Bildung in Frankreich

Frankreich Jahrbuch 2005. Bildungspolitik im Wandel,
hrsg. v. Deutsch-Französischen Institut mit W. Asholt u. a.,
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006.
ISBN 2-531.14923-7

Kaum ein anderes Thema wie das der Bildung betrifft in Frankreich alle gesellschaftlichen Bereiche. In vielen anderen europäischen Staaten ist das nicht anders, aber in Frankreich verdienen die bildungspolitischen Debatten eine ganz besondere Aufmerksamkeit, da der dort seit 1968 eingeleitete Reformprozeß keineswegs abgeschlossen ist, aber nun auch zunehmend auf die europäische Bildungspolitik reagieren muß. Dabei geraten die französischen Sonderfälle wie die Classes préparatoires aux Grandes Ecoles (CPGE) und die Grandes Ecoles selbst unter einen immer stärkeren Reformdruck, den Albrecht Sonntag in seinem Beitrag für Frankreichs Schwierigkeiten, sich dem Globalisierungsdruck anzupassen, als möglicherweise charakteristisch bezeichnet.

Hendrik Uterwedde beschreibt die “Brüche im Gesellschaftsmodell” Frankreichs, die mit der Niederlage des Europa-Referendums und dem in die Krise geratenen Wirtschafts- und Sozialmodell verdeutlicht werden. Zugleich wird verständlich, daß die französische Innenpolitik alleine diese Fragen nicht beantworten kann. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Ablehnung des Referendums zur Ratifizierung der Europäischen Verfassung auch eine Ablehnung eines Wirtschaftsliberalismus war, von dem man Impulse zu Reformen erwartet wurden, sind die Streiks gegen das Gesetzes-vorhaben der Regierung CEP (Contrat première embauche) nur ein weiteres Zeichen für die überfällige Neuorientierung der Sozial- und Wirtschaftspolitik in Frankreich. Uterwedde erinnert daran, daß ähnlich gelagerte Reformbedürfnisse beiderseits des Rheins von den Wählern unterschiedlich beurteilt werden: In Frankreich gab es die Ablehnung der Europäischen Verfassung und in Deutschland ein “kritisches Ja” zur Reformpolitik der abgewählten Regierung, was man aber auch durchaus als ein “Nein” zur Arbeit und insbesondere der Wirtschaftspolitik der rot-grünen Koalition bezeichnen könnte. Viel wesentlicher ist, daß Uterwedde, wie dies stets im deutsch-französischen Verhältnis auch offiziell immer wieder erklärt wird, darauf dringt, man möge nicht “die im Kern gemeinsame Notwendigkeit, dies- und jenseits des Rheins, die Wirtschafts- und Sozialmodelle in ihren Leitbildern wie auch in ihrer praktischen Ausgestaltung zu erneuern” (S. 21) übersehen. In der Tat vollzieht sich die tägliche politische Zusammenarbeit auf vielen politischen Ebenen recht lautlos und ist Teil des normalen Tagesgeschäfts geworden. Aber auf zielgerichtete gemeinsame Aktionen und Taten im Wirtschafts- und Sozialbereich beider Länder infolge der vielfach gelobten engeren Zusammenarbeit darf man nach wie vor gespannt sein. In diesem Sinn ist Uterweddes Aufsatz als Auftakt für diesen Band lesenswert, weil er in knapper Form die sozialpolitischen Bedingungen skizziert, in die Frank Baasner im folgenden die “Bildungsdiskussionen in Frankreich” einfügt. Er konzentriert seine Ausführungen auf den Erziehungsauftrag der Schulen und die Ausbildung in den Hochschulen, die zusammen zum Bereich der “éducation” gehören und zeigt auf einleuchtende Weise, wie sich das französische Bildungssystem europäischen Anforderungen nicht länger verschließen kann, sondern aus dieser Entwicklung auch neues Selbstbewußtsein gewinnen kann.

Werner Zettelmeier erklärt, wie sich die Rolle des Schulleitungspersonals während der Entwicklung des französischen Schulwesens seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts gewandelt hat. Die Autonomie, die die Lycées durch die Reformen Anfang der 80er Jahre erhalten haben, die sich aber vor allem auf die Verwaltung und nicht auf die unmittelbare Unterrichtsgestaltung bezogen, werden nicht voll ausgeschöpft, was Zettelmeier mit ihrer Doppelfunktion als Verantwortliche für die Verwaltung mit Autonomierechten und als Repräsentanten des Staats erklärt. Seit 1988 gibt es daher Schullei-tungspersonal ohne Unterrichtserfahrung und -befugnis. 2003 entstand eine eigene Hochschule in Poitiers, die Ecole supérieure de l’Education nationale (ESEN), in der Schulleiterpersonal und Schulaufsichtspersonal gleichermaßen ausgebildet werden. Dahinter verbirgt sich die Absicht, diese Berufsgruppen weiter zu professionalisieren. Zettelmeier weist ausdrücklich daraufhin, daß der Erfahrungsaustausch zwischen deutschen und französischen Schulleitern noch sehr wenig entwickelt ist. Aber es gibt Initiativen wie die Europäische Schulleitervereinigung (www.esha.org), außerdem arbei-tet die ESEN in Poitiers an einem Netzwerk, das vergleichbare Institutionen in Europa verbinden soll. Ohne Zweifel bietet die pädagogische Forschung hier interessante Themen für deutsch-französische Projekte, die auch europäische Fragen mit einschließen sollten. Alle Beteiligten können von einer Erweiterung ihrer Horizonte nur profitieren, neue Konzepte kennenlernen und die eigenen Ansätze im Vergleich mit denen der Nachbarn unter neuen Gesichtpunkten evaluieren. Zettelmeiers Beitrag ist bemerkenswert, weil er den Blick auf längerfristige Entwicklungen in Frankreich richtet, die bei uns kaum wahrgenommen werden, aber neue pädagogische Ansätze ermöglichen, die den Anfang der 80er Jahre begonnenen Autonomiebestrebungen in den Schulen bereits eine neue Dynamik verliehen haben.

Philippe Bongrand stellt die ZEP (Zones d’éducation prioritaires) vor, die seit 1981 unter der Federführung lokaler Verwaltungen in Gebieten eingerichtet wurden, wo aufgrund der sozio-ökonomischen Verhältnisse ein erheblicher schulischer Mißerfolg zu beobachten war. Das war ein doppelter Bruch mit der hergebrachten zentralisierten Bildungspolitik und dem 1973 eingeführten Collège unique, das damit keinesfalls angelastet wurde, denn es sind nur 8-10 Prozent der Schüler von den ZEP betroffen. Der schulische Mißerfolg war u. a. ein Ergebnis der Collège-Reform von 1977. Insgesamt sind die Ergebnisse der ZEP umstritten. Die Erwartungen schienen höher zu sein, als die Ergebnisse, die von der Forschung belegt werden können. Bongrand gelingt es aber einen interessanten Einblick in die Reformbedingungen französischer Bildungspolitik zu geben, da er wie Zettelmeier aktuelle Beobachtungen in einen historischen Rahmen bettet.

Albert Hamm zeigt den Zustand des “Hochschulwesens in Deutschland und Frankreich im Spiegel der deutsch-französischen Erfahrung” und Dieter Leonhard berichtet über die Erfahrungen der Deutsch-Französischen Hochschule auf dem Gebiet der Qualitätssicherung in binationalen und trinationalen Studiengängen. Diese beiden Aufsätze werden durch die Untersuchung von Guy Haug ergänzt, der die Herausforderungen für die Schul- und Hochschulausbildung in einen europäischen Rahmen stellt. Wolfgang Hörner nimmt “Zur unterschiedlichen Logik der Berufsbildungssysteme in Frankreich und Deutschland” Stellung. Ein markanter Unterschied unter vielen anderen: In Frankreich ist die Berufsbildung weitgehend in staatlicher Hand, dagegen sind in Deutschland dafür die Kammern zuständig.

Die Aufsätze zum Sekundarstufen- und zum Hochschulbereich bieten viele Einzelaspekte, die die Herausgeber geschickt zu einem fundierten Überblick über die französische Bildungspolitik zusammengefügt haben. Dabei werden die schwierigen Ausgangsbedingungen mancher Reformansätze deutlich, vor allem gewinnt der Leser einen interessanten Einblick, wie die europäische Bildungspolitik die nationale Politik beeinflußt und umgekehrt. Der Untertitel “Bildungspolitik im Wandel” gibt zu verstehen, daß es sich auch in Frankreich um längerfristige Prozesse handelt, die aus langsameren und schnelleren Phasen bestehen, wobei dann aber immer gleich Wechselwirkungen mit allen anderen Bereichen der Politik zu beobachten sind.
Das Jahrbuch enthält vier weitere Aufsätze. Alfred Grosser untersucht mit einem Blick auf seine eigene Biographie das Verhältnis zwischen Juden und Christen. Der Aufsatz stammt aus einem jüngst bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienenem Band Die Früchte ihres Baumes. Céline Caro berichtet über “Umweltpolitik im Paradies der Kernkraftbauer” und die französischen Grünen. Erst 2002 erschienen Umweltthemen in Jaques Chiracs Wahlkampfreden, bevor 2005 eine Umweltcharta in die Präambel der Verfassung der V. Republik aufgenommen wurde. Céline Caro erklärt die geringen Erfolge der Grünen in Frankreich vor allem mit der ideologischen Zersplitterung der grünen Bewegung und mit deren Konzentration auf die Atompolitik, wobei sie hier immer nur wenig punkten konnten, da Atompolitik und die Unabhängigkeit Frankreichs noch oft in einem einem Zug genannt werden. “Amerikanisches in Deutschland und Frankreich. Vergleich, Transfer und Verflechtung populärer Musik in den 1950er und 1960er Jahren” ist das Thema, mit dem Dietmar Hüser einen Beitrag zu diesem jungen Zweig der Verflechtungsforschung leisten will, die noch auf einschlägige Fallstudien wartet. Interessant sind seine Ausführungen hinsichtlich des Vergleichs zwischen der deutschen und der französischen Nachkriegszeit und dann die fünfziger Jahre, die in den beiden Ländern auf ganz unterschiedliche Weise den Rock ‘n’ roll empfingen. In diesem Zusammenhang erinnert Hüser auch daran, daß der Kulturtransfer im Bereich der Chanson-Szene sich eher von Frankreich nach Deutschland orientierte und kaum umgekehrt. Der Beitrag von Peter Kuon “60 Jahre Kriegsende-Erinnerungskultur in Frankreich” zeigt, wie Staatspräsident, Jacques Chirac, zum Beispiel anläßlich der Einweihung der neuen Ausstellung im Pavillon der Gedenkstätte von Auschwitz die europäische Dimension dieser Tragödie genannt hat. Kuon weist daraufhin, daß die Teilung dieser Erinnerung noch nicht als Faktum bezeichnet werden darf, son-dern “in einer erst noch auszubildenden europäischen Identität als unabweisbares gemeinsames Erbe zu verankern” (S. 228) ist.

Die für dieses Jahrbuch gewohnte Chronik der deutsch-französischen Beziehungen und ein Bibliographie auserwählter Neuerscheinungen der deutschsprachigen Literatur zu Frankreich (S. 276-303) ergänzen den Band.

Heiner Wittmann