Literatur ohne Politik? Geht das gut?
Prof. Dr. Gunther Nickel, der beim Deutschen Literaturfonds in Darmstadt für Gutachten und Projekte zuständig ist (ARD: „Pro Jahr wandern rund 300 Manuskripte deutscher Autoren über seinen Schreibtisch. Außerdem lehrt Nickel als Professor an der Universität Mainz Neuere Deutsche Literaturgeschichte,“) hat im September 2010 in einem ARD-Interview unter der Überschrift > Wie viel Politik sollen Literaten wagen? * zu der Frage, Wie viel Politik sollen Literaten wagen? Stellung genommen. Anlass für dieses Interview war die Befürchtung, die Günter Grass im „Spiegel“ vertreten hatte, „ein Beitrag junger Literaten zur Entwicklung der Demokratie drohe aktuell abzureißen“.
Der erste Satz der Antwort von Gunther Nickel schreckt auf: „Ich weiß nicht, warum sich ausgerechnet Autoren politisch einmischen sollen und nicht auch andere Berufsgruppen – zum Beispiel Metzger, Schuster oder Juristen.“ Und der zweite Satz ebenfalls: „Das mag vielleicht daran liegen, dass Herr Grass meint, die Affinität zum Wort würde Schriftsteller in die Lage versetzen, in politischen Bereichen ein profunderes Urteil zu fällen. Aber das ist ja nicht der Fall.“ Ein Germanistikprofessor spricht Autoren politische Stellungnahmen, politischen Einfluß ab? Folgt man ihm, dürfen Autoren gar keine politischen Ansichten oder Meinungen vertreten? Was ist denn das für ein Literaturbegriff? Gunther Nickel sagt auch noch Erstaunlicheres: „Wenn ich beispielsweise in der aktuellen Debatte über Migration, Bildungspolitik und den Missbrauch des Sozialstaates, die Thilo Sarrazin angestoßen hat, mitreden will, dann nützt mir meine Sprachkompetenz allein gar nichts.“ Folgt man Gunther Nickel, dann würde die Literatur gar keine Funktion, keine gesellschaftliche Relevanz, keine Wirkung und keinen politischen Einfluss haben. Vielleicht ist das Ansichtssache, und der Interviewte hat mit Sicherheit nicht die programmatische Schrift von Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur? im Sinn, wenn er auf diese Weise antwortet, und man könnte es dabei bewenden lassen. Aber da Professor Nickel für Gutachten im Deutschen Literaturfonds zuständig ist und im Rahmen dieser Aufgabe Gutachten über literarische Texte verfasst, muß man doch viel genauer hinsehen.
In der gleichen Antwort präzisiert Nickel seinen Standpunkt und bringt ihn auf den Punkt: „Dass Autoren, wie alle Bürger, eine politische Haltung entwickeln sollten, das ist schon ganz recht. Aber das sollten sie als Privatpersonen tun. Das Politische steht mit den besonderen Anforderungen, die an sie als Verfasser von literarischen Texten gestellt werden, in gar keinem Zusammenhang.“ – Das kann man und muß man zugunsten aller Autoren, die sich mit ihren Werken für die Analyse von Geschichte, der Gesellschaft und Politik einsetzen, mit Entschiedenheit zurückweisen. Machiavelli, Montaigne, Pascal, Molière, Rousseau, Voltaire, Condorcet, Goethe, Schlegel, Schiller, Chateaubriand, Balzac, Stendhal, Flaubert, Zola, Sartre, Camus und viele andere hätten keine Zeile geschrieben , wenn sie zu politischen Fragen keine Stellung hätten beziehen dürfen. Politische und gesellschaftliche Visionen werden nicht oder nur selten von Politikern entwickelt. Sie werden vornehmlich von Intellektuellen und Literaten aufgrund ihrer Analysen erdacht. Sie sind es, die mit ihren Werken gesellschaftliche Entwicklungen antizipieren können. Der Versuch, ihnen diese Fähigkeit abzusprechen, offenbart ein sehr merkwürdiges Literaturverständnis.
Und Nickel fügt hinzu: „Wenn sich Autoren als politische Repräsentanten begreifen, dann ist die Frage zu klären, wer sie denn eigentlich dafür gewählt hat. Wir leben schließlich in einer Demokratie, in der wir durch politische Repräsentanten vertreten werden.“ Das ist nicht das Problem der Literaten, sondern ihr Glück. Niemand hat ihnen ein Mandat gegeben (s. Sartre, Plaidoyer pour les intellectuels, in: ders. Situation, VIII. Autour du mai 68 , Paris 1972), 1) und die meisten von ihnen werden sich hüten, ein solches Mandat wahrzunehmen. Als Intellektuelle sind sie in erster Linie unabhängig und frei, nur so können sie schreiben. Sartre und Camus, in diesem Punkt sind sich beide trotz ihrer politischen Auseinandersetzungen einig. Aber Nickel sagt noch mehr: „Dass Schriftsteller wie Grass hier so eine herausragende Rolle spielen wollen, vermag ich überhaupt nicht zu akzeptieren.“ Es geht nicht um die Rolle, die der Autor spielen will, es geht um das, was er schreibt. Ihm einen politischen oder gesellschaftlichen Einfluß absprechen zu wollen, heißt ihn zu vereinnahmen, ihm seine künstlerische Freiheit und seine Unabhängigkeit nehmen zu wollen. Das verbirgt sich hinter dem Angriff auf die Literatur, denn so müssen die Worte Nickel gewertet werden.
Und Nickel fragt: „Was qualifiziert sie (i.e. die Literaten W.) denn dazu, im politischen Bereich mehr sagen und etwas lauter sagen zu dürfen, als jeder andere Bürger?“ Und jetzt kommt eine kleine Einschränkung, die aber Nickel auch nicht rettet: „Das, was Herr Grass als Forderung stellt, ist für mich nur unter einer Voraussetzung plausibel: Nämlich dann, wenn es sich nicht als Forderung an die Schriftsteller als Schriftsteller und nicht mit dem Hintergedanken einer Exponierung der Schriftsteller zu so einer Art politischem Sprachrohr jenseits irgendwelcher Legitimationsinstanzen verstehen lässt.“ Der Autor darf also nicht in den Verdacht kommen, irgendeine politische Richtung zu unterstützen? Die Verabsolutierung der Politik, der Nickel hier das Wort redet, erklärt, warum er den politischen Einfluß von Autoren nicht verstehen will und ihn ablehnt. Die Politik umfasst alle Organisationsformen eines Gemeinwesens, sie bestimmt damit aber nicht die Inhalte. Eine solche Definition wird hier naturgemäß sehr verkürzt vorgetragen; ihr Inhalt wird aber dennoch verständlich. Mit anderen Worten: Das Nachdenken über und die Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse beeinflusst die Politik aber nicht umgekehrt.
Und Nickel sagt noch mehr: „Und an diesem Modell des Dichters (im vorhergehenden Satz erwähnt Nickel Schiller, W.), des Verkünders von Wahrheit gegenüber der Obrigkeit, orientiert sich Herr Grass noch immer. Das ist aber ein Modell, das meiner Meinung nach schon im 20. Jahrhundert nicht mehr funktioniert hat und im 21. Jahrhundert erst recht nicht. Diese Art von Privilegierung des Künstlers, die im 19. Jahrhundert geradezu kunstreligiöse Züge annahm, die sollte eigentlich wirklich vorbei sein.“ Nein, sie ist nicht vorbei. Jeder Versuch, dies zu behaupten, nimmt den Schriftstellern von heute ihre fundamentale Freiheit, überhaupt schreiben zu können.
Nickel: „Es hindert Autoren nichts daran, sich schlau zu machen, Kenntnisse zu erwerben in einem Bereich, der politisch relevant ist. Aber das ist für sie dieselbe Arbeit wie für jeden anderen Menschen, da nutzt ihnen ihr Status als Autor erst mal gar nichts.“ Das stimmt nicht. Ein Schriftsteller geht mit Sachverhalten, Analysen anders um als z.B. ein Journalist, der für das Tagesgeschäft recherchiert. Von Fall zu Fall dürfte die Recherche so mancher Autoren dem kurzlebigen Tagesgeschäft weit überlegen sein. Das ist nun einmal so. Und jetzt geht es doch ans Eingemachte, wenn Gunther Nickel seine Vision der Literatur wie folgt zusammenfasst: „Und dann könnten sie (i. e. die Autoren., W.) versuchen, das, was sie recherchiert haben, zum Gegenstand eines literarischen Textes zu machen. Aber Maßstab des literarischen Textes wäre dann doch nicht die politische Meinung, die dort vertreten wird, sondern die Art und Weise, in der sie gestaltet ist. Das ist ja das literarische Kriterium und nichts anderes.“ Das ist nicht ganz falsch. Die Form eines Textes ist ein wichtiges literarisches Kriterium, das stimmt. Aber es ist gerade die Form, die die Werke der Autoren allen anderen kurzlebigen Textformen, die im politischen Alltag verfasst werden, so überlegen, viel kompetenter, viel politisch einflussreicher und treffsicherer macht.
Und nach dem Interview wird der Leser auf der Internetseite der ARD, wo das Interview mit Professor Nickel veröffentlicht wird, aufgefordert, seine Meinung zu hinterlassen: “ Warum sollte sich Literaten zu gesellschaftlichen Themen äußern beziehungsweise nicht äußern?“ Nochmal. Literatur ist immer eine Äußerung zu politischen und gesellschaftlichen Fragen, deshalb ist diese Frage falsch gestellt. Es gibt keine literarischen Texte, die politische Enthaltsamkeit üben. Oder sie sind völlig wertfrei und wollen ohne jede Bedeutung daherkommen. Literatur setzt sich aus Wörtern zusammen, und sowie eine Sache benannt ist, bekommt oder empfindet der Leser eine bestimmte Einstellung zu ihr.
Heiner Wittmann
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1. Vgl. dazu auch: D. Hoeges, Beantwortung der Frage: Was ist Gegenaufklärung? (II.) Nationalintellektuelle, Postmoderne und die Preisgabe der Menschen- und Bürgerrechte, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte , Bd. 1/2, Heidelberg 1997 (105-122).