Rezension: Anke Feuchter, Geschichte vom Verlieren, Suchen und Finden

 Anke Feuchter, Geschichte vom Verlieren, Suchen und FindenSpannende Geschichten beginnen oft mit Zufällen. Kleine Begebenheiten, denen man zuerst kaum eine besondere Bedeutung zumisst, die sich dann im Nachhinein doch als sehr richtungweisend herausstellen. Diese > Geschichte vom Verlieren, Suchen und Finden beginnt auch mit einem Erlebnis, das sich ganz zufällig, eigentlich nur so nebenbei ereignet.

An einer Haltestelle in Mannheim liegt eine Pariser Metrokarte auf dem Boden. Nun, das kommt nicht so oft vor, denkt sich Katrin Beller, hebt die Karte auf und findet auf ihr eine Telefonnummer, die mit 33 beginnt, eine Nummer in Frankreich. Zögern scheint nicht ihre Sache zu sein. Da die Haltestelle sich ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs befindet, dauert es nur ein paar Minuten, bis sie im ICE sitzt, der um 21 Uhr im Gare de l’Est ankommt.

Sie wählt die Nummer, auf der Metrokarte, ob sie an einen hübschen Pariser denkt… eine Stimme meldet sich, sie legt erschreckt wieder auf. Als Colette sie zurückruft und sie einlädt, nehmen die Dinge ihren Lauf. Es ist eine spannend geschriebene Geschichte vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Beziehungen, vom Beginn des Krieges 1940, über die Résistance bis zur Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen mit allen ihren Hindernissen und Erfolgen. Zwischen den Zeilen wird deutlich, wie intensiv die persönlichen Verbindungen aller Art, Bekanntschaften, Beziehungen, Freundschaften, Liebschaften, Fernbeziehungen und Ehen die Zivilgesellschaften in Frankreich und Deutschland prägen. Und welchen großen Anteil die Geschichte mit ihren individuellen Schicksalen daran hat; das ist es was Anke Feuchter in ihrem Roman uns vermittelt.

Zufälle spielen immer eine Rolle, aber sie treten in den Hintergrund, sowie Gefühle, Empfindlichkeiten beiderseits des Rheins mit ins Spiel kommen. Warum ist Colette aus Heidelberg, damals, vor vielen Jahren praktisch geflohen? Warum erzählt sie so ungerne von Johannes ? Und Katrin fährt am folgenden Wochenende wieder nach Paris. Matthieu hat sie eingeladen. Bahnt sich da was an? Colette scheint besorgt zu sein…

Entscheidende Moment werden hier in diesem Roman oft von wirklichen Zufällen gestaltet, so seltsam, dass sie statt vom Zufall vielleicht eher doch vom Leben geschrieben worden sind, und es vielleicht doch manche Hinweise auf die Biographie der Autorin gibt? Und wenn schon, die Geschichte selbst ist wunderbar erzählt, und das Dorf La Grande cour wird auch durch einen Zufall entdeckt. Beim Besuch der alten verlassenen Häuser entdecken die Freunde, Dokumente und versteckte Briefe, die die Gelegenheit bieten, ein düsteres Kapitel der deutsch-französischen Geschichte, Besatzung und Résistance, in den Roman mit einzubeziehen. Es geht auch hier wieder um individuelle Schicksale bei deren Aufhellung auch wieder merkwürdige Zufälle Pate stehen.

Deutsche und französische Gewohnheiten reiben sich hier aneinander aber ganz in dem Sinne, dass zwischen ihnen Neues entsteht oder gar zukunftsweisend wiederentdeckt werden kann. Alle Paare finden hier unter ganz unterschiedlichen Umständen zusammen, und alle Beteiligten machen mit und ändern ihr Leben.

Die perfekte Sommerlektüre, wenn Sie bald wieder im Zug nach Frankreich sitzen.

Anke Feuchter,
> Geschichte vom Verlieren, Suchen und Finden
Stuttgart: Schilastika-Verlag 2020
ISBN 978-3-947233-31-1

Rezension: Patrice Gueniffey: Napoléon et de Gaulle. Deux héros français

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1. Vgl. dazu auf dem Frankreich-Blog > Wir eröffnen das Napoleon-Jahr 2021: Patrice Gueniffey antwortet auf unsere Fragen zu Bonaparte 22. März 2021

2. Vgl. dazu  auf dem Frankreich-Blog> Hörensagen: “Das Europa der Vaterländer”

Rezension: Karin Westerwelle, Baudelaire und Paris. Flüchtige Gegenwart und Phantasmagorie

In einigen Tagen jährt sich zum zweihundertsten Mal der Geburtstag von Charles Baudelaire (9. April 1821 – 31. August 1867). Eine gute Gelegenheit, mit der Rezension des Bandes von Karin Westerwelle, > Baudelaire und Paris. Flüchtige Gegenwart und Phantasmagorie an das Werk des Dichters der Fleurs du mal (1857) zu erinnern.

Die Darstellung von Karin Westerwelle ist mit 567 Seiten wirklich sehr umfangreich, in diesem Fall gibt es allerdings einige Gründe dafür. Vielleicht hätte das Buch auch einen anderen Titel verdient, denn es enthält eine Kultur-, Wirtschafts- und Soziologiegeschichte der Zeit Baudelaires, von der Restauration über die Julimonarchie bis zum Zweiten Kaiserreich und nicht nur nebenbei werden die Werke Baudelaires ausführlich analysiert.

Die Kapitel Stadt als soziologisches Gefüge, die Hauptstadt Paris, das Geld, die Moderne, die Malerei (Kapitel über Baudelaire und Manet), die Tableaux parisiens, Rêve parisien, machen aus diesem Buch einen schwergewichtigen Beitrag zur Kulturwissenschaft. Wenn auch die Analysen der Werke Baudelaires gerade auch im Zusammenhang mit den hier bereits genannten Kapitelüberschriften überzeugen, so wird es im Vorfeld der Publikation sicher auch die Überlegung gegeben haben, zwei Bände aus diesem Manuskript zu machen: Die Stadt der Moderne im 19. Jahrhundert. Kunst, Soziologie und Wirtschaft (AT) und Charles Baudelaire mit dem aktuellen Untertitel. Die Autorin legt das Manuskript in einem Band vor und die Lektüre dieses Bandes erläutert alle Argumente, die dafür sprechen.

Charles Baudelaire ist der Dichter der Moderne, die ästhetische Konzeption seiner Dichtung ensteht in Paris und in der steten Auseinandersetzung mit allen Aspekten der Großstadt, die sich gerade zur Zeit Baudelaires in einem so immensen Umfang gewandelt hat. Baudelaire war Zeitzeuge, als die Moderne in die Stadt einzieht, sie prägt, aber auch wie die Möglichkeiten der Hauptstadt Paris, der Begriff der Moderne in jeder seiner Facetten so reichhaltig geprägt hat. Baudelaires Werke gehen weit über eine dichterische Empfindsamkeit hinaus, er protokolliert diesen Einzug der Modern in die Stadt in seinen Gedichten, in seinen Prosawerken und in seinen Rezensionen über Kunstwerke wie in seinen anderen Untersuchungen zur Kunst. Diese enge Verbindung zu seiner Stadt rechtfertigt die nur augenscheinlich parallele Analyse der Stadt und Baudelaires Werk, beide verweisen untrennbar aufeinander: “Mit Hilfe der Phantasmagorie entwirft Baudelaire in seiner Dichtung eine neue Deutung des städtischen Raums und begründet ein neues Verhältnis des Menschen zum Unsichtbaren.” (S. 19)

Die Stadt als Erfahrungswelt hat sich Baudelaire wie kaum ein anderer Dichter seiner Zeit als Dandy und Flaneur ohne festen Wohnsitz (vgl. S. 56 ff.) angeeignet. Seine Kritiken zu allen Äußerungen der Pariser Kunstszene waren nicht nur Berichte, sondern drücken auch seine ganze Leidenschaft aus, die Kunst von offizieller Beeinflussung zu lösen: vgl. S. 60 f. Seine eigene Verteidigung der Fleurs du mal gegenüber der Justiz, dass nur die Einheit aller Gedichte der ganzen Sammlung den ihr zugeschriebenen Sinn, nämlich der Warnung vor Morallosigkeit, bewahren kann, war ein Ansinnen, dass die Justiz nicht verstehen konnte und wollte. Seine Ausführungen im Salon 1859 über die Fotografie sind ebenfalls keine bloßen Kritiken, sondern sie sind stilprägend, wie seine Bemerkungen zu seinem Porträtphoto aus der Linse Etienne Carjats 1863: S. 62 f. und vgl dazu: S. 71 ff.

Paris prägt seine Bewohner und sie prägen die Stadt: aus diesem Wechselverhältnis entstehen Monde und demi-monde mit allen ihren Bewegungsformen jeder Art. Als Beispiel sei hier genannt, wie Karin Westerwelle Baudelaires Gedicht Confession auf die Darstellung der Pariser Nachtlandschaft hin untersucht: S. 96-98 und dabei zeigt,  wie beeindruckend es Baudelaire mit wenigen Worten gelingt, das nächtliche Paris vorzuführen. Ebenso gehört das Paris der Geschwindigkeit zu der neuen Moderne, die Baudelaire in Le Peintre de la vie moderne festgehalten hat. Mit Feingefühl untersucht Westerwelle alle Aspekte der Moderne bei Baudelaire und arbeitet ebenfalls heraus, dass dieser kein Vertreter des Fortschrittsgedankens war; für Baudelaire galt nur, was dem Individuum hinsichtlich seiner Entwicklung zugute kam: vgl. S. 113. Daraus folgen Überlegungen zum Dichter und seinem Publikum, vgl. S. 146 ff, mit einer Interpretation des ersten Gedichts der Fleurs du mal “Au lecteur”: vgl. S. 148-158, mit der Westerwelle die Zielgruppe Baudelaires definiert.

Das 3. Kapitel gehört wie eingangs angedeutet in den rein kulturwissenschaftlichen Teil der vorliegenden Darstellung mit der historischen Entwicklung von Paris vom 16. Jahrhundert bis Haussmann und den Weltausstellungen: S. 184-283. Aber auch dieses Kapitel enthält bemerkenswerte Gedichtinterpretationen wir “La Cygne”: “Comme je traversais le nouveau Carrousel”, S. 218-237, womit hier der Erkenntnisgewinn aus der Verbindung zwischen Gedichtanlyse und kulturhistorischer Darstellung gelungen demonstriert wird.

“Die Regeln des Geldes” werden in einem 4. Kapitel erläutert, ist doch “Die Frage, wie sich das Verhältnis von Literatur und ökonomischen Wert, in der bürgerlichen Epoche bestimmt (…) für Baudelaire zentral:”(S. 293) Comment payer ses dettes quand on a du génie, eine Gebrauchsanweisung, in der er an die Geschäftsgebaren Balzacs “Literat und Ökonom” (S. 297) erinnert. Geldsorgen waren ein ständiger Begleiter Baudelaires – ein Leben in strengem Kontrast zu der frugalen (offiziellen) Kunstförderung im Zweiten Kaiserreich stand, von der zunächst nicht profitieren wollte, 1857 machte er aber doch eine Eingabe und erhielt eine Unterstützung für seine Poe-Übersetzungen.

Le peintre de la vie moderne ist eine ganz zentrale Schrift im Werk von Baudelaire. Anhand der Werke von Constantin Guys erläutert Baudelaire die ästhetische Darstellung der Moderne. Eine Gelegenheit für Karin Westerwelle den Zusammenhang von Zeichnung und Kommentar wie auch die Künstlerfiguren im städtischen Raum näher zu untersuchen (S. 363 ff.), zu denen auch der Dandy, S. 368 ff. gehört.

Die Begegnung zwischen Baudelaire und Éduard Manet führt zum Erscheinen des Dichters auf dem Bild La Musique au jardin des Tuileries (1862): S. 410-418: hier gelingt es der Autroin  die Beziehung zwischen der Literatur und der Kulturwissenschaft um die Dimension der Kunstbetrachtung zu ergänzen, war es der ziemlich unbekannte Dichter, der mit dazu beitrug, dass die Kritik dieses Bild nur sehr reserviert aufnahm?

Die Tableaux parisiens benötigen ohne Zweifel zu ihrem Verständnis und Einordnung einen kulturhistorischen Hintergrund, den die Autorin in den vorhergehenden Kapiteln bereitgestellt hat: Das 7. Kapitel untersucht den “Reflexionsgehalt” und die Gattung der Tableaux parisiens. Westerwelle vergleicht die Tableaux mit anderen Gesamtdarstellungen der Stadt Paris und gewinnt so Klarheit über die Eigenheiten der Tableaux, die man heute als Alleinstellungsmerkmale bezeichnet. Gerade in diesen Passagen der Darstellung von Westerwelle wird deutlich, wie gut es ihr gelingt, den Leser zu erneuten Lektüre von Baudelaire anzuregen.

Die Interpretation von Rêve parisien (1860) im letzten Kapitel rechtfertigt den Untertitel dieser Untersuchung Flüchtige Gegenwart und Phantasmagorie. Realität, Traum und Fiktion gehen ineinander über und beweisen wie meisterhaft Baudelaire die Form des Gedichts beherrscht.

Erschöpfend behandelt auch dieses Buch trotz seines Umfangs das Werk Baudelaires keinesfalls. Die besondere Vielfalt seines Werkes erlaubt immer neue Perspektiven, je nachdem welchen Aspekt man betonen möchte. Die Bezüge zur Kunst, die besondere Stellung der Form in seinem Gesamtwerk, die Bezüge seiner Werke untereinander, die Beziehungen Baudelaires zu der Kunstwelt seiner Epoche, seine prekäre wirtschaftliche Lage zugleich aber auch seine Unabhängigkeit, als Voraussetzung für den Erfolg seines künstlerischen Schaffens: Westerwelle weist hier der künftigen Forschung interessante Wege. Sie selber hat zum 200. Geburtstag von Charles Baudelaire vor allem seinen stilbildenden Einfluss auf die ästhetische Interpretation der aufziehenden Moderne und die Folgen für den Kunstbetrieb in der Hauptstadt mit großem Einfühlungsvermögen gewürdigt.

Karin Westerwelle, > Baudelaire und Paris. Flüchtige Gegenwart und Phantasmagorie, Paderborn, Brill/Wilhelm Fink 2020.

ISBN: 978-3-8467-5977-6

Rezension: Patrice Gueniffey, Bonaparte – 1769-1802

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Patrice Gueniffey
> Bonaparte – 1769-1802
Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Tobias Scheffel und Claudia Steinitz
Berlin, Suhrkamp 2017
Gebunden, 1296 Seiten
ISBN: 978-3-518-42597-8

Die ganze Sendung:

> Le Point des idées du vendredi 8 janvier 2021 – LCI

Un manuel de photographie: Michel Sicard & Mojgan Moslehi, Temps interférentiel dans la photographie

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Rezension: Walburga Hülk, Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand

In > Der Rausch der Jahre erzählt die Siegener Professorin für Romanistik Walburga Hülk, wie das Zweite Kaiserreich mit dem lange unterschätzten Kaiser Napoleon III., dem Neffen Napoleons I., und der Hilfe vieler Getreuer Paris in die Moderne führte. Allein der Umbau von Paris, den er Georges-Eugène Baron Haussmann (1809-1891) anvertraute, rechtfertigt den Untertitel des vorliegenden Bandes: > Als Paris die Moderne erfand.

Sicher, das Zweite Kaiserreich von 1852-1870 hatte seinen Ursprung in einem vornehmlich von den Künstlern und Schriftstellern wie Victor Hugo so beklagten 3. Staatsstreich des 1. Präsidenten der französischen II. Republik. Edmond und Jules de Goncourt beginnen ihr Tagebuch im Dezember 1851 und zeigen sich sogleich verschnupft, weil es vom Staatsstreich so wenig zu sehen gab. Rein in die Hosen, runter auf die Straße und die Gaffer haben nichts mehr zu gucken, das ärgert sie maßlos. Ihre Kollegen Gustave Flaubert, Charles Baudelaire als Kunstkritiker (S. 106-117 ***, S. 151-156) wie auch George Sand haben größte Mühe, sich mit dem neuen Regime zu arrangieren. Jeder von ihnen, jeder Künstler entwickelt seine eigene Strategie um zu überleben. Flaubert schreibt den modernen Roman (Sartre): Madame Bovary. Mœurs de Province (1857) (Cf. S. 141 ff). Die Maler wie Gustave Courbet, Manet und Monet wie auch Winterhalter (cf. S. 101-104) kreieren neue Kunststile oder arbeiten direkt für das Regme und bereiten so dem Kaiserreich eine große Bühne. Alle voran setzt Jacques Offenbach (cf. S. 118-120, S. 192-196) das Fest des Zweiten Kaiserreichs in Noten und feiert, neben Niederlagen, immer neue Triumphe und wird sein musikalischer Botschafter in Europa und sogar in Übersee. In allen Kapiteln erinnert Walburga Hülk zu Recht an den Widerstand der Künstler, aber sie zeigt auch, wie das Regime die ungeheuer vielfältige Kunstproduktion zu seinem eigenen Vorteil und Ruhm zu nutzen verstand. Es wird deutlich, dass die Geschichte des Zweiten Kaiserreichs ohne die Kunst und die Literatur nicht erzählt werden kann.

Die Wut von Victor Hugo auf den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 und damit auf  “Napoléon le Petit” war grenzenlos. Er reiste ins Exil ab, dann auf eine Kanalinsel und sollte erst nach dem Sturz Napoleons III. wieder nach Paris kommen. “Napoléon le Petit” ist mit seiner anschwellenden Empörungsrhetorik der erste Aufschrei der modernen Mediengesellschaft.” (S. 41)

Hülk zeigt wie 1853: “Projektemacherei und Fortschritt first”, die Moderne planvoll und zielgerichtet in Szene gesetzt wird. Vielleicht waren die Künstler mit ihrer Kritik und ihrer Schmollerei doch nicht so auf der Höhe der Zeit, da das Regime ihnen zunächst davon zu eilen schien. Aber schnell wird deutlich, dass die Medienlandschaft sich schnell auf die neue Zeit einstellen kann, neue Presseformen kreiert, das Feuilleton erlebt einen ungeheuren Aufstieg. Hülk resümiert das Aufbruchsambiente so wunderbar mit der Überschrift: “Sex in the City. Bohème zwischen Hedonismus und Start-up.” Der Umbau von Paris wird begonnen, einige außenpolitische Abenteuer wie Algerien und der Krimkrieg kommen hinzu: Frankreich steht mitten auf der Weltbühne. 1855 ist Weltausstellung in Paris und alle Welt reist dort hin.

“Mit dem Fortschritt veränderte sich auch die Arbeitswelt,” (S. 95) Hülk hat auch die sozialen Fragen im Blick, die Probleme derjenigen, denen der so rasante Umbau von Paris, Staat und Gesellschaft nicht so gut bekam. Flaubert ärgert sich über stumpfsinnige Arbeiten, die die Menschheit verblöden und ist mit seiner Einschätzung ganz in der Nähe von Friedrich Engels (cf. S. 95 f).

Lolou der Stammhalter des Kaisers wurde am 12. Juni 1856 geboren. Zwei Tage später wird er in Notre-Dame getauft: (Cf. 129-132). Was für ein Fest! Hülka erzählt hier die strahlenden Sonnenseiten des Regimes, denen sogleich mit den Prozessen gegen Schriftsteller einige Schattenseiten folgen. Großer Schaden entsteht für sie nicht, die Steigerung ihrer Bekanntschaft wird dem Absatz ihrer Bücher nur nützen.

“Immer schneller, immer größer, immer mehr” (S. 156). Die Moderne steigert die Intensität des Lebensgefühls, Beschleunigung allerorten. Und der Kaiser hat seine Schriften wie “Les idées napoléoniennes” nicht vergessen und leitet 1859 eine vorsichtige Liberalisierung des Regimes ein (S. 233 f).

“Gala und Bohème” (S. 235-267) wird von den Erfolgen der Schriftsteller und Künstler begleitet, kommentiert, gefördert und inszeniert. Der Salon der Maler ist immer ein Großereignis, das das Verhältnis von Kunst und Politik vorführt. Die Kommission lehnt nicht nur wegen der Menge viele Bilder ab, die Künstler sind erbost und erhalten auf einmal Protektion vom Kaiser, der befiehlt die ausgesonderten Werke extra zu zeigen: Le Salon des Réfusés.

1867 ist wieder Weltausstellung in Paris: Kein Besucher kann sich vorstellen, dass nur vier Jahre später das Fest plötzlich vorbei sein wird. Das Regime geht im Deutsch-Französischen Krieg unter, aber Arthur Rimbaud (1854-1891) büchst noch während des Krieges mit der Eisenbahn nach Paris aus. 1872 lernt er Stéphane Mallarmé (1842-1898) kennen, beide stehen für einen erneuten bemerkenswerten Modernisierungsschub der Literatur, der so ohne das Zweite Kaiserreich vielleicht gar nicht denkbar war.

Walburga Hülk hat mit ihrer Geschichte von Paris im Zweiten Kaiserreich auch eine Literatur- und Kunstgeschichte der besonderen Art vorgelegt. Ihr Buch ist eine Anleitung dafür, die Tagebücher der Brüder Goncourt, die Romane von Flaubert und George Sand und Victor Hugo wiederzulesen und dabei ihre so bemerkenswerte Modernität wiederzuentdecken. Es ist diese Modernität, deren Ursprünge im Verhältnis, ja im Wettbewerb zwischen Kunst und Politik zu suchen sind. Trotz der Zensur entwickelten sich so viele Kunstformen gleichzeitig, gelangten trotz der gerade wegen ihrer Kritik am Regime zu so großer Blüte. Und das Regime? Woher kam sein Erfolg? Welche Rolle spielte dabei der Kaiser selbst? Nach der Lektüre dieses Buches entsteht doch der Eindruck, dass das Regime nicht nur von den Künsten profitierte sondern auch in gewisser Weise den Weg zu weisen wusste.

Walburga Hülk
> Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand
ISBN: 978-3-455-00637-7
416 Seiten
Hamburg Hoffmann und Campe 2019

Das Taschenbuch erscheint am 05.05.2021,
ISBN 978-3-455-01071-8

Rezension: Jean-Noël Jeanneney, Le Rocher de Süsten. Mémoires, 1942-1982

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Rezension: Philippe Wampfler, Digitales Schreiben

Iin der Flut der Veröffentlichungen zum Unterricht mit digitalen Medien gibt es jetzt eine richtig gute Praxis-Anleitung: Philippe Wampfler, Lehrer, Dozent für Fachdidaktik Deutsch und Referent in Zürich hat für Reclam > Digitales Schreiben. Blogs & Co. im Unterricht Reclam Bildung und Unterricht verfasst und damit eine gelungene Anleitung im Sinne einer kleinen aber präzisen Fachdidaktik zum Einsatz digitaler Medien im Deutschuntericht, die natürlich auf für die Vermittlung anderer Sprachen gilt, vorgelegt.

Allein schon die Einleitung Digitales Schreiben (S. 11-23) zeigt einen Horizont auf, der heute noch nicht so recht praktiziert wird, aber auch schon nicht mehr bloß Zukunftsmusik ist. Er macht Lust darauf, seine Vorschläge im Unterricht auszuprobieren. Dann geht es in Detail Schreibdidaktische Aspekte des digitalen Schreibens: S. 24-44. Schreiben als Prozess, interaktionsorientiertes Schreiben, Materialgestütztes oder kollaboratives Schrieben – für alle diese Formen hätten wir auch viele Augaben:> Beiträge mit Aufgaben für Schüler/innen (www.france-blog.info).

Seien Sie mutig und legen sie los: Digitale Schreibprojekte konzipieren: S. 45-63: Das ist schon bemerkenswert, wieviele Anregungen Wampfler auf knappem Raum Ihnen hier vorlegt einschließlich der Ratschläge, wie Digitale Schreibprojekte zu bewerten sind.

Darf ich das? Geht das? Wie geht das? Also folgen rechtliche und technische Voraussetzungen. Knapp und präzise.

Der Band enthält auch viele Links zu Schreibprogrammen. Gucken sie nach, die kennen sie sicherlich noch nicht alle: Und Schrieben mit einfachen Programmen und erst später formatieren. So steht das Schreiben im Vordergrund der Aufmerksamkeit, die vielen verwirrenden Funktionen von WORD brauchen wir dazu nicht.

Ab S. 68 werden Typologien digitaler Schreibumgebungen vorgestellt: Blogs, Messenger, Chats, etc. Wikis und Wikipedia gehören auch mit dazu. Man spürt förmlich die vielfältigen Erfahrungen des Autors, der hier über seine Unterrichtspraxis schreibt. Alles ausprobiert und für gut befunden, möchte man hinzufügen. Unser Augenmerk fällt auf Blogs: S. 69-78. Wampfler erklärt erst einmal, wo dieses Kofferwort herkommt und skizziert dann eine Unterrichtseinheit, mit ihr erinnert er mich an einen unserer Praktikantin, der einmal einen Beitrag auf meinem Blog auf Fehler prüfen sollte und drei Tage später nebenbei erzählte, er habe jetzt auch einen Literaturblog. Schreiben und die ganze Welt könnte es jetzt lesen. Das ist cool und für Schüler/innen ein echter Motivationsschub.

Kollaborative Schreibumgebungen eröffnen diese neuen Horizonte für den Sprachunterricht, S. 78-92. Wieder mit der Skizze einer Unterrichtseinheit: hier gewinnen auch Referendare sehr wertvolle Anregungen für ihre Unterrichtsentwürfe. Wikis und Wikipedia bekommen auch eine eigene Unterrichtseinheit.

Das gestellte Thema Schreiben mit digitaler Unterstützung wird mit diesem Buch sachgemäß und in der Praxis bestens anwendbar beschrieben. Wenn Sie diese Ratschläge und Anleitungen von Philippe Wampfler umsetzen, werden sie Ihre Schüler/innen eine neue Dimension von Unterricht vorführen.

Philippe Wampfler
> Digitales Schreiben. Blogs & Co. im Unterricht
Reclam Bildung und Unterricht
Stuttgart 2020
131 S. 11 Abb.
ISBN: 978-3-15-014029-1

Rezension: Michiko Kakutani, Der Tod der Wahrheit

Die amerikanische Literaturkritikerin Michiko Kakutani hat in ihrem Buch – in der Übersetzung von Sebastian Vogel – > Der Tod der Wahrheit sich Gedanken zur Kultur der Lüge gemacht. Der Originaltitel ihres Buches lautet The Death of Truth. Notes on Falsehood in the Age of Trump. Sie hat dabei die Auswirkungen der sogenannten sozialen Medien im Blick, aber sie konzentriert sich auf die Bedingungen, die dazugeführt haben, dass die Wahrheit in diesem neuen postfaktischen Zeitalter an Bedeutung verloren hat.

Sie erinnert an Hannah Arendt, die 1951 in Elemente und Ursprünge der totalitären Herrschaft ein Bild vom idealen Untertan einer totalitären Herrschaft gezeichnet hat, für den die Unterschiede zwischen Wahr und Falsch verwischt und verlorengegangen sind. Damit ist der Ton dieses Buches angeschlagen. Es geht nicht mehr nur um eine Tendenz, denn das was russische Trollfabriken uns per Internet ins Haus schicken, ist schon längst eine reale Bedrohung unser Demokratien geworden: vgl. > Nachgefragt: Michal Hvorecky, Troll – Website von Klett-Cotta, 18. Oktober 2018.

Die Menschen sind aufgrund vielerlei Ängste vor gesellschaftlichen Veränderungen, dem Hass auf alles Fremde und dem Verlust des Gefühls für eine gemeinsame Realität, also alle Bedrohungen, die durch Populisten geschürt werden, für Fake News jeder Art empfänglich geworden. Tatsachen werden in den Sozialen Medien, die sich gerne als von der Weisheit der Massen gesteuert geben, verdreht, verkürzt und geleugnet, wobei die Vernunft auf der Strecke bleibt. „Alternative Fakten“ führen zu einem rapiden „Zerfall der Wahrheit“, für den Kakutani vor allem Donald Trump für verantwortlich hält. Unter ihm werden Fachkenntnisse durch falsche Behauptungen ersetzt, so dass man den Verfall des öffentlichen Diskurses längst im Gange ist:

Zur Erinnerung: „Richard Sennett hat 1977, ohne dass es soziale Netzwerke gab, schon über sie geschrieben: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (S. Fischer, Frankfurt/M. 1983). Der Originaltitel The Fall of Public Man ist viel treffender für seine Thesen. In Anlehnung an sie kann man sagen, dass die sozialen Netzwerke keinesfalls sozial sind, sondern zum Niedergang der Öffentlichkeit gerade durch die Vorspiegelung der Öffentlichkeit erheblich und entscheidend beitragen. Je mehr gemeinsame Identität festgestellt oder entwickelt wird, je gleicher alle werden, so möchte man hinzufügen, so unmöglicher wird die Verfolgung gemeinsamer Interessen, erklärt Sennett (dt. S. 295). Das ist nicht unbedingt so paradox, wie es klingt. Nur die Unterschiede lassen die Neugier entstehen und führen zum Entdecken von Neuem.“ > Wo führen uns soziale Netzwerke hin? oder Sind soziale Netzwerke wirklich sozial? – 29. Dezember 2008.

Michiko Kakutani identifiziert präzise die heutigen Bedingungen für die Nachrichtenerstellung: Nachrichten werden mit Unterhaltung gemischt und erhalten eine gehörige Dosis Polarisierung, ohne dass Journalisten eine ihrem Stand gemäße Einordnung vornehmen können, bevor die Weisheit der Massen sich schon der Verbreitung ungeprüfter Nachrichten gemäß ihrer Interpretation und ihrer Zwecke bemächtigt hat.

Polarisierung und Relativismus sind die Stichworte, mit der Kakutani den Niedergang des öffentlichen Diskurses beschreibt. Wahrheiten werden angezweifelt und überhaupt die Existenz „universeller Wahrheiten“ (S. 15) werden in Frage gestellt. Autoren wie François Lyotard mit seinem Grabmal für die Intellektuellen haben dazu erheblich beitragen, in dem z. B. Lyotard behauptete, es gebe keine universalen Erzählungen und folglich auch keine Intellektuellen mehr, eine Meinung, eine bloße Behauptung, so dahergesagt ohne jede Begründung aber gut geeignet, um eben jenem Relativismus, den Kakutani mit Recht beklagt, Vorschub zu leisten.

Während noch für Abraham Lincoln und die Verfassungsväter der Vereinigten Saaten die Aufklärung mit ihrer Vernunft, Freiheit, Fortschritt und religiöser Toleranz einschließlich des Systems der „checks and balances“ das Leitmotiv war, stehen nun unter Trump ganz neue neue Narrative im Vordergrund, die die Vernunft durch Intoleranz ersetzen, im Vordergrund. „Rationalismus, Toleranz und Empirie“ (S. 25) werden unter Trump in Frage stellt und negiert und Falschinformationen und Unwahrheiten bestimmen das politische Geschäft. Diese Tendenzen werden durch den Niedergang der Ministerien in Washington verstärkt, die durch die Trump-Administration ausgehöhlt und deren Fachwissen missachtet wird.

Echtes Wissen wird durch die Weisheit der Massen ersetzt: Um den Gedanken fortzuführen: Früher gab es Berichte, Rapporte etc. heute regiert der Präsident per Tweets: „Unwissenheit und Intoleranz waren auf einmal modern.“ (S. 33).

Kapitel 2: Die neuen Kulturkämpfe. Die Populisten eignen sich nur zu gerne die Argumente der Postmodernisten mit ihrer Zurückweisung der Objektivität an und man kann zuschauen, wie sie sich ihre verqueren Interpretationen zurechtzimmern, in der die Klimafrage inexistent ist, wodurch der „dekonstrunktionistischen Geschichtsforschung“ (S. 53) Tür und Tor geöffnet wird. Ansichten wie mal hier Gehörtes werden zur Wahrheit erhoben. Das Pendel schlägt nach beiden Seiten aus: Fake News auf der einen seit, Wahrheit auf der anderen Seite, wobei wir es doch eigentlich mit Lessing (in Eine Duplik [gegen Goeze]) halten sollten: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater, gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ Die Negation wissenschaftlicher Erkenntnisse, das Missachten der Wissenschaften sind für Kakutani längst keine Tendenzen mehr, sondern harte Fakten.

Der Aufstieg der Subjektivität hat zur Abwertung der Wahrheit beigetragen. Fakten werde uninteressant, Trump setzt auf die Gefühle der Menschen und Kakutani warnt mit Blick auf Alexis de Tocqueville vor dem Entstehen eines wenn auch zunächst noch sanften Despotismus. (S. 62 f.). Diese Tendenzen zeigen sich auch in der Literatur, wo der Realismus zunehmend verdrängt wird, und durch Memoiren und subjektive Bloggerei ersetzt wird.

Kakutani nimmt vor allem die Politik Trumps gegenüber den Einwanderern in den Blick und zeigt, wie die systematische Verdrehung der Tatsachen, falsche Interpretationen der Statistiken und unwahre Behauptungen die Ängste der Wähler schüren, damit Trump seine Projekte durchsetzen kann. Und dann kommen die Empfehlungsalgorithmen der sozialen Netzwerke in den Blick, die längst ihre eigene Interpretation der Wirklichkeit erzeugen, die mehr mit Werbung und Erlös etwas zu tun als mit der Wahrheit. Was am meisten angeklickt wird, erhält die Autorität der Weisheit der Massen. Schon wird der falsch verstandenen Begriff von der Demokratisierung der Inhalte genannt und damit das ganze Dilemma offengelegt.

Vielleicht haben wir uns an die Herrschaft der Algorithmen allzu leichtfertig längst gewöhnt. Jedes Googeln unterwirft uns dem Diktat dieser Suchmaschine, weil sie die Suchergebnisse für uns ordnet und uns vorgaukelt, dass das Interessanteste, das Beste und das Richtige oben steht. Die Weisheit der Massen dirigiert auch Wikipedia. Wir gewöhnen uns daran, dass Autoren sich hinter ihren Pseudonymen verstecken und es sich anmaßen dürfen, unsere Einträge in Wikipedia zu korrigieren. In Lexika standen früher Verlage und Autoren für die Qualität der Einträge, heute nimmt die Masse für sich in Anspruch, dort die Wahrheit zu verbreiten. Das Internet will eine neue Gemeinschaft fördern und es favorisiert durch soziale Medien, die überhaupt nicht sozial sind, die Entstehung von Silos, die die Menschen voneinander abgrenzen: S. 103, S. 111 f. Es geht längst nicht mehr um die Wahrheit, sondern die Empfehlungsalgorithmen täuschen Relevanz vor und zerstören einen gemeinsamen Realitätssinn. Die Technologie wird ein „höchst explosiver Brandbeschleuniger“. Die Auswirkungen sind enorm: in der U-Bahn daddelt jede(r) gedankenverlorenen auf dem Display, nirgends ist mehr eine Zeitung zu sehen, hin und wieder hält jemand noch ein Buch in der Hand. Der von Kakutani aus gutem Grund beklagte Niedergang der Aufmerksamkeit ist so zu beobachten: Empfehlungsalgorithmen ordnen für uns die virtuelle Wirklichkeit, Nutzerdaten werden wichtiger als die Qualität der Informationen. Marshall McLuhan hatte Recht, das Medium > Lesebericht: McLuhan, Fiore, Das Medium ist die Massage – Website von Klett-Cotta, 17. Juni 2011: Sein erster Satz: „Das Medium oder der Prozess unserer Zeit – die elektronische Technologie verändert die Form und Struktur sozialer Beziehungsmuster und alle Aspekte unseres Privatlebens,“ war mehr als eine Feststellung, er warnte völlig zu Recht vor eine Vereinnahmung durch die Neuen Medien, ließ aber noch einen Begeisterung für die aktive Nutzung der Neuen Medien erkennen, die heute nur noch von wenigen Bloggern und denjenigen, die eigene Inhalte Im Netz beisteuern, ohne sie in die vorgeformten Krüge der sozialen Medien zu gießen, geteilt werden.

Kakutani stellt in ihrem Buch keineswegs nur Symptome vor, sondern sie analysiert die Entstehung und die Wirkungen der Fake News und stützt sich dabei auf eine große Zahl von Fachleuten und Ergebnissen aus den Medienwissenschaften mit denen sie die Mechanismen entlarvt, mit denen die Wahrheit verdreht, relativiert und negiert wird. Ihr Buch ist ein Aufruf an uns alle, den sozialen Medien mit ihren Vorspiegelungen, uns die Wahrheit frei Haus oder Smartphone zu liefern, gründlichst zu misstrauen.

Michiko Kakutani
Der Tod der Wahrheit
Gedanken zur Kultur der Lüge
aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel
(Orig.: The Death of Truth. Notes on Falsehood in the Age of Trump)
Stuttgart: Klett-Cotta, 1. Aufl. 2019, ca. 200 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN: 978-3-608-96403-5 vergriffen

Rezension: Éric Anceau, L’Empire libéral (2 vol.)

Die beiden Bänden von Éric Anceau über L’Empire libéral umfassen zusammen 1423 Seiten. 2 grands pavés würde man auf Französisch sagen. Aber die Lektüre dieser Studie zeigt die profunde Sachkenntnis ihres Autors. Sicher, die Bücher über Napoléon III. und seine Versuche, das Zweite Kaiserreich zu reformieren, gar zu liberalisieren, füllen viele, lange Bibliotheksregale. Dennoch weist Éric Anceau sehr überzeugend nach, das längst nicht alles über die letzte Phase des Kaiserreichs gesagt worden ist.

Eine fast hundert Seiten lange Biographie (T. II, S. 1293-1389) enthält eine Bücherliste, die ein einzelner Forscher alleine kaum je komplett wird lesen können. Aber das ist und kann auch hier nicht sein Ziel gewesen sein: die Bibliographie hilft, den Überblick, den Anceau hier über den Forschungsstand gibt, zu belegen und zu vervollständigen. Der Personen-Index S. 1391-1420 unterstützt die Erschließung beider Bände.

Ohne Zweifel werden die nachfolgenden Generationen historische Erkenntnisse immer neu bewerten, das ist ein Spezifikum der Historiographie. Aber in diesem Fall hat der Autor auch die Wege der Neubewertung eingehend erklärt und demonstriert, indem er eine große Zahl von bisher nicht beachteten Quellen heranzieht, vor allem aus regionalen Archiven, die er auch nacheinander besucht hat: Sources S. 1210-1292: Diese Liste bietet eine äußerst wertvolle Bereicherung für die Forschung über das Zweite Kaiserreich.

Man kann über die Bezeichnungen streiten: Eigentlich darf man nur von einem liberalen Kaiserreich in der Zeit vom 5. Mai 1870 dem Tag des Plebiszits über die Verfassungsreform(en) bis zu seinem so schnellen Sturz im September 1870 sprechen. Fassen wir das Ergebnis der Reformen bis zum Frühjahr 1870 zusammen: Die von Emile  Ollivier vorbereite Verfassung vom 21. Mai 1870 behielt die Erblichkeit des Kaisers bei, aber es wird ein Regime eingerichtet, das einen parlamentarischen Charakter bekommt, da die Minister vor der Kammer verantwortlich werden und demissionieren müssen, wenn die Abgeordneten ihnen das Vertrauen entziehen (vgl. die V. Republik). Außerdem wird der Senat als zweite Kammer an der Gesetzgebung beteiligt. Und an der verfassungsgebende Gewalt, also an Entscheidungen über verfassungsrechtliche Veränderungen, wird qua Plebiszit das Volk beteiligt.

Das Plebizit im Mai 1870 mit seinen verfassungsrechtlichen Problemen hatte durch die Entwicklung nach 1861 eine Vorgeschichte, zuerst bedingt durch die Umstände kurzfristige Folgen und dann aber auch längerfristige Perspektiven und diese Zusammenhänge sind die eigentlichen Themen dieser Studie von Éric Anceau.

Der Autor beschreibt im ersten Kapitel “L’écosystème impérial”, womit er dessen Ursprünge in den Ideen Louis-Napoléons meint, deren Umsetzung er bis zur Wiedereinführung des Kaiserreichs im Dezember 1852 analysiert. Dann folgt in diesem Kapitel eine sehr lesenswerte knappe Darstellung des Second Empire bis etwa 1860. Kapitel zwei analysiert die Reformen und Liberalisierungsanstrengungen von 1860-1869, wobei hier im einzelnen ihre Etappen mit ihren Erfolgen und Misserfolgen präzise untersucht werden. Das 3. Kapitel bietet auch den Historikern von heute Neuland mit der profunden Kenntnis der Eliten im Frühjahr 1869: S. 213-280. Die Wahlen im Frühjahr 1869 verändern die politische Landschaft und unterstreichen den Wunsch nach Reformen: Kapitel 4 Le grand ébranlement de 1869, S. 281-356. Schließlich bekam Frankreich mit der  Regierung vom 2. Januar 1870 eine parlamentarische Mehrheit von nur 12 Abgeordneten: eine weitere Gelegenheit für den Autor, das Personal des liberalen Kaiserreiches erneut eingehend unter die Lupe zu nehmen: Kapitel 7, S.473-523. Emile Ollivier hatte sich beim Kaiser beklagt, von “alten Egoisten” umgeben zu sein, womit die Widerstände in der Regierung gegen die Liberalisierung kurz umrissen sind. Im Kapitel 8 wird die Konstituierung und die Arbeit der Großen Kommissionen untersucht: Ende 1869 standen die Reformen der Handelsverträge, die Dezentralisierung (französisches Dauerthema) und die Reform der Hochschulen auf dem Programm. Aneceau bedauert, dass diese Reformansätze bisher von den Historikern nicht in den Blick genommen worden seien. Bedenkt man, dass diese Themen auch heute noch die Reformpläne der französischen Regierung bestimmen, wird man das Gewicht der historischen Forschung, die Anceau hier vorlegt, noch besser bewerten können.

Die Probleme der ganz praktischen Politik können zumindest partiell durch die Hindernisse bei der Entwicklung der Institutionen gedeutet werden: Kapitel 9 Questions gouvernementales, parlementaires et constitutionelles. In der Tat ist französische Geschichte nicht nur dieser Epoche auch eine Geschichte des Verfassungsrechts und der Institutionen des Staates. Spannend, wie Anceau den Entscheidungsweg zum Plebiszit vom 8. Mai 1870, mit dem die verfassungsrechtlichen Änderungen von den Franzosen abgesegnet werden sollten, nachzeichnet. Weder der Kaiser, noch Ollivier, noch das rechte oder linke Zentrum, noch die Liberalen wünschten das Plebiszit: fünf Seiten, S. 641-645, auf denen die Verhandlungen, die einzelnen Positionen, Rücktrittsdrohungen und Vermutungen über den Ausgang des Plebiszits, detailreich analysiert werden. Am 30. Mai gibt Napoleon III. nach. Schließlich stimmten 7,3 Mio. den Verfassungsänderungen zu: S. 690 ff. Die beiden letzten Sätze des ersten Bandes: Das Regime war nach den Worten von > René Rémond ein zweites Mal begründet worden. Anceau fügt hinzu: Jetzt muss man nur noch sehen, welchen Gebrauch es davon machte.

Es folgt der zweite Band mit dem Untertitel Menaces, chute, postérité. Viel Zeit gab es nicht, um die Wirkung der Verfassung in ihrer Praxis zu beobachten. Im September 1870 stürzte das Zweite Kaiserreich. Dennoch wird der Autor versuchen, eine Antwort auf  die Frage “Couronnement durable de l’édifice ou simple feu de paille?” zu finden. Trotz der anhaltenden Verfassungsdiskussion und verständlichen Anlaufschwierigkeiten zeigte sich keine direkte Bedrohung des Regimes, das, so Anceau, in den ersten Monaten nach dem Plebiszit Boden wieder wettmachen konnte. Allerdings trübte die Krankheit des Kaisers die Aussichten.

Der Kriegseintritt am 19. Juli 1870 mit der Kriegserklärung an Preußen – die Provokation durch die gekürzte Emser Depesche ist bekannt – führte zur Niederlage und Gefangennahme des Kaisers am 4. September 1870. Anceau beschreibt die dramatischen Ereignisse Mitte Juli in Paris und untersucht dann die Frage der Verantwortlichkeiten, wobei er u.a. die Aufmerksamkeit auf die kriegsbereite Presse lenkt und in Folgenden auch die Entwicklung der öffentlichen Meinung untersucht und ihren ernstzunehmenden Einfluss auf das Regime erkennt. Ein weiterer Abschnitt in diesem Kapitel beleuchtet die Entwicklung des liberalen Kaiserreichs unter dem Eindruck des Krieges, der zunächst für das Regime günstig zu verlaufen schien und die den Patriotismus zugunsten des Regimes eher förderte. Vgl. S. 836 f.

Dann kam das Ende unerwartet und sehr schnell. Kapitel 13: L’autopsie d’une mort. Noch im August wurden in den Kommunen über 2500 Einwohner Gemeinderatswahlen abgehalten, in den besetzten Departements kam es allerdings nicht mehr zum 2. Wahlgang. Die Wahlergebnisse, fasst man sie kurz zusammen, ließen noch ein Vertrauen der Wähler in das Regime erkennen. Nach dem Desaster von Sedan, kommt es in Paris sofort zur Ausrufung der Republik. Dann folgt das Kapitel 14, das über das Schicksal der wichtigsten Protagonisten und deren Verantwortung berichtet. Die Wahlen fanden am 25. September  und 2. Oktober statt: Von 675 Abgeordneten waren nur noch 20 Bonapartisten.

Die Bewertung des liberalen Kaiserreichs steht in Kapitel 15: Contre-modèle et héritage inavouable erläutert mit dem ersten Abschnitt Le mal français et possibles remèdes die Arbeit der Kommissionen, die die Umstände Niederlage untersuchen sollten. Der Diagnose folgten die Überlegungen für die künftige Verfassung.

Die Zusammenfassung L’Empire libéral, figure du passé, clé du temps présent, expérience pour demain erinnert daran, dass die Liberalisierung des Kaiserreichs in den 60er Jahren, keinesfalls nur auf einer Reihe von Konzessionen beruhte, die die Opposition dem Regime abrang, noch alleine das Ergebnis von Überlegungen des Kaisers vor der Wiedererrichtung de Kaiserreichs waren. Anceau vertritt die Auffassung, dass beide Aspekte zusammen eine Rolle gespielt haben, wobei er ausdrücklich betont, dass der persönliche Einfluss Napoleons III., der seinem Regime Dauer verleihen wollte, maßgebend gewesen war.

Besonders interessant ist die Darstellung des Autors, der 4. September sei weniger ein Bruch als eine Vorbereitung, eine Art Transition für das kommende Regime gewesen: “Le passage de l’écosystème impérial à l’écosystem républicain se fit par étapes,” erklärt Anceau unter Berufung aus Serge Bernstein (La Démocratie libérale, Paris 1998, S. 210). Unter diesem Licht bekommen die Geschichte des Zweiten Kaiserreichs und besonders seine Verfassungsgeschichte ihr besonderes Gewicht.

Die Lektüre dieser beiden Bände vermittelt auf sehr lohnenswerte Weise einen Einblick in das Procedere der historischen Forschung, indem Anceau die Quellenlage erläutert und die von ihm eingebrachten neuen Erkenntnisse kennzeichnet, erläutert und bewertet. Unterm Strich wird wiederum der bestimmende Einfluss und das persönliche Engagement Napoleons III. deutlich, dessen Stellung in den letzten 15-20 Jahren neu bewertet worden ist. Dabei sind vor allem die Modernisierungsstrategien des Regimes neu in den Blick genommen worden. In gewisser Weise, folgt man der vorliegenden Studie von Éric Anceau gilt das auch für das Zweite Kaiserreich und seine Funktion als ein Labor für künftiges Verfassungsrecht.

Éric Anceau
L’Empire libéral (2 vol.)
T1 Genèse, avènement, réalisations,
T2 Menaces, chute, postérité,
Paris: Editions SPM 2017,
Distribution l’Harmattan.
ISBN : 978-2-917232-58-3

 

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