagewerk werden lässt. U. a. werden die Reisen Alfred Grossers 1947 nach Deutschland, ebenso wie die Jean-Paul Sartres und Simone de Beauvoirs 1948 nach Berlin detailliert dargestellt. (S. 161-174.) Die zahlreichen biographischen Skizzen, die allerdings durch die ausgeprägte Feingliederung der Arbeit zum Teil etwas unverbunden nebeneinander erscheinen, vermitteln präzise und aufschlußreiche Einblicke und lassen auch die Auswertung bisher nicht bekannter Quellen erkennen. Auf diese Weise erläutert er die Herkunft vieler Intellektueller und ihre Beweggründe, sich für die Annäherung mit Deutschland einzusetzen. So wird der Zeitraum der Untersuchung weiter gefaßt, als dies der Untertitel erahnen lässt. Diese Beobachtung gilt auch für die Protagonisten dieses Bandes. Strickmann erwähnt immer wieder die deutschen Gesprächspartner und geht so über die selbst gesetzte Einschränkung auf die französischen Intellektuellen hinaus. In bezug auf Curtius und Gide, die Strickmann beide nennt, darf allerdings die Untersuchung von Dirk Hoeges Kontroverse am Abgrund. Intellektuelle und “freischwebende Intelligenz” in der Weimarer Republik (Frankfurt/M. 1994) in der Bibliographie nicht fehlen.

Strickmann unternimmt in seiner Einleitung eine lange Rechtfertigung, mit der er den Ort seiner Arbeit beschreibt. Sein Thema ist “interdisziplinär an den Schnittstellen zwischen Geschichtswissenschaft, Romanistik, Germanistik, Philosophie, Soziologie du Politologie angesiedelt.” Seine Begründung zielt als Kritik ins Mark der gegenwärtigen Romanistik: “Da sich die deutsche Romanistik hauptsächlich als Textwissenschaft versteht, erklärt sie sich für diese Themen häufig für nicht zuständig.” (S. 19 (Als Ausnahmen nennt er in einer Fußnote “u.a. Joseph Jurt, Frank Rutger Hausmann und Michael Nerlich”.) Aber auch bloße Textwissenschaft im Rahmen der Romanistik kann sich auf die Dauer historischen, philosophischen und soziologischen Zusammenhängen und Beziehungen nicht entziehen. Es ist doch gerade die Vielfalt der Romanistik auch als eine Kulturwissenschaft, die die Nachbardisziplinen und auch die Vertreter des eigenen Faches immer wieder herausfordert. Nein, M. Strickmann muß seinen umfassenden Ansatz keinesfalls rechtfertigen; es stimmt aber dennoch nachdenklich, daß er auf den Gedanken kommt, den Ansatz seiner Untersuchung in dieser Ausführlichkeit zu rechtfertigen.

Ein weiterer Ansatz seiner Arbeit muß in Frage gestellt werden. Der Intellektuelle ist als Begriff und als Bezeichnung mit der Dreyfus-Affäre entstanden. Zolas J’accuse ist aber keinesfalls die Geburtsstunde des Intellektuellen. Kritische Publizisten, Literaten, Schriftsteller, die mehr oder weniger ausgeprägt eine Autonomie für sich und folglich auch eine Unabhängigkeit für ihre Werke reklamierten, hat es auch in den vorangegangenen Jahrhunderten immer schon gegeben. Machiavelli mit seinen in bezug auf seine eigene Tätigkeit distanzierten Analysen schrieb als Intellektueller, wobei er wie selbstverständlich auf allen Gebieten der Kultur vom Theater über die Literatur, die Geschichtsschreibung, mit seiner Korrespondenz und seinen politischen Analysen überall gleichermaßen brillierte, ganz so wie Sartre die Orientierung des Intellektuellen am Universalen forderte. Die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, die dazubeigetragen haben, das Ancien Régime zum Einsturz zu bringen, gehören auch in die Reihe der Autoren und Schriftsteller, die am Ende des 18. Jahrhunderts Intellektuelle genannt wurden. Die Wortgeschichte des Begriffs des Intellektuellen ist für sich genommen interessant, sie darf aber keinesfalls dazu dienen, den Typus, den dieser Begriff in den Blick nimmt, auf eine bestimmte Epoche zu reduzieren.

Die Länge des vorliegenden Bandes ist kritisch zu bewerten. 512 Seiten und 2038 Fußnoten lassen vermuten, daß hier die Vielfalt protokolliert wurde. Eine Dissertation darf keine Materialsammlung sein, sondern der Autor sollte nachweisen, daß er ein Thema in einem bestimmten Umfang darstellen kann. Hier fehlte die ordnende Hand des Doktorvaters, der zumindest im Hintergrund eine Beschränkung auf die Herleitung der entscheidenden Erkenntnisse, auf die Darstellung eines synthetischen Blicks und der wesentlichen Aussagen drängt. Eine solche Gewichtung fehlt in dieser Arbeit, alle Initiativen erscheinen als gleich wichtig und von den gleichen Erfolgen gekrönt. Eine Schlussbetrachtung von 38 Seiten stimmt auch skeptisch, zumal diese biographische Elemente noch einmal aufnimmt und mit den Vergleichen von Lebensläufen weitere Erkenntnisse zu gewinnen versucht.

Es ist zweifelsohne ein sinnvoller Ansatz, die Nachkriegszeit mit einer Konzentrierung auf die Biographien darzustellen, da der Prozess der Verständigung tatsächlich von einigen Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer persönlichen Geschichte für diese Aufgabe besonders prädestiniert waren, entscheidend beeinflusst und vorangetrieben wurden. Allerdings sind biographische Skizzen dann doch auch wieder häufig Beiwerk, die den Leser irritieren, weil sie den eigentlichen Gang der Darstellung verwirren. Die Wirkung vieler Autoren beruht nicht unbedingt auf ihrer Biographie, sondern entsteht aufgrund der Rezeption ihrer Werke in bestimmten Umständen, die ihre Biographie nicht erläutert. Die geraffte Darstellung der Philosophie Sartres (S. 65) ist dafür ein Beispiel. Solche Verkürzungen führen dann zu Begriffen wie die Kennzeichnung seiner Philosophie als “nihilistisch” und “pessimistisch” “mit dem Grundtenor von Entfremdung, Ekel, Absurdität und Verzweiflung” (ib.) Derlei Verkürzungen sind kein guter Ausweis für die andern biographischen Skizzen und folglich für die Gewichtung anderer Intellektueller in diesem Band. Genauso wird Camus’ “Philosophie des Absurden” in unangemessener Form als pessimistisch apostrophiert. Die resümeehafte Darstellung seiner Lettres à un ami allemand wird ihrer Bedeutung nicht gerecht, wenn ihre Wirkung nicht zumindest ansatzweise untersucht und hier skizziert wird.

Von M. Strickmann darf mit Recht nun eine Darstellung erwartet werden, die die Strategien die französischen Intellektuellen zur Beförderung der Verständigung analysiert. Die Einordnung der Intellektuellen in verschiedene Gruppen und Zirkel könnte zugunsten einer themenzentrierten Darstellung weichen. Vergleicht man dann diese Aufbruchszeit mit dem aktuellen intellektuellen Klima der deutsch-französischen Beziehungen, muß der Bogen einer solchen Darstellung naturgemäß viel weiter gespannt werden. Dann müßte allerdings der Untersuchungszeitraum zumindest bis 1963 ausgedehnt und auch deutsche Intellektuelle miteinbezogen werden. Das Enddatum der Untersuchung ist hier noch willkürlich gewählt, wohl um den Seitenumfang zu beschränken. Einzeluntersuchungen zu den deutsch-französischen Beziehungen in bestimmten Zeiträumen haben wie diese Arbeit von Martin Strickmann im Sinne der Grundlagenforschung sicher ihrer Existenzberechtigung, sie sind aber immer nur ein Ausschnitt der gemeinsamen Geschichte mit Frankreich, deren wirkliches Potential nur mit Studien, die längere Zeiträume umfassen, aufgezeigt werden kann.

Heiner Wittmann

“Quand Google défie l’Europe”

Plaidoyer pour un sursaut” lautet der Untertitel des Buches “Quand Google défie l’Europe“, mit dem der Direktor der Bibliothèque Nationale, Jean-Noël Jeanneney, in Paris vor den Folgen von Google Print für die europäische Kultur warnt. Am 14. Dezember 2004 wurde bekannt, daß Google Auszüge aus mehreren amerikanischen Bibliotheken rund 15 Millionen Bücher zum Durchsuchen online zur Verfügung stellen will.

Auf unserere Website: Urheberrecht

Links, die J.-N. Jeanneney in seinem Buch nennt.

Jean Noël Jeanneney, Quand Google défie l’Europe. Plaidoyer pour un sursaut, Editions Mille et une nuits, Paris 2005. Dt. Fassung: Jean-Noël Jeanneney, Googles Herausforderung. Für eine europäische Bibliothek, Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger und Sonja Fink. Wagenbach Verlag, Berlin 2006. ISBN 3-8031-2534-0

Wir rezensieren die frz. Ausgabe:

Am 14. Dezember 2004 kündigten die Betreiber der Suchmaschine Google aus Mountain View in Kalifornien ihre Absicht an, innerhalb von zehn Jahren rund 15 Millionen Bücher zu digitalisieren und mittels ihrer Suchmaschine zum Durchsuchen zur Verfügung zu stellen. Mittlerweile ist Google Print print.google.com weltweit erreichbar. Das Projekt stößt auf das Wohlgefallen der Surfer, die das kostenlose Prinzip im Internet gestärkt sehen. Der Direktor der französischen Nationalbibliothek, Jean Noël Jeanneney, ist keineswegs amüsiert, sondern alarmiert. In LE MONDE nannte er am 22. Januar 2005 das Vorhaben von Google eine Herausforderung für Europa.

Mittlerweile ist Jeanneney vom Staatspräsidenten, Jacques Chirac, empfangen wurde, der ihn mit der Erarbeitung einer Strategie beauftragte. Die Streitschrift, die Jeanneney vorgelegt enthält eine deutliche Warnung vor der digitalen Macht von Google, mit der sich die europäischen Staaten beschäftigen müssen. Jeanneney gibt zwar eine gewisse Bewunderung gegenüber den Begründern von Google zu, will aber der Passivität, mit der vor allem in Europa ihrer Herausforderung begegnet wird, nicht hinnehmen. Die Aufgaben der Bibliothekare und Buchhändler werden mit der zunehmenden Digitalisierung in dem Maße nur noch größer, wie die technische Entwicklung den Unterschied von bloßer Information und überprüften Wissen ständig weiter vergrößert. Jeanneney stellt prinzipielle Fragen. Kann dieses System des Suchens, so wie Google Print es präsentiert, den Ansprüchen, die die Kultur fordert, überhaupt gerecht werden?

Das Übergewicht der USA und der anglophonen Welt werden die französische und auch die europäische Geschichte und Literatur zurückdrängen. Jeanneney nimmt zwar zur Kenntnis, daß Google-Print auch nicht anglophone Werke aufnehmen will, aber die Suche nach dem Stichwort French Revolution führt natürlich schon, ohne daß man einseitige Interessen unterstellen muß, per se nur zu anglophonen Werken. Jeanneney ist fest überzeugt, daß angesichts der sich abzeichnenden technischen Herausforderungen der Staat gefordert sein wird, seine Verantwortung zu übernehmen.

Jeanneney widmet der Verifikation der Inhalte, die bei Google naturgemäß keine Rolle spielen kann, seine besondere Aufmerksamkeit. Bibliographien sind ein Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit, und hier zielt Jeanneney auf die Methode, wie Google-Print seine Ergebnislisten präsentiert. Über kurz oder lang könnte Google-Print die Inhalte und damit die Qualität vieler Bibliographien mitbestimmen, da deren Umfang den Suchenden zumindest im anglophonen Bereich eine Vollständigkeit suggeriert, die man augenscheinlich nur mit Mühe vervollständigen kann. Noch bedenklicher wird es, wenn (nicht nur) Studenten sich in ihren Arbeiten auf das Durchsuchen von Google-Print mittels einschlägiger Stichworte beschränken, um eben noch ihre Seminararbeit mit einigen mehr oder weniger treffenden Zitate abzurunden.

Man muß jetzt und nicht morgen in die Digitalisierung der Kultur investieren, so lautet Jeanneneys Forderung. Und er beschreibt zwei Schwachpunkte von Google. Zum einen ist es die Ausschließlichkeit, mit der Google, ein Produkt, nämlich Suchergebnisse vermarktet, das dem Unternehmen als Einseitigkeit und möglicherweise auch eine Schwäche ausgelegt werden kann, und zum anderen ist die Gesetzgebung gegen die Monopole in den USA, aus der Google Probleme entstehen könnten.

Jeanneneys Aufruf zeigte schnell Wirkung. In einer Botschaft haben sich Frankreich, Polen, Italien, Spanien, Ungarn und Deutschland am 28. April 2005 an den Präsidenten den europäischen Rates Jean-Claude Juncker und an den Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Durao Barroso, gewandt. 19 National- und Universitäts-Bibliotheken in Europa haben den Appell der französischen Nationalbibliothek unterzeichnet, um eine drohende geistige und kulturelle Vorherrschaft der USA zu verhindern.

In seiner Antwortenliste auf häufig gestellte Fragen wendet sich Google auch an Verlage und schlägt ihnen die Teilnahme am Google-Print Programm vor. Verlage können ihre Bücher einsenden. Die Bücher werden dann kostenlos eingescannt und in die Suchmaschine eingegliedert. Die damit verbundenen Urheberrechtsprobleme scheinen von Jeanneney nicht oder kaum bedacht worden zu sein. Der von ihm mit angestoßenen Aktivitäten der Regierungen und Bibliotheken kann eigentlich nicht im Interesse der Verlage sein, von denen nicht jeder ohne weiteres bereit sein dürfte, die Inhalte seiner Bücher auch nur auszugsweise in der von Google konzipierten Weise offenzulegen.

In einer Stellungnahme der Bundesregierung vom 3. Mai 2005 heißt es: “Ein digitalisiertes Kulturerbe in europäischen und internationalen Zusammenhängen wird dazu beitragen, die kulturelle Vielfalt, Forschung und Wissenschaft Europas auch bei Internetsuchen sichtbar zu machen” und verweist auf die europäischen Initiative “The European Library”, die dazubeitragen soll, den Zugang zu den digitalisierten Werke der Mitgliedsländer zu verbessern. Tatsächlich existiert dieses Projekt ( TEL – The European Library) schon, und es kommt jetzt auf den Kooperationswillen der beteiligten Staaten an, dieses Projekt weiterauszubauen.

Europa wird nicht allein durch elektronischen Datenbanken gegenüber den USA konkurrenzfähig. Die europäischen Staaten müßten den Kulturaustausch und die Stärkung er europäischen Forschung mit dem gleichen Elan wie bei der Erstellung von computergestützen Rechercheinstrumenten zur Chefsache machen, denn dieser europäischen Vielfalt kann Google nichts entgegensetzen, wird sie aber zur Kenntnis nehmen müssen.

Ein Beispiel: Sucht man in Google-Print nach Kohl und Mitterand” wird an erster Stelle der Band Unequal Partners: French-German Relations, 1989-2000 von Julius Weis Friend (Westport 2001) angezeigt und die Hinweise (“More results from this book”) auf 33 Belege in diesem Buch, die beide Namen enthalten. (Suchergebnis vom 25. Juni 2005)

Die Suche nach Deutschland” wird mit dem Hinweis auf den von Michael G Huelshoff, Simon Reich, Andrei S Markovits herausgegebenen Band From Bundesrepublik to Deutschland: German Politics After Unification (University of Michigan Press 1993) beantwortet, und an dritter Stelle steht das Buch von Norbert Bachleitner Der englische und französische Sozialroman des 19: Jahrhunderts und seine Rezeption in Deutschland (Amsterdam 1993). (Suchergebnis vom 25. Juni 2005)

Heiner Wittmann


Ein Aufsatz zu diesem Thema wird in DOKUMENTE, Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog im August 2005 erscheinen.

Links, die J.-N. Jeanneney in seinem Buch nennt, und zu diesem Thema mit einigen Ergänzungen


Rezensionen zum Buch von J.-N. Jeanneney
Bloogle
Die Google-Bedrohung  Rundfunk Berlin-Brandenburg
Demokratisierung des Weltwissens oder Diktatur eines angloamerikanischen Kanons?
Vortrag von Jean-Noël Jeanneney am 7. März 2006 in der Französischen Botschaft in Berlin


Beiträge zum Thema Urheberrecht auf dem Blog von Klett-Cotta:
Der Google-Welt-Buchladen und das Urheberrecht – 31. Juli 2009
Leser, Autoren, Verleger und Herausgeber – 22. Juli 2009
Das Urheberrecht ist im öffentlichen Raum – 22. Juli 2009
Johann Friedrich Cotta und die Rechte der Autoren – 3. Mai 2009
Digital und kostenlos? Open Access – 2. Mai 2009
26. April 2009: Tag des geistigen Eigentums – 27. April 2009
Urheberrecht: Digital heißt nicht rechtlos – 26. April 2009

Albert Camus, Réflexions sur le terrorisme

Albert Camus
Réflexions sur le terrorisme
Textes choisis et introduits par Jacqueline Lévi-Valensi,
commentés par Antoine Garapon et Denis Salas, Paris 2002.

Die bibliographische Angabe für den Titel des hier zu besprechenden Bandes ist nicht einfach zu formulieren. Die Zusammenstellung der Textauszüge stammt nicht vom Autor selbst, sondern sie ist erst unter dem Eindruck der Ereignisse vom 11. September 2001 von Jacqueline Lévi-Valensi, die emeritierte Professorin der Unversité de Picardie Jules Verne und Vorsitzende der Société des Etudes Camusiennes ist, vorgenommen worden.

Die Begründung für die Auswahl der Texte liegt auf der Hand. In der Tat hat sich Camus immer wieder zum Thema Gewalt, in theoretischer Form in L’homme révolté und mit tagesaktuellen Bezügen zu vielerlei Vorgängen in Algerien geäußert. Die Auszüge stammen aus den Lettres à un ami allemand, aus La Peste, aus L’homme révolté, aus den Theaterstücken L’état de siège, Les Justes und aus zahlreichen anderen Artikeln, in denen Camus unmittelbar zu Fragen der Gewalt Stellung nahm. Auch sein Aufruf zum Frieden in Algerien vom Januar 1956 wurde auszugsweise in diesen Band aufgenommen. Lévi-Valensi ist sich über die religiös-fanatische Dimension der jüngsten Anschläge bewußt, die Camus so in dieser Form nicht gekannt hatte.

Der Leser gewinnt mit diesem Band einen unmittelbaren Eindruck von Camus’ Engagement für die Freiheit und für seine eigenen Überzeugungen, die er immer wieder mit Nachdruck verteidigt hat. Der Wunsch der Herausgeberin, diese Auswahl möge die Leser dazu anregen, die vollständigen Kapitel in L’homme révolté nachzulesen, kann nur mit Nachdruck unterstützt werden.

Die Einleitung von Lévi-Valensi “Albert Camus et la question du terrorisme” ist nun allerdings ein erneuter Nachweis dafür, daß die ästhetische Dimension seines Werkes auch heute noch nicht immer erkannt wird. Zwar erwähnt Lévi-Valensi zu Beginn ihrer Einleitung, daß Camus sich als Künstler betrachtete, aber auf jeden anderen Hinweis hinsichtlich der Kunst z.B. in L’homme révolté verzichtet die Herausgeberin. Die Revolte ist nur der erste Teil der Argumentation, mit der Camus seine Haltung gegenüber dem Absurden begründet. Die ästhetische Dimension von L’homme révolté macht den Künstler und die Kunst selbst zum eigentlichen Träger der Revolte im Sinne Camus’. Außerdem definiert er die Revolte nicht als einen einzelnen Akt, sondern als eine Haltung und diese wird am besten durch den Künstler verkörpert: “L’artiste devient alors modèle, il se propose en exemple: l’art est sa morale.” (Camus, L’homme révolté, in: Essais, S. 463) – Es gibt Zweifel, ob die Revolte, so wie Camus sie versteht, für den vorliegenden Band den geeigneten Hintergrund bilden kann.

Camus Freiheitsbegriff und die Aufgaben, die er dem Künstler und dem Schriftsteller zuweist, stehen in engem Zusammenhang mit der Autonomie der Kunst, die er den Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts und damit auch jeder Form des Terrors entgegenstellt. Aber erst mit den Schlussfolgerungen in bezug auf die Kunst gewinnt L’homme révolté seine enorme Aktualität. Wird die ästhetische Dimension unterschlagen, bleibt der Herausgeberin nur ein eher essayistisches Nachdenken über die unterschiedlichen Formen der Revolte. Selbst ihre historische Dimension, ihr Gegensatz zur Revolution und die Kritik am Marxismus kommen in der Einleitung von Lévi-Valensi nicht vor oder zu kurz, die einer zugegebenermaßen interessanten Idee folgt und auf eine Begründung einer Textauswahl zielt, die dem Anliegen Camus insofern nicht gerecht wird, als die Konzentration auf den Terrorismus nur einen und nicht den entscheidenen Aspekt seines Werkes wiedergibt.

Ohne den Stellenwert der Kunst kann die Bedeutung des letzten Kapitels in L’homme révolté “La pensée du midi” kaum erfaßt werden. Die Auszüge, die Lévi-Valensi für ihren Band aus diese Kapitel gewählt hat, vertiefen einige Gedanken, die Camus in seinem Band bereits vorher in seine Überlegungen miteinbezogen hat. Es geht in dem Auszug u.a. um das Maß und die Grenze bestimmter Handlungen. Im Originalkapitel versucht Camus die Verbindung zwischen der künstlerischen Schöpfung und der Revolte noch einmal mit anderen Worten zusammenzufassen. Es darf bezweifelt werden, ob ihm das gelungen ist, denn in diesem Kapitel verlieren seine Argumente die für ihn sonst so übliche Stärke, vgl. Camus, L’homme révolté, in: Essais, S. 203.

Zu erwähnen ist noch Lévi-Valensis Bemerkung über die Geschichte und den Gegensatz zwischen Camus und Sartre. In seiner Nobelpreisrede hatte Camus 1957 betont, daß der Schriftsteller nicht in den Diensten derjenigen stehen dürfe, die die Geschichte machen, sondern daß er denen zu Diensten sein soll, die die Geschichte erleiden. Die Herausgeberin folgert daraus, Camus habe die Geschichte nicht vergöttert: “Contrairement à Sartre, il n’a jamais cherché ‘comment se faire homme dans, par et pour l’histoire’.” (S. 10) Das Zitat ist nicht korrekt wiedergegeben: Im Original handelt es sich um eine Frage: “Comment peut-on se faire homme dans, par et pour l’histoire?” (Sartre, Qu’est-ce que la littérature? Paris 1948, S. 269, Hervorhebung, W.) Der Unterschied ist nicht sehr bedeutend, aber auch Nuancen können einen falschen Eindruck erzeugen. Wenn man im Original weiterliest, so fragt Sartre auch “Quelle est la relation de la morale à la politique?” (ib.) – Diese Frage hätte als Zitat viel besser gepasst, um die Ähnlichkeit der Anliegen beider hervorzuheben. – Im Nachwort dieses Bandes “Le poison du terrorisme” wirft Denis Salas Sartre vor, im Vorwort zu Frantz Fanons Les Damnés de la terre zum Mord im Namen der Freiheit aufgerufen zu haben, und zitiert den inkriminierten Satz: “En le premier temps de la révolte, il faut tuer: abattre un Européen c’est faire d’une pierre deux coups, supprimer en même temps un oppresseur et un oppressé: restent un homme mort et un homme libre […]” (S. 214, vgl. Sartre, Préface, in: F. Fanon, Les damnés de la terre, Paris 1991, S. 52) Im Original beginnt dieser Satz mit einer Konjunktion “Car, en le premier temps de la révolte…” Und Sartre schreibt nicht “oppressé” sondern “opprimé”. “Car…” verweist auf einen Kausalzusammenhang, der diesen Satz mit dem Vorhergesagten in eine enge Beziehung setzt. Es geht um die Gewalt im Zusammenhang mit der Kolonialpolitik. Sartres Text beschreibt die Perspektiven, die sich ergeben, wenn die Gewalt außer Kontrolle gerät und die Bauern zu den Waffen greifen, alle Verbote werden dann beiseite gefegt, die Waffe wird zu einem Instrument ihrer Humanität. Das ist kein Aufruf zur Gewalt sondern kann auch als Warnung vor kommenden Ereignissen verstanden werden, denn zu Beginn der Revolte wird getötet… Auch hier ist die Nuance, der Fehler im Zitat gering, aber die Aussage Sartres wird dennoch verfälscht, um Camus gegenüber Sartre in ein positives Licht zu stellen. Bei beiden Zitaten geht es Lévi-Valensi und Salas darum, den Gegensatz zwischen Sartre und Camus aufrechtzuerhalten.

Ein oder zwei gut ausgewählte Passagen aus L’homme revolté, die die Bedeutung der Kunst belegen, hätten diesen Band sinnvoll ergänzt. So aber bleibt die Auswahl ein Torso und dieser ist für die Camus-Rezeption leider immer noch bezeichnend.

Heiner Wittmann

Rupert Neudeck, Albert Camus und der Journalismus

Anläßlich der Tagung Albert Camus und die Kunst (14. bis 16. November 2003) im Schwäbischen Tagungs- und Bildungszentrum Kloster Irsee hat Rupert Neudeck einen Vortrag mit dem Titel Camus der Journalist gehalten. Nach seinem Vortrag berichtete Rupert Neudeck den Tagungsteilnehmern über die Geschichte der Hilfsorganisation CAP ANAMUR und über seine neue Organisation > Grünhelme.

> Das Vortragsmanuskript von Rupert Neudeck über Albert Camus *.pdf

Mit freundlicher Genehmigung von Rupert Neudeck.

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