Jacques-Pierre Gougeon, Frankreich – Deutschland

Jacques-Pierre Gougeon,
France-Allemagne. Une union menacée? Paris :
Armand Colin 2012. 216 p.,
ISBN : 978-2200257637

Der Umschlag des Buches von Jacques-Pierre Gougeon, France-Allemagne. Une union menacée? ist mit mehr als nur ein kurzer Blick wert. Betrachten wir die beiden Flaggen, die Trikolore und die Flagge von Deutschland, beide vor dem Hintergrund mit einer eingerissenen europäischen Flagge. Sicher kann man dieses Bild ganz unterschiedliche interpretieren. Wenn wir aufmerksam den Untertitel des Buches lesen, entdecken wir das Wort Union, womit die Europäische Union gemeint ist. Wenn das Einverständnis zwischen Frankreich und Deutschland beeinträchtigt, gestört oder sonst irgendwie beeinträchtigt wird, geht es Europa nicht gut, könnte man hinzufügen. Soweit sind wir noch nicht und der Autor will nicht dramatisieren. Er analysiert die Situation beider Länder hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Leistung und ihres je eigenen Blicks auf die nationale Geschichte. Aber dieser Vergleich zwischen dem wirtschaftlichen Erfolg und der Selbst-Perzeption beider Länder wie ihr Blick über den Rhein zeigen immer mehr die Probleme der Konvergenz.

Ein Blick auf die beiden Länder zusammen zeigt immer mehr den Gegensatz zwischen einem “deutschen Modell”, das die Erfolge der deutschen Wirtschaft beschreibt und dem Gefühl des Niedergangs in Frankreich, das aus einer Reihe von Kennzahlen entsteht, wie der Rückgang der Wettbewerbsfähigung und Strukturproblemen, wie u. a. die deutlich niedrigere Anzahl von mittelständischen Betrieben im Vergleich zu Deutschland, dies zeigt.

Ja, “… Frankreich und Deutschland sind durch eine Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden,” (S. 9, Übersetzungen H.W.) bekräftigt Gougeon in seiner Einleitung. Und er fügt hinzu: diese Gemeinschaft “… scheint Risse zu bekommen mit allen Konsequenzen, die sich daraus für Europa ergeben könnten.” (ib.)

Gougeon stellt eine sehr überzeugende Analyse des Frankreichbildes in Deutschland vor. Er erwähnt die Mittelmeerunion, die in Deutschland nicht gut verstanden wurde und ein Misserfolg wurde. In Bezug auf Frankreich spricht Gougeon von einer “Unfähigkeit die auf die Globalisierung einzustellen” (p. 31), und einem “Rückgang vom Export kultureller Güters.” (p. 33) Die Darstellung des “deutschen Modells” während des französischen Wahlkampfs zur Präsidentschaft hatte nicht den erwünschten Erfolg. Anstatt von den Wählern honoriert zu werden, war es eher der Anlass, Frankeich auf dem Abstieg zu empfinden, ein “entwertetes” Frankeich. (S. 35)

Das Buch von Gougeon beeindruckt durch eine sehr reichhaltige Dokumentation. Die meisten Beobachter der deutsch-französischen Beziehungen beider Seiten werden zitiert. Gougeon unterstreicht drei Aspekte, die in Frankreich aus einem Vergleich beider Länder resultieren: Die Allgegenwärtigkeit Deutschlands in den politischen und wirtschaftlichen Debatten in Frankreich, die Diskussion über das Gleichgewicht zwischen beiden Ländern wie die Angst in Frankreich des “Abgehängtwerdens”. (p. 46) Diese Angst bezieht sich auch auf die Stellung Frankreichs in der europäischen Union, daher kommt vielleicht die Idee, die angerissene Fahne Europas auf dem Titelbild dazustellen. Unterschiede, Abstieg auf der einen Seite, Auftsieg auf der anderen Seite stellen die Frage nach der Konvergenz, wer muss sich wem annähern?

Gougeon präsentiert in seinem Buch eine interessante Übersicht über die Analysen, die kürzlich zum deutsch-französischen Vergleich geschrieben wurden. Dabei belegt er seine Aussagen mit einer großen Zahl von Kennzahlen, die eigentlich keinen Widerspruch dulden. Er gibt zu verstehen, dass ein wachsendes Ungleichgewicht “… den Beginn eines Bruchs bedeuten könnte.” (p. 56)

Im Kapitel 2 (S. 57-129) behandelt er die unterschiedlichen Beziehungen zur eigenen Vergangenheit in Frankreich und Deutschland, vor allem in Hinsicht auf die eigene Einstellung zur Vergangenheit. Die Verfolgung der Juden während der Besatzungszeit in Frankreich, die Resistance oder der Algerienkrieg belegen ein “schwieriges Verhältnis Frankreichs zu seiner Vergangenheit.” (p. 58 ss.) Die Bücher, die im Rahmen der deutsch-französischen Kooperation so detailliert auf die Selbstperzeption der Partner eingehen, sind wirklich selten. Das ist eine gute Gelegenheit, daran zu erinnern, dass das Lernen der Partnersprache sich keinesfalls auf ein bisschen Landeskunde oder civilisation française, beschränken darf. Es gilt auch dem Geschichtsunterricht in beiden Ländern mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Das ist eine Aufgabe der Bildungsministerien beiderseits des Rheins. Das deutsch-französische Geschichtsbuch war eine wichtige Etappe auf diesem Weg. Auf der deutschen Seite stellt Gougeon einen “freieren Blick auf die Vergangenheit”(p. 85 pp.) fest, wobei der Nationalsozialismus immer noch auf der Themenliste ganz oben steht. Die Wiedervereinigung hat daran erinnert, dass die DDR jede Verantwortung für die Naziverbrechen von sich gewiesen hat. Auch die Debatte über den totalitären Charakter des DDR-Regimes keineswegs abgeschlossen. Gougeon unterstreicht auch den mythischen Chrakter bestimmter Epochen der deutschen Geschichte, wie das Wirtschaftswunder oder die so gelungene Eingliederung der Flüchtlinge aus dem Osten. Die Kolonialzeit und die preußische Geschichte sind weitere Themen, die kürzlich bei verschiedenen Gelegenheiten unter neuen Blickwinkeln präsentiert wurden. Gougeon stellt fest: “Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Politik nicht interveniert, um den Diskurs über die Geschichte zu bestimmen und noch weniger, um ihn zu interpretieren, aber um eine Ehrung auszusprechen oder um zu erinnern, ist in Frankreich eine Instrumentalisierung der Geschichte erkennbar.” (p. 126 s.) Der Vergleich der Kennzahlen reicht nicht aus, mit Analysen muss man viel weiter gehen, um die Unterschiede zwischen unseren beiden Ländern zu verstehen. Man darf aber auch einige Kennzahlen und Fakten nicht überzubewerten. Neben der offiziellen beeinflussten Geschichtsschreibung gibt es sehr wohl einflussreiche Historiker in Frankeich.

Das 3. Kapitel legt eine Analyse der Wirtschaft in Frankeich und Deutschland auf der Basis einer verblüffend großen Anzahl von Kennzahlen jeder Art vor. Gougeon glaubt, dass die Krise der Eurozone, die Deutschen von der Notwendigkeit einer größeren Integration hinsichtlich der Haushalts-und Fiskalpolitik überzeugt hat. (cf. p. 169) Die deutsche Einstellung unterscheidet sich nicht besonders von der des Nachbarn, wobei Deutschland die Absicht hat “eine nationale Kontrolle bei diesen Prozessen beizubehalten,” womit der Autor auch die Zurückhaltung Deutschlands bezüglich der Transferunion (p. 170) erklärt.

Mit diesem Buch kann man die Gründe für das Ungleichgewicht, ich würde lieber sagen, Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich verstehen. Der Autor deutet es zwar an, aber er hätte es viel deutlicher sagen können, der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands gerade auch während der Euro-Krise, die eine Schuldenkreise ist, weil einige Staaten den Verpflichtungen, die sie bei der Einführung des Euros eingegangen sind, nicht nachkommen, sich nicht auf die nationale Situation alleine gründet. Der Erfolg hängt auch sehr weitgehend von Deutschlands Zugehörigkeit zur EU ab, was diejenigen die schlechte Schüler rauswerfen wollen, manchmal nur zu gerne vergessen.

Gougeon spricht nur wenig von der gemeinsamen Geschichte Frankreichs und Deutschlands, die zum Elyseevertrag von 1963 – den er gar nicht erwähnt – führte, und er übergeht die verschiedenen Etappen der Kooperation bis heute meist mit Schweigen. Gougeon berücksichitgt 1989 als eine Zäsur, die das Gewicht Deutschlands in der EU verändert hat. Der Gebrauch des Wortes “Union” im Untertitel seines Buches und die angerissene europäische Flagge deuten an, das der Autor annimmt, dass seine Leser wissen, dass ein Einverständnis zwischen Frankreich und Deutschland eine conditio sin qua non für den Fortschritt in Europa war und bleibt. Dafür hätte er Beispiel zitieren können, wenn auch die EU damals weniger Mitglieder gehabt hat…

Der Rückgang des Unterrichts der Nachbarsprache beiderseits des Rheins trägt zu den wachsenden Problemen bei. Der 50. Jahrestag des Elyseevertrages im Januar 2012 ist für beide Länder eine gute Gelegenheit sich wieder an die gemeinsamen Kräfte zu erinnern. Es wird wieder Versprechungen geben, künftig enger zusammenarbeiten zu wollen. Auf dass man diese Versprechungen endlich berücksichtige.

Heiner Wittmann


Voir aussi:

“La relation entre Paris et Berlin est déséquilibrée!”
La vérité sur le couple franco-allemand : l’interview avec Jacques-Pierre Gougeon – ARTE, 3 Avril 2012

Compte-rendu: F. Lemaître Un couple en susis, in: LE MONDE, 24 avril 2012.

F. Genton, France-Allemagne, une union menacée?, Jacques-Pierre Gougeon, 2012 – sur le site de l’Université populaire européene de Grenoble.

Jacques-Pierre Gougeon, professeur des universités et directeur de recherche à l’IRIS, auteur de “France-Allemagne, une union menacée?” (Ed. Armand Colin), répond aux questions: (Mise en ligne par l’IRIS)

“Le couple franco-allemand est indispensable à… von IRIS-FRANCE