Isabell Stal: Eine Einführung in Sartres Philosophie

Isabell Stal,
La philosophie de Sartre. Essai d’analyse critique,
PUF (coll. Thémis Philosophie) Paris 2006.
ISBN 2-13-055642-6

In ihrer Einleitung weist Stal auf die Vielfalt in Sartres Werk hin und nennt sie sein Paradox. Was sich nicht einordnen läßt, wird zweideutig. Jede seiner Interpretationen und Ansätze sei für sich wahr – aber immer nur bis zu einem bestimmten Punkt, an dem die gewöhnliche Einordnung und Klassifizierung in bekannte Denkschamata aufhört, möchte man ergänzen. Und es gibt in den Universitäten keine eigentlichen Sartre-Schüler oder – Anhänger. Stal nennt zwar die Temps modernes und auch die Groupe d’études sartriennes, deren Anhängerschaft eher in einem vertraulichen Rahmen bleiben. Die Vielfalt der Beiträge beim Kolloqium 2005 in Cérisy-la-Salle und die Aufmerksamkeit, die Sartre während zahlreicher Kolloquien 2005 zuteil wurde, erlauben es, dieses Urteil ein wenig zu nuancieren.

Mit dem Erscheinen von Saint Genet seien Sartres Methoden komplett, erklärt Stal. Für sie enthält l’Idiot de la famille als eine unter marxistischen Gesichtspunkten bloße Anwendung der in L’être et le néant beschriebenen existentiellen Psychoanalyse nichts Neues. (S. 4 f) Die Vielfalt der literarischen Interpretationsansätze, die genaue Lektüre der Werke Flauberts, der beiden Versionen der Education sentimentale, die Porträts der anderen Künstler, wie z.B. Leconte de Lisles, werden hier völlig ausgeblendet. Sartres Beziehung zum Marxismus wird von Stal differenziert gesehen, sie läßt erkennen, daß er sich von ihm nicht hat vereinnahmen lassen, sie nennt aber hier nur am Rande seine vehemente Kritik am Marxismus.

In Ihrer Einleitung erklärt Stal im Abschnitt über die “Platitude de Sartre”, daß L’être et le néant sich von L’existentialisme est un humanisme kaum unterscheide. Und in bezug auf die wenigen einfachen Themen in der Critique de la raison dialectique zitiert sie als Gewährsmann Raymond Aron, ohne auf dessen wesentlich nuancierteren Ausagen zur Critique hinzuweisen. Viele seiner Werk sind unvollendet und jeder Leser werde immer auf Zukünftiges verweisen. Dies bringt Stal mit Sartres “phänomenologischen Radikalismus” in Verbindung.

Stal untersucht in ihrem Band die Theorie des Subjekts, dann die des Objekts und folgt damit in etwa dem von L’être et le néant vorgebenen Weg. Die Erkenntnis, dann der Andere und die Frage der Moral und schließlich die politische Lösung der Frage der Moral vervollständigen ihr Inhaltsverzeichnis.

Im Kapitel “La théorie du sujet” entwickelt Stal die einzelnen Schritte über das Nichts, die Unaufrichtigkeit bis zur existentiellen Psychoanalyse und vermittelt dabei interessante EInblicke in die Zusammenhänge zwischen Sartres ersten Schriften und L’être et le néant. Sie nennt auch die Synthese zwischen Literatur und Philosophie, die mit Les mots erreicht wird. Ohne Zweifel hat Sartre in Les mots einige seiner Konzepte aufgegriffen, so daß beinahe “eine Theorie des Autors über sich selber entstand.” (S. 21). Stals Beobachtung entbehrt nicht einer richtigen Grundlage, aber die Verbindung von Literatur und Philosophie zeigt sich nicht allein nur in ihrem “point culminant” (S. 20) in Les mots, sondern vor allem in seinen Künstlerporträts von Baudelaire über Tintoretto bis Flaubert. Diese Werke mit ihren Studien, Monographien und Vorworten bilden keinen eigenen Werkteil, sondern sie stellen die von Sartre selber beabsichtigte Verbindung zwischen Philosophie und der Literatur her. Werden diese Zusammenhänge nicht berücksichtigt, ist jede Darstellung seiner Philosophie lediglich eine Einführung in sein Werk, auch wenn sie wie in dem hier zu besprechenden Band solide angefertigt ist und einen guten Einblick in die Entwicklung der Konzepte gibt, die er in L’être et le néant entwickelt.

Im Zentrum des Kapitels “La théorie de l’objet” steht Sartres “Radikalisung der Phänomenologie” und seine Auseinandersetzung mit Husserl, in deren Verlauf er die Zugehörigkeit eines Objekts zu einer vorgegebene Odnung aufgibt und eine “phänomenologische Ontologie” entwickelt. Diese Zusammenhänge werden von Stal einleuchtend und in angemessen knapper Form erklärt. Und sie weist auch auf L’imaginaire hin, wo Sartre die Darstellung eines Bildes auf der Grundlage der Freiheit beschreibt. (S. 99) Daraus folgt, daß Sartre, wie Stal schreibt, die Hierarchien der klassischen Ontologie zugunsten einer “Totalität” verschiebt.

Sartres Erkenntnistheorie sei, so Stal, auf wenig Interesse gestoßen. Diese Kapitel stützt sich auf eine ausführliche Interpretation von Vérité et existence (1989). Die Frage nach einer Wahrheit der Dialektik stellt sie, ohne sie eindeutig zu beantworten. Die Untersuchung der progressiv-regressiven Methode nutzt Stal, um auch die Autoren wie Mallarmé oder Flaubert zu nennen, deren Werke und Leben Sartre mit dem Frage, was man über einen Menschen erfahren kann, untersucht hat. Ihre Analyse der progressiv-regressiven Methode zeigt ihre Grundlagen und auch ihre Tragweite. Abgesehen von dem, was man über den Menschen erfahren will, fehlt hier nur der Blick auf die Werke der Künstlers, mit denen Sartre seine Untersuchungen ergänzt hat, indem er die Analyse ihrer Werke mit dem projet verglich.

Im zweiten Teil ihrer Untersuchung beschäftigt sich mit den Fragen der Moral, auf die Sartre in keinem seiner Werke eine abschließende Antwort gegeben hat, da es ihm nicht gelingen konnte, die Möglichkeit einer Moral zu definieren, die mit seinen Prinzipien der Freiheit vereinbar gewesen wäre. (S. 181) Stals erklärt zu diesem Punkt, Sartres moralische Überlegungen seien vollständig dominiert durch seine Ontologie, die sich auf die Alternative Authentizität und Entfremdung, auf den Gegensatz des Selbst und des Anderen, den Sartre bis zum L’Idiot de la famille hin untersucht habe, bezieht. Aus diesen Gründen erklärt Stal würden seine moralischen Ansätze keinen autonomen Status erhalten können, sie würden selbst die Freiheit als unfähig erscheinen lassen, eine unabhängige Vorschrift zu formulieren. (S. 182) Die folgende Schlußfolgerung kann mit der etwas einseitigen Argumentation der Autorin erklärt werden : “C’est pourquoi Sartre ne peut établir aucun bien auquel référer les actions ou les intentions des hommes, il ne peut que se demander si ces actions ou ces intentions sont dans leur principe authentiques ou aliénées.” (S. 182) Auf der 2. Seite des Kapitels erscheint diese Aussage wie eine Schlußfolglerung, sie hat aber dann doch eigentlich nur den Wert einer These, zumal Stal in diesem Kapitel alle für die Frage relevanten Begriffe sorgfältig untersucht und auch der praktischen Anwendung dieser Begriffe mit Blick auf die Genete-Studie (S. 200-221) einen breiten Raum gibt. Mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Kunst und die Moral auf der Grundlage von L’imaginaire zeigt sie nicht nur die Entwicklungslinien bis zu L’être et le néant, sondern auch bis zur Genet-Studie auf. Die Verbindung von “realer Freiheit und konkreter Moral” führt die Stal folgerichtig zu einer politischen Lösung der moralischen Frage, da Sartre die Frage selbst in den sozialen Raum verlagert. Auch hier werden wieder die Schlüsselbegriffe in einzelnen Abschnitten erläutert: die Knappheit, der Konflikt, die Serie, die Gruppen beruhen auf einer genauen Lektüre der Critique de la raison dialectique, deren deutsche Neubearbeitung weiterhin ein Desiderat ist. Sartre will eine Moral formulieren, eine Freiheit der Handlung, die sich allem entgegensetzt, was einer freien Bestätigung der Spontaneität widerspricht. (S. 306) Aber er kann die Realität nicht bändigen, schreibt Stal, die ihm in Gestalt des Anderen gegenübertrete. Stal zitiert Merleau-Ponty, der davor gewarnt hat, daß wenn die Freiheit sich nicht im Subjekt des Seins äußere, dieses Subjekt sich gegen Andere richte und die Freiheit in Gefahr bringe.

Die Vielfalt seines Werkes, die Schwierigkeit, sein Werk einzuordnen, ist einer der Ausgangspunkte Stals. Schon der Blick in ihre Bibliographie zeigt, daß sie nur die Philosophie Sartres im Blick hat und die anderen Teile seines Werkes nur am Rande oder gar nicht berücksichtigt hat. Die Kunst und seine Ästhetik werden nur am Rand im Zusammenhang mit L’imaginiare (S. 30, 37, 99 ff. S. 222) und Saint Genet gestreift. Es sind aber die Künstlerporträts, in denen Sartre die Bedeutung der Freiheit für die Kunst und umgekehrt nachweist. Die Einwirkung des Künstlers auf moralische Fragen, weil er eben für seine Kunst, genauso wie der Betrachter für die eigene Interpretation der Kunst verantwortlich ist, kann dabei nicht übersehen werden.

Trotzdem ist Stals Untersuchung eine sehr nützliche Ergänzung, gerade weil sie dem Objekt, der Erkenntnistheorie und den Fragen der Moral einen so großen Raum widmet.

Heiner Wittmann

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