Frankreich und Europa

Frankreichs EuropapolitikGisela Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, Frankreich-Studien, Band 9, hrsg. v. H. M. Bock, A. Kimmel, H. Uterwedde, GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004.

Wenn man bedenkt, wie lautlos die deutsch-französischen Beziehungen heute auf der Arbeitsebene zwischen den Ministerien in Berlin und Paris funktionieren, ist es erstaunlich, dass Paris und Bonn in der erweiterten EU anscheinend an Einfluss verloren haben, was möglicherweise auf zuviel Reibungsverluste zwischen Paris und Bonn zurückzuführen ist, oder auch schlicht mit einer ungenügenden Kenntnis voneinander auf vielen Ebenen zu begründen ist. Ein zusätzliches Symptom, wie der stete Rückgang der Schülerzahlen, die in den beiden Ländern die Sprache des Nachbarn lernen, nimmt immer erschreckendere Ausmaße an und trotz mancher erfolgreichen Initiativen, wie beim France-Mobil, ist kein Durchbruch in Sicht. Die Zeit nach den Bundestagswahlen wird einer Berliner Regierung wieder Raum zu neuen Initiativen bieten, mit denen sie an frühere im wahrsten Sinne des Wortes grundlegende europäische Erfolge der deutsch-französischen Europapolitik anknüpfen könnte.

In diesem Rahmen kommt der Band von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet über die französische Europapolitik zum richtigen Zeitpunkt. Im Kern zeigt auch die französische Politik wie manche anderen Staaten ein Zaudern zwischen der Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte und dem europäischen Einigungsprozeß, wie dies erst jüngst die Ablehnung der europäischen Verfassung durch die Franzosen unterstrichen worden ist. Aber der Wahlkampf für das Referendum wurde von innerpolitischen Themen überlagert, die Regierung verstand es nicht, weder daraus ein europäisches Thema zu machen, noch es irgendeiner Form in besonderer Weise mit den deutsch-französischen Beziehungen zu verknüpfen. Der Vertrag wurde als Benachteiligung der nationalen Wirtschaft empfunden und daher abgelehnt.

Dieses Buch zeigt nach einem kurzen Überblick über die IV. Republik die Entscheidungssysteme der V. Republik. Dazu zählt vor allem die starke Stellung des Präsidenten, die de Gaulle mit der Verfassung der V. Republik begründete. Seine Außenpolitik verfolgte mit den Fouchet-Plänen und schließlich auch mit dem Elysée-Vertrag von 1963 eine europäische Einigung unter französischer Führung. Die Fouchet-Pläne scheiterten, und der Elysée-Vertrag erhielt von deutscher Seite eine Präambel, die die französischen Pläne durchkreuzte, aber dennoch eine solide deutsch-französische Zusammenarbeit mit Ihren Hoch und Tiefs begründete. Unter Georges Pompidou änderte sich die französische Europapolitik mit der Hinwendung zu Großbritannien. das mit Irland im Januar 1973 in die EU aufgenommen wurde. Giscard d’Estaing baute die Außenpolitik des Präsidenten als “domaine réservé” weiter aus. Seine Zusammenarbeit mit Helmut Schmidt führte zur Schaffung des Europäischen Währungssystems (EWS) und zur Einführung der Direktwahl zum Europäischen Parlament. Es ist interessant, wie Müller-Brandeck-Bocquet de Unterschiede hinsichtlich der europäischen Initiativen der französischen Staatspräsidenten schildert und dabei zu verstehen gibt, wie außenpolitische Faktoren und innerpolitische Umstände und Mehrheitsverhältnisse und natürlich die Person des Präsidenten die europapolitischen Entscheidungen in Frankreich prägen.
Sie zeigt auch in ihrem Band, wie Frankreich sich anfangs schon immer zögerlich zu Beginn neuer Initiativen der europäischen Einigung verhielt, dann aber immer wieder und zunehmend immer mehr mit Deutschland zusammen die Initiativen zum Wohl der Gemeinschaft vorantrieb. “Vom Saulus zum Paulus…” nennt die Autorin das Kapitel, in dem sie die Mitterrands Hinwendung zu Europa analysiert. Er, der noch 1956 die römischen Verträge abgelehnt hatte, konvertiert erst zwei Jahre nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten zur Europapolitik. Die Autorin nennt für diese anfängliche Zurückhaltung drei Punkte: Zum einen waren dies innenpolitische Gründen, die mit der Rücksicht auf den linken Rand der PS und die Kommunisten erklärt werden, zum anderen schien sich damit auch eine Distanz zur Politik seines Vorgängers anzudeuten und schließlich konzentrierte sich die neue Regierung zuerst auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese Prioritäten erklären auch, wieso das erste Memorandum zu Europa am 13. Oktober 1981 zunächst folgenlos blieb. Der März 1983 brachte die Wende und der Titel dieses Kapitel geht auf eine Überschrift in der FAZ aus jenen Tagen zurück: Nach dem Abschied von einem Sozialismus “à la française”, eine Art Notbremsung, hielt Mitterrand am 24. Mai 1984 vor dem Europäischen Parlament eine Rede und regte die Schaffung eines neuen Vertrags an. Gleichzeitig rückte Mitterrand die deutsch-französischen Beziehungen wieder in Mittelpunkt. Er und Helmut Kohl wurden zum deutsch-französischen Tandem, von dem das Foto in Verdun am 22.9.1984 als beide Hand in Hand der Toten gedachten in aller Erinnerung geblieben ist.

François Mitterrand wurde 1986 mit der Kohabitation konfrontiert und beharrte ausdrücklich auf den Vollmachten seines Amtes, die nach seinen Worten von einer Wahl, die ihn nicht beträfe, in keiner Weise eingeschränkt würden. Nach seiner Wiederwahl im Mai 1988 kam es 1993 zur zweiten Kohabitation mit dem bürgerlichen Lager. Die Zeitenwende von 1989/90 war tatsächlich eine Zäsur, die François Mitterrand ebenfalls nach anfänglichem Zögern entschlossen zu nutzen verstand, indem er seinen Teil zum Gelingen des Maastricht-Vertrages beitrug. Dennoch versteht die Autorin die französische Maastricht-Debatte als das “Ende des goldenen Zeitalters für Europa”. Wiederum waren es vor allem innenpolitische Streitigkeiten zwischen den Anhängern der europäischen Integration und den Skeptikern, die nationale Souveränitätsrechte in Gefahr sahen. Müller-Brandeck-Bocquets Analyse dieser Jahre zeigt in überzeugender Weise die Auswirkungen der parteipolitischen Diskussionen auf die Europapolitik der Regierung und die des Staatspräsidenten. Es lohnt sich, diese Analyse zur Kenntnis zu nehmen, da einige der damaligen Vorbehalte, wenn auch unter leicht veränderten Vorzeichen, kürzlich das Referendum zum EU-Vertrag scheitern ließen.

Mitterands Nachfolger Jacques Chirac, der am 17. Mai 1995 gewählt wird, wurde nach seinem mißglückten Kalkül im April 1997 hinsichtlich der Auflösung des Nationalversammlung mit einer Kohabitation konfrontiert. Die Autorin untersucht eingehend die Gründe, die zu diesem Fehler geführt haben und kommt zu dem Schluß, daß möglicherweise außer innenpolitischen Erwägungen auch Widerstände aus den eigenen Reihen, z.B. die Charles Pasquas gegen die Europapolitik, eine Rolle gespielt haben könnten, und den Präsidenten zu dem Versuch veranlasst haben, die eigene Position mittels Neuwahlen zu stärken. Die Kohabitation mit dem Premierminister Lionel Jospin führte kaum zu institutionellen Veränderungen der Gewichte zwischen dem Staatspräsidenten und der Regierung, die die Autorin eingehend analysiert. Details wurden der Regierung überlassen, aber Chirac steuerte einen “harten Europakurs”, wohl auch um Kritikern aus den eigenen Reihen zuvorzukommen. Auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommt in der Darstellung der Autorin nicht zu kurz. Sie macht auch deutlich, daß dieses Thema in Frankreich einen offenkundig besonderen Stellenwert besitzt. Das Versagen Europas in Ex-Jugoslawen überzeugte die anderen Staats- und Regierungschefs sich wieder den französischen Vorstellungen eines “Europe Puissance” anzunähern.
Die Irritationen nach dem Amtsantritt der rot-grünen Koalition in Berlin, für die der Autorin zufolge beide Seiten verantwortlich waren, führten 1999 dann doch wieder zu der Einsicht, daß die deutsch-französischen Beziehungen reaktiviert werden sollten, wie dies der damalige Außenminister Hubert Védrine wünschte. Auf dem Gipfel von Nizza wurde hart um die Ausgestaltung der künftigen Entscheidungsgrundlagen hinsichtlich von qualifizierten Mehrheits- oder Einstimmungskeitsverfahren gerungen. Das Scheitern des Gipfels wurde zum Fiasko für Chirac, der im Endeffekt seine Vorstellungen nicht durchsetzen konnte. Künftig mußte Frankreich damit rechnen, daß Deutschland mit zwei anderen Mitgliedsstaaten Entscheidungen mittels 38 % der EU-Bevölkerung erreichen kann. (S. 213) Dadurch wurde die Parität zwischen Deutschland und den drei Großen außer Kraft gesetzt, erklärt die Autorin. Die Kompliziertheit dieser Vorgänge enthält sicher auch schon den Keim zum Scheitern, des EU-Vertrags, da diese Feinheiten der Stimmverteilungen kaum zu vermitteln sind. Es ist dennoch interessant, der Analyse der Autorin zu folgen, da es ihr gelingt die Ausgangssituation für das europäische Vertragswerk dazulegen.

Nach seiner Wiederwahl 2002 wurde nach dem im Oktober 2002 erreichten Kompromiß in Sachen Agrarreform der 40. Jahrestag des deutsch-französischen Vertrags von Paris und Berlin zum Anlaß für eine Reihe neuer Initiativen genutzt, die mit der gemeinsamen Erklärung zu diesem Jahrestag unterstrichen wurden, und die weitgehend in den Verfassungsentwurf übernommen wurden. Der Irak-Krieg hatte die EU auf eine Bewährungsprobe gestellt und das Versagen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gezeigt. Die EU war unfähig gewesen, eine gemeinsame Position zu vertreten. Schröder und Chiracs Widerstand gegen den Irak-Krieg mit der Aussicht auf ein französisches Veto wurde von einigen Staaten als der Versuch, Europa zu spalten, verstanden. Die Frage, ob die deutsch-französischen Beziehungen für Europa ein “Spaltpliz” oder ein “Katalysator” seien, beantwortet die Autorin mit dem Hinweis auf dem in der Irak-Krise erneut erfolgten Schulterschluss zwischen Paris und Berlin, den beide Länder nutzen, um “ihre angestammte Motorenrolle” wieder aufzunehmen. Der Erfolg der Zusammenarbeit zeigt sich darin, daß beinahe alle deutsch-französischen Vorschläge im Konvent übernommen wurden.

Frankreich, so lautet das Fazit der Autorin, ist in den Jahrzehnten seit der Gründung der EWG zu Integrationsschritten mit dem Verzicht auf Souveränitätsrechten nur bereit, wenn zentrale nationale Interessen auf dem Spiel stehen. Der Band wurde vor dem Referendum zum Europavertrag veröffentlicht und schließt mit der Hoffnung, das Projekt “Europe Puissance” werde gelingen, wenn Frankreich wieder die Initiative und die Förderung des europäischen Einigungsprozesses übernehmen würde.
Der Verlauf der Jahrzehnte seit Beginn des Europäischen Einigungsprozesses zeigt, wie sehr nationale Europapolitik, also die Einstellung zu Europa von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen in Frankreich geprägt worden ist und welch großen Einfluß Regierungswechsel auf die Gestaltung der Europapolitik haben .

Der Band von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet legt eine gelungene Analyse vor, die das Verständnis der Bedingungen für französische Europa-Politik fördern kann. Gleichzeitig ist der Band auch eine Mahnung an die Adresse der künftigen Bundesregierung, die Chancen, die sich den deutsch-französischen Beziehungen ergeben, künftig besser im Interesse der europäischen Einigung zu nutzen und die gemeinsame Europapolitik mit Frankreich zusammen wieder den Bürgern verständlich macht.

Heiner Wittmann